Mai 2023
Neue Krimis
Siebo Woydt, Unter dem Wald, neben dem Wasser der Tod. Talvi Caster, Juristin und Polizistin, wurde bei einem Einsatz schwer verletzt und entstellt. Lange lebte sie zurückgezogen, nun will sie neu anfangen, und zwar bei der Kripo Greifswald. Dort wird der Chefposten frei und sie könnte sich bewerben. Dann werden auf einem Fischerfest drei Schädel gefunden, übel zugerichtet, jeder mit einem Personalausweis zwischen den Zähnen. Caster ermittelt, aber ihre Ermittlungen werden sabotiert, außerdem scheint irgendjemand sie zu verfolgen. Siebo Woydt entwickelt in einer harten, bösen, lakonischen Sprache einen Krimi um drei Totenschädel. Fast alle Ermittler um Talvi Caster suchen verzweifelt nach einem Zusammenhang, einer Verbindung zwischen den Ermordeten. Aber die Ermittlungen werden sabotiert, genauer: Casters Arbeit. Kommt das von einem internen Konkurrenten, oder muss sie eine Spur aus der Vergangenheit verfolgen? Man folgt Caster, fühlt mir ihr und - vor allem - leidet mit ihr. Tolle Sprache, tolle Handlung, böses Ende. Eigentlich gar kein politischer Krimi, aber die zweite Ebene, das Mobbing gegen Caster, ist eben doch politisch. Toll. Rainer Wittkamp, Mit aller Macht. Deutschland, 1930er Jahre und drumherum: Fritz Wernicke will Karriere im Hotelfach machen und wählt dazu einen sehr speziellen Weg, den er geheim halten muss. 1960er Jahre und drumherum: Wernickes Sohn Peter Körber, der in der DDR bei seiner Tante aufgewachsen ist und seinen Vater nie kennengelernt hat, macht Karriere bei der Stasi. Die aber wird durch die Republikflucht seiner Frau jäh gestoppt, und dann bekommt er ein Angebot. Erst will er ablehnen, aber dann gibt man ihm die Tagebücher seines Vaters. Nun muss er sich entscheiden, ob er denselben grauenvollen Weg geht wie der. Wittkamp stellt zwei Lebenswege in den beiden deutschen Diktaturen einander gegenüber. Dadurch, dass die Protagonisten Vater und Sohn sind, zieht er den Leser in die Parallelität ihrer Wege. Man fragt sich: Kann man über den eigenen Lebensweg entscheiden? Worüber darin kann man entscheiden? Und wann ist es zu spät für die Entscheidung? Wittkamp erzählt zwei Leben in zwei Diktaturen, macht das Große im Kleinen verständlich - oder auch nicht - und das Buch ist spannend. Das Nachwort von Christian Adam fasst das, was man beim Lesen eigentlich verstanden hatte, noch einmal in kluge Worte und auch diese Lektüre lohnt sich.
Sehr gut bis toll. Horst Eckert, die Macht der Wölfe. Moskau will mit 40 Millionen Euro die "Berliner Faschisten" stürzen. Dennis Schubert wird aus der Haft entlassen und ermordet. Brigitte Veih, ex-RAFlerin, Fotografin und Mutter von Hauptkommissar Vincent Veih, wird verprügelt. Kriminalrätin Melia Adan wird mit einem Hilfeersuchen der Bundeskanzlerin konfrontiert. Einem konservativen, wenn nichtrechtspopulistischen, Fernsehmoderator wird ein hoher, sehr hoher Job in der Politik angeboten: Die Macht der Wölfe ist der vierte Teil der Reihe um Kriminalrätin Melia Adan und Hauptkommissar Vincent Veih von der Polizei Düsseldorf. Melia Adan hat schon eine gute Karriere hingelegt. Die Beziehung zwischen ihr und Veih wird nicht überall gern gesehen. Und nun bittet die Bundeskanzlerin sie um Hilfe, denn sie wird erpresst. Anfangs habe ich mir eine Liste der Personen und Ereignisse angelegt, es dauerte ein paar Kapitel, bis ich sie mir merken konnte: Horst Eckert schreibt rasant, viele kurze Kapitel aus der Perspektive unterschiedlicher Menschen, und ganz allmählich zeigen sich immer mehr Zusammenhänge zwischen den einzelnen, schon in sich spannenden Geschichten.
Sehr gut. Lucas Fassnacht, Tartarus - Dein Wissen ist tödlich. Leon Gärtner hat gerade seine Masterprüfung mit dem Thema Gene Drives - genetische Manipulation von Pilzen oder Insekten mit dem Ziel, dass sich das geänderte Erbgut in der gesamten Population ausbreitet - bestanden. Aber nur mit Zwei, weil der eitle Prüfer ihm nicht abnahm, dass er eine bestimmte Formel selbst entwickelt habe. Eine Zwei - für die Promotion an einer Top-Uni hätte er eine Eins gebraucht. Dann aber eröffnet sich eine Möglichkeit: Die Promotion bei einer Koryphäe in Zürich. Er geht dorthin und - bald stimmt gar nichts mehr: Er kommt einer Frau näher, und die wird ermordet. Er lernt einen Milliarder kennen, der will den Hunger in der Welt besiegen und scheint Leon zu umgarnen. Er lernt eine Frau kennen, die mehr als undurchsichtig ist. Das Schlimmste: Leon weiß nicht mehr, ob er seiner Doktormutter, der Schweizer Koryphäe, vertrauen kann. Fassnacht hat einen spannenden Thriller über das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik geschrieben. Es geht um Gentechnik, Agrar-Lobby und Geheimdienste. Wie entsteht Macht, wo zeigt sie sich, und führt ihr Besitz zwangsläufig ins Dunkel - das sind immer Fassnachts Fragen, und der junge Leon Gärtner lernt sie auf die harte Tour. Spannender, solider Thriller. Sehr gut bis gut. Oliver Juli, Das Gebot des Bösen. Ein namenloser Mann beobachtet und zeichnet. Er bereitet eine (nicht medizinische) Operation vor - und er steht seinerseits unter Beobachtung. Eine junge Polizistin und ihr Partner untersuchen einen seltsamen Fall: Viel Blut in einem Wald in der Nähe eines Internats, eine verschwundene Schülerin - und dann verschwinden noch mehr Menschen. Der junge Rom Neven arbeitet für einen Clan der Organisierten Kriminalität aus dem Balkan, aber er hilft auch der Polizei bei der Suche nach der Schülerin. Menschen sterben, immer neue Geheimnisse tun sich auf, und das Geschehen steuert auf ein furioses Ende zu. Oliver Juli hat einen klug konstruierten und spannenden Erstling geschrieben. Im Mittelpunkt zwei, drei Personen, sehr unterschiedlich. Ein Ziel ist bei allen gleich, aber ansonsten haben sie ziemlich gegensätzliche Ziele. Und Wege, ihre Ziele zu erreichen. Das wäre schon spannend genug, aber was mir am Krimi besonders gefällt, sind die genauen Beschreibungen, wie die Personen ihre Ziele erreichen: Neven etwa, der seine Zeichenkunst einsetzt, ein Fahrrad "reserviert" und benutzt und so weiter: viele Kleinigkeiten, die dem Ganzen Spannung und Farbe geben. Und das Geschehen auf Seite 155 ist für einen Krimi auch eher ungewöhnlich. Viele überraschende Wendungen. Gut bis sehr gut.
Kunst in Karlsruhe
Immer wieder interessant und anregend! Ein paar Stunden auf der art KARLSRUHE, der internationalen Messe für Klassische Moderne und Gegenwartskunst, sind eigentlich zu wenig, ein paar Kunstwerke verpasst man immer, aber das ist kein Wunder, so viel, wie da ist: Vier Tage, vier Hallen, eine große Eingangshalle und ein begrünter Innenhof… Das Schöne an solchen Messen ist die Vielseitigkeit. Natürlich war auch Prominenz vertreten wie Schiele, Klimt und Nolde. Aber meine Lieblingsstücke, auch weil es Werke sind, die man eben nicht unbedingt im Museum sieht: „The Orgin of the World: Vulva“ von Marion Mandeng, „Mein Schutzengel macht sich über mich alten Mann lustig“ von Werner Lehmann, „Fadenfrauen 56“ von Marlis Albrecht, außerdem alles von Albrecht Genin, die Schilder von Jens Andres, „concrete love“ von Fredrik Erichsen. Und die Eis-am-Stil-ähnlichen Skulpturen von Lola Luk haben viele Kinder angelockt. Die nächste art KARLSRUHE soll vom 22. bis 25. Februar 2024 stattfinden.
April 2023
Kunst in HamburgNoch bis zum 21. Mai zeigt das Bucerius Kunst Forum Hamburg die Ausstellung Gabriele Münter. Menschenbilder. Darin wird zum ersten Mal in einer Schau der Fokus auf die Portraits der bedeutenden Expressionistin (1877–1962) gelegt. Versammelt sind rund 80 Gemälde, Druckgrafiken, Zeichnungen, Fotografien und eine Hinterglasmalerei. Münters Lebensweg ist mehr als ungewöhnlich, und von Anfang an ging es ihr um Menschen und ihre Portraits: Als Kind zeichnete sie Menschen mit Bleistift, als junge Frau reiste sie schon in den Jahren 1899/90 mit ihrer Schwester durch die USA. Dabei hat sie viel fotografiert. Ihr Foto von drei schwarzen Frauen im Sonntagsstaat hat mich umgehauen, ich finde es großartig. Sie hielt Skizzenbücher, darin zeichnete sie in wenigen Strichen Menschen, „unübertroffen“ in Ausdruck und Komposition, wie es auf der Website heißt. Im Jahr 1907 hatte sie ihr künstlerisches Debüt im Salon d’Automne in Paris, und die meisten Werke waren Portraits. Die Hamburger Ausstellung hat sechs „Kapitel“: Selbstbildnisse, Porträts, Kinderporträts, Figurenbildnisse, Menschen in Zeichnungen und Gruppenporträts. Jedes Kapitel ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit Münters frühen Fotografien. Während sie großartige Fotos mache und in den Jahren um ihr künstlerisches Debüt ausdrucksstarke Bilder schuf, finde ich anderes eher bieder, etwa ihr Selbstportrait von etwa 1916: ein biederer Mensch, bieder gemalt. Mochte sie sich eigentlich selber? Mein Lieblingsbild: Mädchen mit roter Schleife 2, 1908: Ein verschmitzt-trauriges Mädchen schaut aus dem Bild hinaus, der Ausdruck ist unfertig. Wird sie ein Hausmütterchen oder setzt sie sich durch?
Die Hamburger Kunsthalle ist immer einen Besuch wert, weiß ich ja schon ewig, und wiederhole es auch immer gern. Diesmal neu: Kluge Fragen in der ständigen Sammlung. Zum Beispiel: „Ist das Bewunderung, Voyeurismus oder Sexismus?“ unter dem Bild „Phryne vor den Richtern“ von Jean-Léon Gérôme (1824-1904), das eine schöne nackte Frau zeigt, die vor einer großen Gruppe rot gekleideter Richter steht, die um sie herum in einem Rund sitzen. Die Frau zieht sich nicht selber aus, sondern wird entblößt, ein Mann reißt ihr ein blaues Tuch vom Leib. Die Richter richten ihre Blicke auf sie, aber sie selber verbirgt ihren Blick doppelt, indem sie sich abwendet und den Arm vor ihre Augen hält. Tja. Aber: Sie war Angeklagte wegen Gotteslästerung – ein Bildhauer nahm sie als Modell für eine Göttin – und es ist ihr Verteidiger, der ihr das Tuch vom Leib reißt, und die Richter werden sie schließlich freisprechen – wer so schön ist, kann nicht schuldig sein. Außerdem werden die glotzenden Männer bloßgestellt, und ein Modell der Göttin Athene richtet ihren Speer auf das lüsterne Richter-Publikum. So ungefähr jedenfalls der kluge Kollege von Chrismon. Klar: Irgendwie ist eine solche Verteidigung trotzdem entblößend, und hätte der Maler den Anwalt nicht bittebitte VOR der Nackten malen könne, sodass der Betrachter des Bildes die Nackte nicht sieht! Also: Feministisch gesehen: aus meiner Perspektive nicht perfekt. Aber trotzdem ziemlich ok. Gute Idee der Mitarbeiter der Hamburger Kunsthalle. Und gute Fragen, es gibt noch mehr davon – regt an zum Nachdenken!
Neue Krimis
Bernhard Aichner, Bildrauschen. Pressefotograf David Bronski ist runter mit den Nerven und macht Urlaub, Blockhaus in den Tiroler Bergen. Er geht spazieren. Findet eine Frauenleiche. Er will Hilfe rufen - und dann ist die Leiche plötzlich weg. Alles nur Einbildung? Es wird noch schlimmer: Er verläuft sich, landet in einem Luxuschalet mit einer Handvoll Influencer, und wird eingeschneit. Geniale Idee, ebensolches Setting: Eine Handvoll Influencer trifft sich in den Bergen, um füreinander Werbung zu machen, und dabei ein paar Follower vom anderen dazuzubekommen. Sie werden eingeschneit, sind nicht in der Welt, aber sie sind online. Sie fotografieren alles, schreiben ein paar Worte dazu und stellen das Ganze in Nullkommanichts auf ihre Social Media Accounts. Aichner erzählt das Ganze in Staccato-Dialogen, gelegentlich eingeordnet oder kommentiert durch einen inneren Monolog Bronskis. Man leidet mit ihm und manchmal fragt man sich auch, warum er sich grade mal wieder so bescheuert verhält. Die Gesellschaftskritik merkt man gar nicht, sie ist nicht aufgesetzt, sondern gehört dazu. Sehr gut. Hubertus Borck, Die Klinik. Ein Krankenhaus in Hamburg. Ein junger Familienvater wird eingeliefert. Er liegt im Koma, aber kaum ist er außer Lebensgefahr, stirbt er. Seine Witwe glaubt, er wurde ermordet und beauftragt einen Anwalt: Sie hat recht. Die 59-jährige Kriminalkommissarin Franka Erdmann und ihr junger Kollege Alpay Eloglu gehen diesem Todesfall nach und es scheint, dass noch mehr Menschen in dem Krankenhaus auf nicht natürliche Weise ums Leben kamen. Nun befürchten sie weitere Todesfälle. Unterdessen macht die junge Witwe eine merkwürdige Entdeckung. Und dann muss Eloglus Vater in das Krankenhaus. Man weiß fast von Anfang an, wer hier mordet. Aber irgendwie eben doch nicht. Die Dinge passen nicht zusammen. Das, und natürlich die Angst vor weiteren Morden, machen das Buch spannend. Nebenher macht es Angst vor jedem Krankenhausaufenthalt, weniger davor, ermordet zu werden, als vielmehr vor dem Gewinnstreben ausgerechet im Gesundheitswesen, das allzuschnelle Routinen, Überarbeitung bei Ärzten und letzlich Schlamperei fördert. Spannend. Gut. Lioba Werrelmann, Tod in Siebenbürgen. Paul Schwarzmüller kam als kleiner Junge mit seinem Vater aus Rumänien. Ziemlich überstürzt, und die Hintergründe dafür hatte er nie verstanden. Und nun ist seine Tante dort gestorben. Dabei hatte er sie längst tot geglaubt. Sie hat ihm ihren Hof vermacht. Paul ist inzwischen Investigativjounalist, und obwohl er bloß wegen des Erbes nach Rumänien reist, hat er dort plötzlich zu tun: Die Menschen lehnen ihn ab, nur sein alter Jugendfreund Sorin freut sich. Dann geschieht im Dracula-Schloss Bran ein Mord und Sorin wird festgenommen. Paul fängt an zu recherchieren, er will seinem Freund helfen, aber niemand vertraut ihm. Tod in Siebenbürgen ist der erste Band einer Krimireihe um Paul Schwartzmüller. Regionale Krimis gibt es inzwischen noch und nöcher, aber ein Draculaschloss bei den Karpaten ist als Tatort tatsächlich ungewöhnlich. Werrelmann hat mit Paul Schwartzmüller eine nette Figur erschaffen, vielleicht etwas lahm, aber das passt zur Geschichte. Das Buch ist hinreichend spannend, aber nicht immer überzeugend, die geheimnisvollen Kräfte der schönen Maia etwa passen nicht so recht ins Ganze. Ganz gut. Karen Sander, Der Strand - Verraten. "Verraten" ist die Fortsetzung von "Vermisst" (siehe März). Die 19jährige Lilli Sternberg ist noch immer vermisst, ihr mutmaßlicher Mörder tot. Ermittlungsleiter Tom Engelhardt will den Fall weiter verfolgen, ebenso die Kryptologin Mascha Krieger. Da wird eine weibliche Leiche angespült. Und ihre DNA stimmt nicht mit der von Lilli Sternberg überein. Karen Sander hat wieder einen soliden Thriller herausgebracht. Die Polizisten, die gegen ihre Vorgesetzten die Fortführung ihrer Recherche durchsetzen wollen, die Spannungen in den Familien und nicht zuletzt die einzige Ich-Erzählerin, eine Psychiatriepatientin. Zwar handelt es sich nicht um große Krimiliteratur ist, dazu sind die Menschen nicht wirklich glaubwürdig genug und die Handlung ist eben nur eindimensional. Aber man folgt den Menschen und der Handlung, das Buch ist spannend. Ganz gut.
März 2023
Kunst in PotsdamDas Museum Barberini zeigt in Zusammenarbeit mit dem Pariser Musée Marmottan die famose Ausstellung Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst, die noch bis zum 11. Juni läuft. In der griechischen Antike war die Sonne ein Gott, eine autonom handelnde Kraft. Im Alten Testament wurde sie entthront, sie ist Schöpfung Gottes und hat Aufgaben, etwa Gottes Herrlichkeit zu rühmen oder Licht zu bringen. Im Neuen Testament ist sie noch mehr religiöses Instrument, ist nur noch Zeuge von Gottes Handeln. Die Ausstellung zeigt Bilder aus unterschiedlichen Epochen. Ein Kreuzigungsbild von 1450 bis 1560 wahrscheinlich aus Valencia zeigt im Hintergrund eine riesige Sonne. Sie ist dunkelgold, aber sie scheint nicht. Im Lukasevangelium wird das als Reaktion der Sonne auf die Kreuzigung beschrieben; das zeigt die Bedeutung die Kreuzigung für die gesamte Welt. Auf dem Bild „Weidengebüsch bei tiefstehender Sonne“ von Caspar David Friedrich aus den Jahren 1832 bis 1835 ist die Sonne fast weiß und leuchtet gelb und orange, man sieht sie zwischen zwei Weiden, die sie rahmen, Es ist Winter, die Bäume haben keine Blätter, unten ahnt man einen Fluss, den die Bäume säumen. Ein Film mit Aufnahmen eines NASA-Satelliten der Aktivitäten der äußeren Sonnenschichten thematisiert das Unmögliche: Er ist von Katharina Sieverding und heißt „Die Sonne um Mitternacht schauen (red)“: Die Sonne kann man um Mittarnacht ja gar nicht sehen. Die Sonne ist gelb-rot, nicht ganz gleichmäßig, sie dreht sich langsam, man könnte das Video ewig anschauen. Faszinierend: Ein Monet mit einer Reihe von Getreideschobern (ebenfalls ein typisches Monet-Motiv). Davor haben die Ausstellungsmacher eine Tafel gelegt, auf der schablonenhaft einfach die Richtung der Pinselstriche sowie Sonnenlicht und Farbtöne dargestellt sind. Wenn man die Tafel n die Hand nimmt und mit dem Bild vergleicht, sieht man gleich viel mehr. Übrigens: Museumsstifter Hasso Plattner hat vier neue Monets gekauft – tja, wer täte das nicht auch gern? Er zeigt sie – inzwischen insgesamt 38 Stück und damit die größte europäische Sammlung seiner Werke außerhalb von Paris – in seinem Museum. Die vier haben einen eigenen Raum für sich. Es sind „Der Tümpel im Schnee“ (wie früher, als wir Kinder waren und auf dem Teich Schlittschuh liefen), „Das Parlament, Sonnenaufgang“ (Monet hat 19 Parlament-Bilder gemalt), „Der kugelförmige Baum in Argenteuil“ (hinter einem See, ist er trotzdem das zentrale Motiv des Bildes) und „Der Apfelbaum“ (in grandioser Blüte). Unbedingt anschauen!
Neue KrimisVera Buck, Wolfskinder. Unten, im Dorf, sitzt das Böse. Die Welt ist gefährlich. Das lernt man von klein auf in Jakobsleiter, einem winzigen Dorf hoch in den Bergen, wo noch die Wölfe heulen und man sich sein Essen selber anbaut - oder schießt. Doch seit Jahren verschwinden immer wieder Frauen aus der Gegend. Niemand scheint sich dafür zu interessieren. Nur die angehende Journalistin Smilla, die aus der Gegend kommt und deren beste Freundin Juli verschwunden war, als beide 16 Jahre alt waren. Und Jesse, selber aus Jakobsleiter, dessen beste Freundin Rebekka eigentlich in die Stadt wollte - und dann plötzlich auch verschwindet. Dann läuft Smilla ein Mädchen vors Auto, das genaus so aussieht wie Juli als Kind. Smilla fängt an zu recherchieren und was sie entdeckt, bringt sie selber in größte Gefahr. Dieser Thriller ist noch mehr als der klassische Wer-war-es, hier fragt man sich bald Worum-geht-es: Die Geschichte wird immer rätselhafter, je weiter man liest. Man folgt Smilla auf ihren Recherchen, man folgt Jesse auf seiner Suche. Im Buch wechseln sich Kapitel ab, die den unterschiedlichen Menschen folgen: Nicht nur Smilla und Jesse, auch Laura, einer jungen Lehrerin, die neu in der Stadt ist und auch die Kinder aus Jakobsleiter unterrichtet, der kleinen schlauen Edith, die mehr sieht als eine Achtjährige sollte, und Isaiah, dem Priester von Jakobsleiter. Buck flicht und entflicht sorgfältig ein Gespinst aus Ereignissen, für die es eine Vielzahl von Motiven geben könnte. Sie hat ein Gespür für Feinheiten, etwa die abgrundtiefe Bösartigkeit im Verhalten des Entführers gegenüber der Entführten (218). Und den Spruch "Die Fliegen haben gewechselt, aber die Scheiße ist dieselbe geblieben", muss ich mir unbefdingt merken. Ein paar kleine Fehler wurden die im Lektorat übersehen (10: Der "Faunfelsen ist größer als in meiner Erinnerung. Dabei sind weder er noch ich seit jenem Tag gewachsen." Logisch wäre als zweiter Satz: "Dabei ist weder er gewachsen noch ich bin geschrumpft." Oder 17: "Im Osten dämmert es. Es ist diese klamme Stunde zwischen Tag und Nacht, in der die Sonne sich anschleicht" - besser: zwischen Nacht und Tag. Usw.) Auch der Schluss ist nicht so ganz überzeugend. Aber abgesehen davon: Eine sehr spannende Lektüre! Sehr gut bis gut
Alexander Oetker und Thi Linh Nguyen, Die Schuld, die uns verfolgt. Mitten in Berlin wird ein kleines Mädchen aus seiner Kita entführt und der Polizist Adam Schmidt setzt alle Hebel in Bewegung, das kleine Kind wiederzuinden. Gleichzeitig wird in einem Brandenburgischen Dorf eine Bank überfallen und die Polizistin Linh-Thi Schmidt versucht, eine Eskalation zu verhindern. Die beiden Polizisten sind verheiratet und es verbindet sie noch mehr, nämlich ein lange zurückliegendes Ereignis.
Dieser Krimi ist der erste Band einer neuen Serie um das Polizistenehepaar. Es hat einen autobiographischen Hintergrund: Die Autorin Thi Linh Nguyen wurde in der Nähe von Hanoi geboren, kam im Alter von drei Monaten nach Berlin-Marzahn und, so steht es im Klappentext, "erlebte die Hochphase der vietnamesischen Mafia in den Plattenbauvierteln im Osten der Stadt." Die Eltern der Protagonistin hatten sich auch am illegalen Zigarettenhandel beteiligt, bevor sie legale Berufe ergreifen konnten. Und ein Bruder scheint noch immer nicht ganz sauber zu sein - was interessante Interessenkonflikte für spätere Bände verspricht. Nguyen hat mit diesem Krimi debütiert, Oetker hat schon mehrere Romane geschrieben. Ich bin gespannt auf weitere Bücher. Was die Herstellung von Phantombildern betrifft, könnten die Autoren noch etwas recherchieren (191), die Prügelszene S. 213 ist nicht stimmig, ebensowenig wie die Zählerei S. 216, für Kleinigkeiten sollte der Verlag ins Lektorat investieren. Aber der Schluss ist wirklich gut. Gut Karen Sander, Der Strand. Vermisst. Sellnitz auf dem Darß. Lili Sternberg, 19 Jahre alt, verschwindet. Jahre zuvor war ihre Mutter auch schon verschwunden und später aufgefunden - erschlagen. Lili ist daraufhin bei ihren Großeltern aufgewachsen. Und die machen sich nun umso mehr Sorgen, weil Lili gehörlos ist. DIe einzige Spur ist eine seltsame Zeichenfolge, in den Sand gemalt und abfotografiert: Das wurde von Lilis Handy an das ihrer besten Freundin geschickt. Nun versuchen der alleinerziehende KHK Tom Engelhardt, der an der Ostsee eigentlich seine Ruhe haben wollte, und die Kryptologin Mascha Krieger vom LKA, das Rätsel zu lösen und Lily zu finden. Vermisst ist der erste von geplant drei Thrillern um das Verschwinden der Lili Sternberg. Karen Sander lässt mehrere Handlungsstränge nebeneinander herlaufen, die sie im Laufe der drei Bücher weiterentwickelt und entwirrt: Eine Patientin flüchtet aus der Psychiatrie in Teterow. Lilis beste Freundin Fabienne hat etwas zu verbergen. Lilis Großeltern scheinen ein Geheimnis zu haben. Von Lilis Computer sind Daten verschwunden. Die Kryptologin sucht auch noch etwa ganz anderes. Und so weiter. Sander gibt den roten Faden dabei nie aus der Hand, sondern führt den Leser anhand der Zeitangaben durch die kurzen Kapitel. Sie schreibt fast immer aus der Perspektive der Ermittler, nur ein paar Passagen stehen in der Ich-Form, erst relativ spät merkt man, wer dahintersteckt. Andererseits: Es gibt Unmengen Krimis und Thriller mit vermissten Mädchen und Frauen, Kompetenzgerangel zwischen Polizisten, männlichen und weiblichen Polizisten, denen man insgeheim eine Partnerschaft wünscht. Der Thriller ist nicht toll, aber war recht spannend, ich werde auch die beiden anderen Bücher lesen.
Ganz gut. Peter Klisa, In den letzten Stunden der Dunkelheit. Deutschland, April 1945. Eine Gruppe Amerikaner fliegt in einer waghalsigen Aktion nach Berlin. Sie sollen verhindern, dass den Russen das Wissen über das Deutsche Atomprogramm in die Hände fällt. Mit dabei ist Frederic Carvis, der einst in Deutschland Physik studiert hatte - und sich dabei in Anna verliebte, die er nun wiederzufinden hofft.
Klisa verknüpft zwei Zeiten im Leben von Carvis und damit auch in der Politik: 1936, als die Deutschen den Krieg vorbereiten, eine Zeit geprägt von Arroganz, Rassismus und Fortschrittsglauben. Da lädt Carvis´ Physikprofessor ihn auf ein rauschendes Fest ein, und der junge Student lernt Anna kennen. Und April 1945, als die Deutschen den Krieg im Grunde verloren haben und Kinder an die Flak schicken. Da muss Carvis nach Berlin, wo Gefahr von Russen und Hitlerjungen droht. Eigentlich eine spannende Konstellation. Aber ich kann Klisas Schreibstil nicht ertragen. Diese Sprache! Zum Beispiel "als Kind bin ich in Berlin aufgewachsen" (65), "versetzte das Flugzeug schlagartig in Alarmzustand" (79). Und kann man sich wirklich im Transportraum einer JU 52 unterhalten (94ff) - ist es da nicht viel zu laut? Ich habe es bis Seite 127 geschafft. Nicht gut
Februar 2023
Neue KrimisSven Stricker, Sörensen seht Land. Nix los in Katenbüll - fast nix: Das EKZ feiert sein Jubiläum. Bei dem Jubiläumsfest rast ein Auto in die Menschenmenge. Menschen sterben. Das Auto gehört einem ehemaligen Praktikanten von Sörensen, dem Kriminalkommissaranwärter Malte Schuster. Sörensen glaubt nicht, dass er der Attentäter ist. Und dann sind da noch ein paar andere Mitfahrer, aber ob die es waren? Die einzige Frau im Wagen ist tot. Sörensen recherchiert, trotz nerviger Vorgesetzter. Sörensen leidet unter seiner Angststörung und darunter, dass alle davon wissen und darüber reden. Er ist ein Anti-Held, macht viele Fehler, und obwohl das nach einem billigen Schema aussieht, ist es das ganz und gar nicht. Erstens kann Stricker richtig gut schreiben, die Bilder machen Spaß: Aus dem Telefonat mit EKHK Rösler taucht Sörensen "auf wie aus einer Toilettenschüssel." (129) Und überhaupt kann man hier über 25 Seiten (S. 74ff) eine großartige und zum Schreien komische Nicht-Sex-Szene lesen. Ab und zu ein Seitenhieb gegen Öko-Essen und Gendern, aber die meiste Zeit geht es eigentlich um die Beziehung zu seinem Vater. Und das liest sich richtig gut. Sehr gut.
Fabio Lanz, Das Fallbeil. Die Ermittlerin Sarah Conti und das Team de Mordkommission langweilen sich, ach, hätten sie doch wieder einen spannenden Fall zu lösen, "einen Fall mit allem Drum und Dran" (S. 20)! Tja, und was soll man sagen: Ein Mensch stirbt, wird ermordet, und die Ermittler haben ihren Fall. Nun ja. Der Mord geschieht im Kunsthaus Zürich (das gibt es tatsächlich: https://www.kunsthaus.ch) und zwar mit einer Guillotine, die zu einer Kunstausstellung gehört. Das Opfer war Journalistin. Sie hatte viele Ausstellungen rezensiert und war dabei zahlreichen Leuten auf die Füße getreten. "Im Glanz und Glamour der Kunstwelt mangelt es nicht an Verdächtigen", steht auf der hinteren Umschlagseite des Buches. Der Autor Fabio Lanz kann schreiben, keine Frage, und eine Ermittlerin, die hervorragend Klavier spielt und sich für Kunst interessiert, ist eine richtig gute Idee. Lanz nimmt die Szene um Kunst und Kultur gehörig auseinander, und es liest sich so, als hätte er da gute Insiderkenntnisse. Gleichzeitig ist das Ganze etwas gewollt: Dass sich Mordermittler nach einem spannenden Fall sehnen, disqualifiziert sie in meinen Augen - schließlich geht es darum, dass ein Mensch auf gewaltsame Weise zu Tode kommt. Lanz schreibt auch etwas zu sehr schwarz-weiß: Conti und ihre Galeristin-Freundin und ihr Liebhaber Fred sind "gute" Kulturmenschen; aber zum Großteil sind die Kunst-und-Kultur-Typen in diesem Krimi ekelhaft. Wo bleiben die Grautöne? (in einem Interview beantwortete er die Frage , warum er unter Pseudonym schreibe, mit dem Stress, den die Öffentlichkeit für einen Autor bedeute: "Wenn das Pseudonym mal auffliegen sollte, ist das ok. Aber vorerst lebe ich wie Diogenes in seiner Tonne." https://www.krimi-couch.de/magazin/interview/11-2021-fabio-lanz). Unter mangelndem Selbstbewusstssein dürfte er nicht leiden. - Aktualisierung: Lanz war früher Feuilletonchef der NZZ und heißt in Wirklichkeit Martin Meyer. Sehr gut bis gut.
Bernhard Jaumann, Banksy und der blinde Fleck. An verschiedenen Orten in München tauchen Graffiti von Ratten auf. Die ersten werden noch überweißt. Die nächsten werden als "echte Banksys" diskutiert und eine "Geschädigte" beauftragt die Detektei mit der Nachforschung. Schließlich kommt es in einem Münchner Auktionshaus zu einer spektakulären Bieterschlacht um eine Tür mit Graffito. Daraufhin schützt die "Geschädigte" ihr Graffito mit einer Plexiglasscheibe und entzieht der Agentur den Auftrag. Aber die drei Detektive recherchieren aus Neugier weiter und jeder scheint eine eigene Spur zu verfolgen: Echte Banksys? Wenn ja: Wer ist das überhaupt? Oder handelt es sich um Graffiti von Trittbrettfahrern? Gibt es Hinweise auf die Münchner Street-Art-Szene? Aus der Münchner Street-Art-Szene? Und welche Rolle spielen die Medien? Banksy und der blinde Fleck ist der dritte Band der Krimireihe um die drei Detektive der Kunstdetektei von Schleewitz. Der erste Band (Der Turm der blauen Pferde) hatte mir gut gefallen, der zweite Band (Caravaggios Schatten) ging so, nun war ich gespannt auf den dritten. Und? Also, dieser Band gefiel mir wieder. Die drei Kunstdetektive mit ihren Problemen sind nichts Großes, aber man möchte doch wissen, wie es weitergeht. Und das große Thema das Krimis, nämlich die Möglichkeiten einzelner Menschen für eine gewisse Kapitalismuskritik, ist interessant, ebenso wie z.B. die Frage nach Banksy als kapitalistische Marke (81ff) oder das Urheberrecht in der Kunst (92). (Und man kann auch fragen, inwiefern dieses Buch von Banky profitiert. Aber das ist mir egal.)
Gut. Lea Stein, Altes Leid. Altes Leid ist der erste Band einer Reihe um die junge Polizistin Ida Rabe. Er spielt in Hamburg im Frühjahr 1947, direkt nach dem Hungerwinter 1947/47, dem kältesten Winter des Jahrhunderts: Mehrere Hunderttausend Menschen starben allein in Deutschland, gerade in Großstädten herrschte bitterer Hunger, viele Frauen prostituierten sich, viele Schwangere versuchten, eine (illegale) Abtreibung zu erreichen; Wohnraum war knapp, weil viele Häuser zerbombt waren Flüchtlinge untergebracht werden mussten; außerdem stand Hamburg unter der Besatzungsmacht der Briten, die eben auch Behörden und Verwaltung überwachten. Im Jahr 1945 hatte der erste Jahrgang der Weiblichen Schutzpolizei in Hamburg seinen Dienst aufgenommen, die Ausbildung dauerte gerade einmal zwei Monate. Ida Rabe soll hat gerade neu angefangen, ihr Arbeitsplatz ist die Davidwache in St. Pauli. Dann wird eine schrecklich verstümmelte Frauenleiche im Umland aufgefunden, und die meisten männlichen Kollegen scheinen sich nicht sonderlich dafür zu interessieren. Ida Rabe recherchiert, obwohl sie das eigentlich gar nicht darf und läuft so in Konflikt mit Kollgen und Vorgesetzten, und britischen Besatzern. Schließlich gerät sie selbst in Gefahr.
Lea Stein (Pseudonym der Journalistin Kerstin Sgonina) hat einen spannenden Krimi geschrieben, bei dem man sich ins Nachkriegsdeutschland hinein versetzen kann: Man fühlt mit Ida Rabe mit, die selber vor Hunger oft kaum arbeiten kann und sich ein Zimmer mit einer anderen Frau teilen muss. Und die eine düstere Vergangenheit in der Hamburger Unterwelt hat. Stein erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Ida und - im kürzeren Passagen - aus der Perspektive einer anderen Person, deren Identität lange unklar bleibt. Lange bleibt auch der wahre Hintergrund der Taten im Unklaren, und das ist spannend. Gut bis ganz gut.
Kunst in FrankfurtStädte verändern sich. Neues entsteht und Altes verschwindet. Seltsam ging es in Frankfurt am Main zu: Die Altstadt entstand im Mittelalter und war vor dem Zweiten Weltkrieg eine der besterhaltenen Mitteleuropas. Dann wurde sie durch Bombenangriffe fast vollständig zerstört. Aber in den 2010er Jahren wurde sie wieder aufgebaut. Und nun hat Frankfurt zwischen Dom und Römer eine neue Altstadt: 35 Häuser, davon 15 originalgetreue Rekonstruktionen und 20 Neubauten. Frankfurt ist aber viel größer. Wie es an anderen Orten früher ausgesehen hat, kann man im Historischen Museum Frankfurt sehen: Das zeigt noch bis zum 12. März die Ausstellung über Carl Theodor Reiffenstein. Der hatte das alte Frankfurt ganz wunderbar gezeichnet, gemalt und beschrieben. Zu seiner Lebenszeit änderte sich das Stadtbild besonders schnell: Mit der industriellen Revolution kamen immer mehr Menschen, die irgendwo leben – meist auf engstem Raum - und sich irgendwie zwischen Arbeit und Zuhause hin- und herbewegen mussten; Wohnviertel verschwanden, Straßen und Bahntrassen entstanden. Der Hauptbahnhof wurde eröffnet, die Häuser in der Judengasse wurden abgerissen. Reiffenstein wanderte mit einem Skizzenbuch durch die Stadt, schuf zwischen 1836 und 1893 rund 2.000 Zeichnungen und Aquarelle, und füllte fast 2.400 Seiten mit Notizen über die Geschichte und die Wandlungen der Bauten, zur eigenen Erinnerung und als Dokumente für die Nachwelt. Er stellte eine „Sammlung Frankfurter Ansichten“ zusammen, die er im Jahr 1877 der Stadt verkaufte – er war ein bekannter Künstler und Landschaftsmaler. Die Sammlung gehört zum Gründungsbestand des Historischen Museums und wird nun zum ersten Mal richtig ausgestellt, in 34 Kapiteln wie „“Gassen“, „Innenhöfe“, „Spekulation“, „Und so weiter“. Wunderschöne zarte Zeichnungen und Aquarelle, mit teils romantischem, teils marodem Charme. Die Ausstellung ist eine, wie der Kollege von der FAZ schrieb (15.11.22, S. 11) „eine im besten Sinne altmodische, von technischen Gimmicks freie Schau geworden“. Gleichzeitig wird sie ergänzt durchs Digitale: Alle Zeichnungen und Aquarelle wurden digitalisiert und veröffentlicht, und Reiffensteins zwölfbändiges Manuskript wurde erstmals vollständig transkribiert und mit der Online-Sammlung verknüpft.
Man kennt ihre „Nanas“: Frauenfiguren, radikal reduziert, aber mit riesigen Brüsten und schreiend bunt. Ich finde sie klasse. Die Künstlerin aber hat noch viel mehr geschaffen, sie hat auch viele gesellschaftliche und politische Themen aufgegriffen. „Sie kritisierte Institutionen und Rollenbilder und verhandelte in ihrem Werk soziale und politische Themen wie die Stigmatisierung durch AIDS, das Recht auf Abtreibung, Waffengesetze oder den Klimawandel“, schreiben die Ausstellungsmacher. In den 1960er Jahren fertigte sie „Schießbilder“ an: „Heiliger Sebastian oder Portrait meines Liebhabers“ stellt einen Mann dar mit einer Zielscheibe als Kopf und einem Hemd als Körper, auf den die Besucher Dartpfeile werfen dürfen. Die Ausstellung zeigt neben Nanas unter anderem einen Totenschädel aus glänzenden Mosaiksteinen, eine fette Frau mit winzigem Kopf und Lockenwicklern, die sich schminkt, aber auf dem Schminktisch liegen seltsame Gegenstände (Blumen und Federn), und zwei Frauen bei Tisch, vor sich widerwärtiges Zeugs wie zerteilte Puppen auf Tellern. Niki de Saint Phalle „zählt als eine der Hauptvertreterinnen der europäischen Pop-Art und Mitbegründerin des Happenings zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation“, schreiben die Ausstellungsmacher. Zurecht. Noch bis zum 21. Mai 2023.Schirn Kunsthalle Frankfurt: CHAGALL. WELT IN AUFRUHR Leider schon vorbei (bis 19. Februar) ist sehr große Ausstellung mit rund 60 Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen von Marc Chagall (1887-1985). Ich kann mit seinen schwebenden Kühen und so weiter eher weniger anfangen, aber diese Ausstellung hat mir sehr gefallen. (Ich bin aber sicher, sie gefiel auch eingefleischten Chagall-Fans.) Die Ausstellung „beleuchtet eine bislang wenig bekannte, aber wichtige Seite seines Schaffens – die Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelt“, schreiben die Macher. Chagall war Jude und das NS-Regime bedrohte seine Existenz, und in seinen Bildern reflektiert er die Bedrohung gegen ihn selbst und die Schoah allgemein. Er malt über Themen wie Flucht, Verfolgung, Verlust der Heimat, Finden einer neuen Heimat – falls das Wort „Heimat“ überhaupt angemessen ist. Er malt Bilder wie „Einsamkeit“, „Moses breitet die Finsternis aus“, „Die Klagemauer“, „Der Engelsturz“. Auch in dieser Ausstellung gab es schwebende Liebende und so weiter, aber eben nicht nur. Chagall reiste z7um Beispiel auch nach Palästina und ins damalige polnische Wilna – heute das litauische Vilnius, und malte Synagogen, die so wirken, als wollte der die Wirklichkeit festhalten, bevor sie zerstört wird. Und der Engelsturz, ein Bild, das Chagall nach 25 Jahren Arbeit erst im Jahr 1947 beendete, zeigt einen feuerroten Engel, der mit ausgebreiteten Flügeln zur Erde stürzt. In der christlichen Legende ist Satan ein gefallener Engel. Links unten flieht ein Mann, ein Jude mit einer Thorarolle und links oben versucht ein Mann, sich festzuhalten. Links unten schweben eine Madonna mit Kind und außen hängt ein gekreuzigter Jesus. Drastischer kann man die Bedrohung der Juden kaum darstellen.
Januar 2023
Neue KrimisJohannes Groschupf, Die Stunde der Hyänen. Berlin-Kreuzberg: Seit zwei Wochen brennen immer wieder nachts Autos. Die Polizistin Romina Winter wurde ins Branddezernat strafversetzt, fast alle Kollegen sind bescheuert, und sie sucht nachts den Brandstifter. Die Reporterin Jette Geppert berichtet über Kriminalprozesse, ist Super-Recognizer - erkennt alle Gesichter wieder, die sie einmal gesehen hat - und ist ebenfalls nachts unterwegs. Ebenso wie der angehende Postbote Maurice Jaenisch, der zu einer Sekte gehört, Angst vor dem Satan hat und unglücklich verliebt ist. Der Krimi ist spannend, Groschupf schreibt toll. Großartiger Stil, harte Dialoge. Was soll man da noch sagen? Die Typen ganz unterschiedlich voneinander, aber auch in sich selbst differenziert, manche sympathisch, andere nicht, und man kann sich auch irren. Toll.
Carla Kalkbrenner, Die Sonne über Berlin - Trugbild. Ein Maler stürzt von seiner Leiter und stirbt. Seltsamerweise erstickt er an seiner Farbe und die Spurensicherung ergibt, dass er ermordet wurde. "Kommissar Dahlberg, mittelgroß, mittelschwer, mittelblond", und die anderen Ermittler suchen nach einem Mordmotiv; hat das Geschehen möglicherweise mit der Vergangenheit des Malers zu tun? Als Kunststudent war er in Leipzig mit zwei Kommilitonen als "Die Phantastischen Drei" unterwegs. Oder liegt das Motiv woanders, etwa einem Vorfall in der Familie? Kalkbrenner fängt gut an, die Beschreibung des Kommissars ist schön lakonisch und die Schilderung des Mordopfers, das "Gesicht des Toten war von Farbe bedeckt. Nur die beträchtliche Nase ragte hervor, es sah aus,als sei ein Riesenfurunkel geplatzt", drastisch. Aber die Autorin hält diesen Stil nicht durch, bald wirkt es eher es etwas billig "elegant toupierte Damen in teuren Kostümen mit neckischen Tüchlein um den Truthahnhals". Vergangene Dramen belasten die Menschen in der Gegenwart. Viele Leute machen viele Dummheiten. Auf S. 157 kommt eine Dummheit eines der Ermittler heraus, unglaubwürdig, da habe ich die Lektüre endgültig abgebrochen. Nicht so gut. Peter Grandl, Turmgold. Nach "Turmschatten" ist "Turmgold" der zweite Band der Reihe um den alten Hochbunker. Auch dies Buch erzählt von einer Geiselnahme im Turm. Während aber im ersten Band ein ehemaliges Mitglied des Mossad drei Rechtsextremisten gekidnappt hatte, geht es diesmal um die Kinder eines jüdischen Kindergartens und, parallel dazu, um im "Dritten Reich" gestohlene und später versteckte Schätze sowie um eine späte Rache. Peter Grandl hat mit einem NS-Hochbunker im Mittelpunkt einer Serie um Verbrechen heutiger Rechtsextremer, Nationalsozialisten und Antisemiten eine sehr ungewöhnliche Idee. Und er schafft einen Plot, bei dem er mehrere Bälle sehr gekonnt jongliert: Die Geiselnahme um die Kinder, eine Kindergärtnerin und ihre Verquickung in das damalige und in das heutige Geschehen, die Rolle eines damaligen Rechtsextremisten, der nun gewandelt ist, die Geschichte um den Schatz. Negativ aber zweierlei: Erstens macht Grandl es sich manchmal etwas einfach: So ist der jüdische Geiselnehmer im ersten Band eben doch nicht so böse; die Nazis wiederum sind böse und der Autor macht sie dabei so lächerlich, dass es billig ist (492 u.ö.) Zweitens hat der Autor einen schlechten Stil: Würde er alle Adjektive streichen, wäre das Buch halb so dick und doppelt so gut. Trotzdem: Beide Bücher sind spannend. Ganz gut. Thomas Kiel, Das Jungblut Serum. Die Biologie Lena Bondroit wird auf eine einsame Insel in Schweden eingeladen, um ein Serum zu analysieren. Das lässt Menschen zwar unbeschwert sehr alt werden. Aber die Töchter von Frauen, die das Serum eingenommen hatten, bekommen keine Kinder. Thriller um die Bevölkerung auf einer Insel und ein Pharma-Unternehmen im Hintergrund. Aber keine Literatur - so ist die Gerichtsverhandlung am Anfang (24ff) ein durchsichtiges Vehikel, um Epigenetik zu erklären. Manche Wörter sind hochtrabend ("wandeln" S. 147 etc.) Dass Lena auf die Insel reist, ist eigentlich nicht nachvollziehbar (36) und die Person von Loke ist unglaubwürdig. Die Handlung ist recht spannend, die Umsetzung eher nicht. Geht so.
Dezember 2022
Neue KrimisFriedrich Ani, Bullauge. Kay Oleander ist Polizist, auf einer Demo schmeißt ihm irgendjemand eine Bierflasche ins Gesicht, er verliert sein linkes Auge und wird vom Dienst freigestellt. Alle Leute gehen ihm auf die Nerven. Silvia Glaser hatte einen Fahrradunfall, verursacht durch Polizisten, und man glaubt ihr nicht; sie flüchtet sich zu einer rechtspopulistischen Partei, erfährt von einem geplanten Anschlag und will ihn verhindern. Sie war auf der Demo. Oleander und Glaser finden zusammen und versuchen, den Anschlag zu verhindern. Oleander erzählt. Er zweifelt, er sucht, er lässt sich treiben und will nicht angetrieben werden, er braucht Hilfe von den alten Kollegen und will sie eigentlich nicht; und man fühlt und hofft und bangt mit ihm. Schätzt er sein Gegenüber richtig ein, schätzt sie die Politik richtig ein, warum wird Oleander zusammengeschlagen? Friedrich Ani zeigt drastisch Oleanders Einsamkeit (180), wie er gegen jede Wand läuft (252 u.ö.), und andauernd regnet es (46), Scheißwetter. Die Atmosphäre passt immer. Toll. Felix Leibrock, Mord am Kehlsteinhaus. Berchtesgaden, beim Kehlsteinhaus am Obersalzberg: Ausgerechnet im Lift zum Kehlsteinhaus sind Kampf- und Blutspuren. In der Nähe stürzt ein Kletterer ab, aber er war vorher erwürgt worden. Ein anderer Mann verschwindet spurlos. Auf einen dritten wird geschossen - mit einer Armbrust. Bergpolizist Simon Perlinger hat gut zu tun. Ein Mord in einer malerischen Umgebung, eine Geschichte mit vielen Verdächtigen und zwei sympathische junge Bergpolizisten, die an vielen Spuren entlang jagen. Aber auch ein paar innere Monologe, die einfach nur nerven (71:ff Psychotherapie) oder pfaffenhaft sind (286 f Ehebruch und Moralanspruch), naive Dialoge, die den Leser bei der Hand nehmen, obwohl das nicht notwendig ist (152: Unternehmen machen Projekte in Entwicklungsländern ja gar nicht, um den Ärmsten der Armen zu helfen, sondern wegen des Geldes, fürs Image - na sowas!) und nicht wirklich glaubwürdige Charaktere. Geht so. Ursula Neeb,Weihrauch. Frankfurt am Main, 1912. Fabian und Fabiola, Zwillinge aus wohlhabendem Haus, sind tief verbunden, bis Fabian dem Fechter Captain Charles Veston verfällt. Fabiola dagegen misstraut diesem Menschen. Fabian führte das Leben eines Dandy, nun aber bekommt er finanzielle Probleme. Er ist das Gegenteil seiner zielstrebigen Schwester Fabiola, Medizinerin und angehender Psychiaterin. Sie bekommt bald mit, dass ihr Bruder vom Fechter Heroin erhält. Eine interessante Geschichte, eigentlich (der erklärende Anhang ist das Beste am Buch). Aber so schlecht geschrieben, dass ich es bloß bis S. 87 geschafft habe. Die Sprache soll wohl altmodisch sein und zur damaligen Zeit passen, aber Redewendungen wie "er gemahnte an ..." (10.12) oder "nach seinem Dafürhalten" (30) genügen nicht, es ist bloß umständlich. Schlecht. Sophie Sumburane, Tote Winkel. "Ich bin 28 und trage eine Windel." Ein Anfang wie eine Ohrfeige, und so geht es auch weiter. Im Krimi von Sophie Sumburane schildern mehree Menschen eine Vergewaltigung. Von der Vorgeschichte - oder den Vorgeschichten - bis zu den Folgen. Frau Zinnow bekommt einen Anruf von der Polizei: Ihr Mann wurde wegen einer Vergewaltigung festgenonmmen. Er hat alles zugegeben. - Und das Opfer sieht genau so aus wie Frau Zinnow. So viel dreht sich im Kreis, manches wird fast lakonisch angemerkt (89). Toller Anfang, toller Plot. Man fühlt mit, ist gespannt, will es nicht glauben. Aber dann verhakt es sich, zu viele Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart laufen parallel, zu viel bleibt widersprüchlich und nervt. Wie etwa hat Valentina es fertiggebracht, zuhause ihrem Beruf nachzugehen? Und der Dialog zwischen Mutter und Tochter mag inhaltlich die rechte Moral zeigen, ist aber umständlich (152). Die Folgen des Kindheitstraumas sind psychiatrisch gesehen sicherlich alle korrekt, aber massiv und umständlich erzählt. Dann wieder überrascht die Autorin, etwa mit Erkenntnissen über Kay. Das Ende ist vorhersehbar. Trotzdem gut. Frauke Buchholz, Blutrodeo. Der zweite Fall um den Profiler Ted Garner: Zwei alten Männern wurde die Kehle durchgeschnitten. Während der Calgary Stampede, dem größten Rodeo der Welt, suchen der alte Garner und die junge Polizistin Samantha Stern nach Motiven - eine Serie? Mit einem Motiv in der Vergangenheit? Was hatten die beiden Männer gemeinsam? Die erste Spur führt in den Norden Albertas, dort hatten die beiden Männer beim Ölsandabbau gearbeitet. Der hatte und hat entsetzliche Folgen für die Umwelt und die Angehörigen der First Nations. Dann wird der Hund von Garners Vater umgebracht und es zeigt sich eine Verbindung noch weiter in der Vergangenheit. Ein spannender Thriller um zwei Polizisten, die bei der Suche nach einem Mordmotiv aus der Vergangenheit selbst in große Gefahr geraten. Die Polizisten sind sehr unterschiedlich: Garner zitiert Schopenhauer und leidet unter der Distanziertheit seines Vaters. Stern hat ein Pferd namens Blizzard, auf dem sie morgens vor der Arbeit ausreitet. Und sie hatte einen One-Night-Stand, von dem sie nun schwanger ist. Buchholz hat zwei sehr unterschiedliche Protagonisten entworfen. Und sie übersetzt die Lebenswirklichkeit in Kanada durch die stundenlangen Autofahrten zwischen den Arbeitsorten - das wäre in Deutschland kaum denkbar; die Einsamkeit in den Wäldern wird nicht nur seelisch, sondern auch körperlich spürbar, und die Umweltvergiftung beim Ölsandabbau ist ohne die Entfernung der Abbaustellen zu großen Städten mit kulturellem und Bildungsangebot, wie es sie hierzulande eben vielerorts gibt, kaum denkbar. Aber ist das First Nations-Thema wirklich wichtig in diesem Buch? Ich habe oft das Gefühl, Autoren wollen mit solchen Themen ihre Leser erziehen, in diesem Fall trügt es mich vielleicht. Jedenfalls ein spannender Krimi. Gut.
Kultur in Hamburg
Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt Die Ausstellung "Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt" im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg geht der Frage nach, wie architektonische Lösungen das Leben von "Obdachlosen" besser machen können. Besprechung hier. Die neuen Bilder des Augustus. Macht und Medien im antiken Rom Augustus, der erste römische Kaiser (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) bedient sich neuartiger Kommunikationsstrategien. Unter ihm entwickelte sich ein regelrechter Bilderboom.
Besprechung hier.
November 2022
Neue KrimisHorst Evers, Bumm! Bastian Starck kommt ins Gefängnis, er soll seinen Nachbarn ermordet haben. Hermfried zu Dolmen erlebt, wie ein Teil seiner wertvollen Gemäldesammlung gestohlen wird. Im Jahr 1807 schreibt der Hauptmann von Tangermünde Briefe an seine Schwester, in denen es um ein geheimnisvolles Schwert und wertvolle Bilder geht. Im Jahr 1904 soll Kriminalassistent Ernst Gennat den "Franzosenmörder" fassen. Und Kommissar Stanislav Pils soll im Jahr 2043 einen Mord aufklären, der mit einer gentechnisch veränderten Mücke verübt wurde. Mehrere Geschichten, die einzeln gelesen werden können. Die aber miteinander zusammenhängen. Evers hat eine Reihe Kriminalgeschichten geschrieben, jede einzelne liest sich gut, aber der Zusammenhang ist nicht ganz einfach einzusehen, das Ganze hätte etwas klarer sein können. Wie schon bei "Der König von Berlin" ist auch diese Geschichte phantastisch, und diese Überschreitung der herkömmlichen Grenzen literarischer Genres gelingt. Mir hat der Briefroman um den Hauptmann von Tangrmünde am besten gefallen. Nur hätte das Ganze etwas weniger wirr sein dürfen. Wie finde ich den Krimi? Schwer zu sagen. Jedenfalls: Schwierig und lesenswert..
Kurt Palm, Der Hai im System. Franziska Steinbrenner unterrichtet an einer Brennpunktschule, trinkt heimlich und hat endlich den Sorgerechtsstreit um ihre Tochter gewonnen. Philip Hoffmann ist Polizist und betrügt seine schwangere Ehefrau mit einer hemmungslosen Messie-Frau, die ihn nun erpresst. Ein Mann sitzt mit einem Sturmgewehr und 42 Kugeln in seiner Wohnung mit Blick auf den Schulhof. Auch Palm hat - wie Evers - einen Kriminalroman verfasst, in dem mehrere Geschichten miteinander verschränkt sind. Ein rasanter Thriller, kein Erwachsener ist wirklich sympathisch, aber man hofft und bangt. Absurd böse! Sehr gut. Eberhard Michaely, Frau Helbing und das Vermächtnis des Malers. Frau Helbing, ehemalige Fleischereifachverkäuferin und nunmehrige Hamburger Miss Marple, steht in einer Galerie und fühlt sich unbehaglich. Sie ist nur da, weil die Ausstellung eine Hommage (ein neues Wort für Frau Helbing) an ihren früheren Klassenkameraden Marcel Poisson, damals Karl Schnelling, ist. Er hat ein ordentliches Vermögen hinterlassen, obwohl er gar nicht richtig erfolgreich gewesen zu sein schien. Seltsam. Außerdem wird während der Vernissage in die Villa des Künstlers eingebrochen. Dessen hinterbliebener Lebensgefährte Jacques bittet Frau Helbing um Hilfe. Aber als sie in der Villa eintrifft, liegt Jacques da - tot. Und dann wird auch noch bei Frau Helbing eingebrochen. Eberhard Michaely ist Busfahrer für die Hamburger Hochbahn: Endlich, bei Frau Helbings viertem Fall, deckt der Verlag den "Brotjob" des Autors auf. Der passt gut zu seinen Krimis, denn er ist Frau Helbing begegnet, als sie vom Wocheneinkauf auf dem Isemarkt kam und in die Linie 5 stieg. Und inzwischen ist sie bei der Hamburger Polizei so bekannt, dass die Polizisten Wetten abschließen, ob sie diesen Mordfall innerhalb von zehn Tagen aufklärt. Auch diese Geschichte ist wieder eine angenehmes, harmloses Lesevergnügen. Gerade richtig, wenn man es nicht allzu böse will, sondern eine sympathische, mit beiden Beinen im Leben stehende Protagonistin mag, lebensklug und im besten Sinne neugierig. Guter Krimi! Oliver Bottini, Einmal noch sterben. Deutschland, Jordanien, Irak im Jahr 2003. Im zweiten Jahr nach 9/11 behauptet Informant "Curveball", dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen habe. Die USA bereiten ihren Einmarsch in den Irak vor. Deutschland will sich nicht beteiligen. Ein französischer Agent und eine deutsche BKA-Beamtin bekommen Hinweise darauf, dass die Informationen von Curveball falsch sind. Wären sie wirklich falsch, könnte diese Information den Krieg verhindern. Nun soll BND-Agent Frank Jaromin nach Bagdad und dort die Beweise der Informantin des Franzosen sichern. Kriegstreiber wollen genau dies verhindern, und Jaromin gerät in Gefahr. Nicht ganz einfach, dieser Thriller: Bottini arbeitet von Anfang an mit mehreren Personen und Orten, und das muss man sich erst einmal merken. Aber mit der Zeit kommt man rein. Mit ihm rätstelt man, wer Informant ist, wer Verräter ist, man hofft und bangt. Bottini ist es gelungen, die Kriegstreiberei gewisser Gruppen in einen Thriller zu verkleiden und dadurch glaubwürdig zu machen. Ein bisschen zu lang - eigentlich ist Jaromins Familiengeschichte nicht wichtig, auch nicht die der BKA-Beamtin. Dennoch: Sehr guter Krimi.
Oktober 2022
Neue KrimisMatthias Wittekindt, Die rote Jawa. Der dritte alte Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz, dem Mann ohne Vornamen. Wittekind schreibt auch dieses Buch aus der Sicht des alten Mannes, der sich an einen Fall aus seiner aktiven Laufbahn erinnert. Während im vorangangenen Band die Erinnerung in der Auseinandersetzung mit seiner Tochter, Anwältin, geweckt wurde, sind es diesmal die Fragen seines 14-jährigen Enkelsohnes, die Manz beim gemeinsam gefeierten Weihnachtsfest in die Vergangenheit bringen. Er erzählt dem Jugendlichen, wie es kam, dass er Kriminalpolizist wurde: Er ist 16 Jahre alt, lebt mit seiner Mutter in Berlin-Pankow, will eigentlich Matrose werden und absolviert stattdessen ein Praktikum bei der Feuerwehr auf dem platten Land in Mecklenburg-Vorpommern. Dort erlebt er, wie nach einem Brand zwei Leichen gefunden werden. Die Polizei vor Ort arbeitet nicht gut, und der junge Manz findet Spuren. Wittekindt spielt hier mit drei zeitlichen Ebenen: Der elfjährige Manz denkt über Weihnachten oder genauer: eine Weihnachtskrippe und Engel nach, der 16jährige Manz denkt über ein totes Ehepaar nach und der alte Manz denkt über das Leben und das Alter nach. Wittekindt verspinnt die Ebenen auf kluge Weise, was eigentlich erstaunlich ist, denn es gibt eigentlich keinen Grund für eben diese Erinnerung. Aber es passt. Der Leser folgt Manz´ Gedanken, der Alte erzählt seinem Enkel nicht alles (war da was mit Maja?) und der 16-Jährige weiß zwar, offenbar angeborenerweise, wie wichtig Sorgfalt, Hartnäckigkeit und Logik beim Lösen eines Falles sind, lernt zwar, was Sex ist, aber er ahnt erst langsam die Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben, und trotz der Diskussionen mit dem Vater/Onkel ist er in politischen Fragen ganz naiv - zum Glück gibt es jemanden, der ihn im Jahr 1961 von Ost- nach Westberlin bringt. Wittekindt hat ein Buch geschrieben, was ebenso ein Coming of Age-Roman wie ein Krimi ist, er lässt den Leser teilhaben an den Unvollkommenheiten und Widersprüchen einer Recherche. "Die rote Jawa" ist ein langsames Buch, was mich von Anfang an gefangen genommen hat. Sehr gut. Gloria Gray, Grüße aus Bad Seltsham - Vikki Victorias zweiter Zwischenfall. Dies ist der zweite Band der Vikki Victoria-Reihe von Gloria Gray und Robin Felder (der Co-Autor wird auf der letzten Umschlagseite geannt). Die Sängerin und Entertainerin hat inzwischen eine eigene Sendung für eine genau auf sie zugeschnittene Kosmetikkollektion bei einem Homeshopping-Sender. Dann ist plötzlich ihr Chef Olaf tot - mit einem Handy im Mund und Vikki gerät bei der Polizei von Bad Seltsham unter Mordverdacht. Also versucht sie, den Mord aufzuklären. Ihre internetaffine Teenager-Nachbarin Kathi und ihr Ex-Freund, der Motorradrocker Wolfi, helfen ihr wieder. Auch der zweite Fall, nein: Zwischenfall von Vikki Victoria macht wieder großen Spaß. Die Geschichte ist an einigen Stellen etwas konstruiert, so etwa der Grund für den Mordverdacht oder auch für Elyas und Erol. Und von den 377 Seiten hätte man 100 streichen können - zwar hat Gray Humor und lacht auch gern über sich selber, schreibt gut, und nimmt mit Warmherzigkeit political correctness aufs Korn. Aber so gern man das liest, es ist doch recht viel; die Handlung könnte etwas stringenter sein. Gut. Eva Rossmann, Tod einer Hundertjährigen. Im rauhen Hochland von Sardinien werden die Menschen besonders alt. Das reizt Wissenschaftler und Scharlatane. Tzia Grazia stirbt mit hundertzwei Jahren und ihre beste Freundin behauptet, sie sei ermordet worden. Die Wiener Journalistin Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krainer ermitteln, treffen einen alten Schauspieler und allerhand andere Leute, noch jemand stirbt, und es wird gefährlich. Schöne Landschaft, gutes Essen, nur leider zwei Tote. Trotzdem eine heile Welt: Mira Valensky hat einen netten Mann, der ihre journalisichen Fehlzeiten finanziell gern ausgleicht und gelegentlich für sie recherchiert; sie und ihre beste Freundin sind ein gutes Ermittlerpaar, das Vorurteile über den Haufen wirft - die Putzfrau hat inzwischen ein Reinigungsunternehmen und eine süße Enkeltochter und ist überhautpt sehr klug -, Familien halten trotz gelegentliche Streitereien zusammen, das Essen ist großartig. Die Reihe um Mira Valensky hat vielleicht keinen besonderen Tiefgang, ist aber eine nette Lektüre. Ganz gut. Hans-Werner Honert, Irrwisch. Maria und ihr Mann kamen bei den Dreharbeiten für einen Film wohl den Hintermännern des Mordes am Chef der Deutschen Treuhand, Detlef Carsten Rohwedder, zu nahe: Bei der Filmpremiere in Toronto wurde Marias Mann erschossen. Den nächsten Film dreht Maria allein, es soll um den Mord am ehemaligen Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, gehen. Sie fürchtet, es könnte gefährlich werden, aber dann eilt ihr Vater ihr zur Seite, ebenso wie Katja, die Adoptivtochter eines ehemaligen Stasi- und späteren CIA-Agenten. Es wird gefährlich.
Eigentlich eine gute Idee. Aber nicht gut geschrieben: Nervige Dialoge, mit denen Hintergründe erklärt werden (33 u.ö.), häufig weiß man auch nicht, wer gerade spricht, der Text ist schlampig gesetzt (38, 59 u.ö., aber das war wohl der Verlag), Rechtschreibfehler (9: verfuckt, 43: Niemand anderem statt niemand Anderem, etc.) unglückliche Wortwahl (45: ein Klaus Schwimmer ist untergetaucht), logische Fehler (49: sie nimmt einen zweiten Schluck Wein und hält dann plötzlich inne, aber 50: der Kellner greift nach dem leeren Rotweinglas; 23: sie findet ihren schwarzen Lammfellmantel in einer Umzugskiste, 59 erinnert sie sich an einen Lammfellmantel, der in einer der Kisten liegen müsste, die noch nicht ausgeräumt waren.) Am Ärgerlichsten ist das Frauenbild, ständig kommen Väter und helfen ihren erwachsenen unwissenden Töchtern; die Personen sind unglaubwürdig. Die Lektüre machte keinen Spaß, ich habe auf S. 109 aufgegeben. Nervig.
September 2022
Kunst in StuttgartAm 29. September eröffnete Kunsthistorikerin Stefanie Sauerhöfer im Haus der Wirtschaft in Stuttgart die Ausstellung "WEGE - Nordsee" von Müller & Sohn. Irene Müller und Diethard Sohn reisten ins Wattenmeer und ließen Wind und Meer mit Tüchern und Netzen spielen. Sie nähten und zeichneten, filmten und malten, schnitten, sägten und klebten. Was so alltäglich klingt, mündete nun in eine beeindruckende multimediale Schau eines Mikrokosmos aus Fischen, Stoffen, und noch viel mehr, überraschend und überwältigend. Nichts wie hin! Bis zum 27. Oktober, Montag bis Freitag, 10 bis 18 Uhr.
Kunst in BerlinDie Berliner Gemäldegalerie zeigt derzeit die Ausstellung "Donatello. Erfinder der Renaissance". Sie war zunächst in Florenz zu sehen, ist noch bis zum 8. Januar 2023 in Berlin, und danach geht sie nach London. Donatello lebte von 1386 bis 1466 und war einer der Begründer der italienischen Renaissance, er verband mittelalterliche Tradition und wissensorientierte Weltanschauung. Beeindruckend die Skulpturen von David, die Reliefs, die Arnbeit mit Perspektiven. Aber wirlklich unvergesslich ein überlebensgroßer Pferdekopf, Fragment eines unvollendeten Reiterdenkmals. Es ist so unheimlich, dass mir bei dem Anblick eine Gruselgeschichte einfiel, in der es um ein Pferd mit Zauberkräften ging. Dabei ist die Lektüre sicherlich 40 Jahre her. Aber Donatellos Pferdekopf wirkt wie ein entsetzlich lebendiges Riesenwesen.
Kunst(gewerbe) in HamburgNoch bis zum 31. Oktober zeigt das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg die Ausstellung "Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion". Mehr dazu hier.
Neue KrimisWolf Haas, Müll. Wien, ein Müllplatz, ein Knie taucht auf. Ausgerechnet in Wanne 4, indiehinein nur Sperrmüll gehört. Die Müllmänner machen sich auf die Suche und finden weitere Körperteile, nur ein Organ fehlt, was aber anfangs niemand bemerkt. Dann kommt die Polizei - und einer der Polizisten erkennt in einem der Müllmänner seinen früheren Ausbilder, Brenner. Der ist seit Jahren nicht mehr bei der Polizei, seitdem wurstelt er sich so durchs Leben und muss wider Willen lauter Kriminalfälle lösen. Nun arbeitet Brenner auf einem Müllplatz, lernt eine junge Dame namens Iris kennen und eine ältere Frau, die Juristin ist, und muss sich mit den Unterschieden in der Gesetzgebung zu Organspende in Deutschland und Österreich auseinandersetzen. Ein herrlich skurriler Krimi, wie schon seine Vorgänger in der Reihe um Ex-Polizist Simon Brenner. Das fängt schon beim Tonfall an: Der Erzähler erzählt nicht nur, sondern kommentiert dauernd die Geschehnisse, indem er den Leser anspricht ""frage nicht", "ja was glaubst du", und so weiter. Genau so absurd die Körperteile in den Müllwannen, in die sie nicht hineingehören. Und trotzdem eine ernsthafte Geschichte, in der es um Wohnungsnot, Organspende und letztlich den Umgang mit Schuld geht.
Toller Krimi.
Max Annas, Morduntersuchungskommission - Der Fall Daniela Nitschke. Dies ist der dritte Band der Reihe um Oberleutnant Otto Castorp - inzwischen in Berlin - und die Morduntersuchungskommission. Annas erzählt drei Geschichten parallel, sie sind miteinander verflochten: Castorp seine Kollegen recherchieren zwei Morde, an einem einzigen Tag wurden zwei Leichen gefunden, ein Besucher aus dem Westen und eine Bürgerin der DDR. Die Stadt ist unruhig, Ronald Reagan sagt öffentlich zu Gorbatschow "Tear down this wall", die Menschen drängeln sich an der Mauer, und zumindest der Westler scheint mit Südafrika und dem ANC zu tun gehabt zu haben. Erika Fichte arbeitet bei der Stasi, und obwohl sie "bloß" Sekretärin ist, wird sie damit beauftragt, dem Verschwinden ihres Chefs nachzuspüren. Und ein schwarzer Jazzmusiker, Bassist Billy Ndlovu, bemerkt bei einem Konzert, dass er von einem Buren verfolgt wird.
Der Krimi ist sehr spannend, das Thema unbekannt - wer weiß schon von den Beziehungen zwischen DDR und Südafrika/ANC?! Dieses Buch unterscheidet sich von den beiden ersten Bänden der Serie: Annas erzählt eine Geschichte von Politik und Verrat aus drei Perspektiven. Zum ersten Mal tritt ein Ich-Erzähler auf. Und im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Bänden ist dieser hier kein Roman über einen tatsächlich ermordeten Menschen - zumindest geht es zunächst aus nichts hervor. Dennoch ist das Buch düster, viel mehr als die vorangegangenen Bände. Toller Krimi. Josef Kleindienst, Mein Leben als Serienmörder. Ein Mann, eigentlich Schriftsteller, bekommt ein Angebot: Er soll den Serienmörder in einem Film spielen. Aber irgendwie behagt es ihm nicht, es wird ihm regelrecht unheimlich: Alle Menschen halten ihn für die passende Besetzung - warum bloß? Dann findet er heraus, dass seine Rolle ein reales Vorbild hat - der echte Serienmörder sitzt im Gefängnis und schickt ihm einen Brief. Tja, und dann, nach Abschluss der Dreharbeiten, gehen die Leute vom Film feiern. Und - danach? Der Erzähler weiß nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist. Er weiß bloß, dass er mit dem Produzenten unterwegs war. Und dann wird die Leiche einer Prostituierten gefunden. Der Ich-Erzähler hadert mit seiner Rolle, und eigentlich auch mit seinem Leben, er lässt sich treiben. So verreist er mit einer Franziska, aber es scheint die beiden nichts wirklich zu verbinden. Dann nimmt er des Geldes wegen eine Rolle an, vor der er sich fast ein wenig zu fürchten scheint. Er trifft Menschen, ohne das ihm das wichtig zu sein scheint. Man könnte denken, das sei langweilig, aber tatsächlich hat Josef Kleindienst einen sehr originellen und überaus komischen Krimi geschrieben. Ein Mann stößt zu den Dreharbeiten und frage, was denn gedreht werde. "´Ein Krimi, Ich bin übrigens der Mörder.` ´Ach, Sie sind berühmt?`" Der vermeintliche Mörder stolpert von einer komischen Situation in die nächste, tut was man ihm sagt und versteht nichts von dem, was ihm geschieht. Ist er der Mörder? Letztlich stellt der Krimi auch die großen Fragen nach Erinnerung und Identität. Sehr gut.
Ingo Bott, Falsche Zeugen. Der zweite Fall der Anwälte Dr. Anton Pirlo und Sophie Mahler: Sie sollen Faruk Maliki verteidigen - der gehört zum albanischen Maliki-Clan und soll den rechten Rocker Rainer Waßmer erstochen haben. Alles spricht gegen ihn - die beiden hatten sich öffentlich gestritten, Maliki hatte Waßmer bedroht, und dann liegt Waßmer tot da mit einem Messer im Laub, Maliki kniet vor ihm - und versuchte zu helfen, sagt er. Schwierig genug, und dann habe Pirlo und Mahler auch noch privates Chaos: Irgendwie hat Pirlos Familie, selber ein Clan und ängstlich von ihm geheim gehalten, die Finger im Spiel, und eine sehr attraktive Frau taucht auf und verdreht ihm den Kopf. Sophie Mahlers Star-Anwalt-Vater will sie als Nachfolgerin, und ihr Freund will sich unbedingt mit ihr verloben. Der Fall zieht sich von November bis März, und wie schon im ersten Pirlo-Band gibt das Strafverfahren die chronologische Struktur des Krimis. Das ist ungewöhnlich und ein Markenzeichen des Autors, der selber promovierter Jurist und Fachanwalt für Strafrecht ist. Er achtet darauf, dass die juristischen Details stimmen, und das ist nicht nervig, sondern richtig gut - Schluderei oder Schummelei in Fachfragen kommt bei vielen Autoren vor und dabei wird der Leser verarscht. Bott dagegen arbeitet sorgfältig und es macht Spaß, das Ergebnis zu lesen. Pirlo und Mahler sind beide attraktiv und haben ein etwas chaotisches Privatleben. Es knistert zwischen ihnen- aber man arbeitet doch miteinander! Im ersten Band war Mahler die blutige Anfängerin, in diesem Band ist sie deutlich gereift, und irgendwann hat sie einen Stick mit Informationen und muss eine Entscheidung treffen zwischen einerseits dem Fall und andererseits, ja, Pirlo und ihrem Vater. Wieder: sehr spannend, sehr lustig, und es liest sich im Stakkato, auch wenn dieser Stil in diesem Band gelegentlich ein wenig übertrieben wirkt, der letzte von mehreren Stakkato-Sätzen könnte auch mal wegfallen. Trotzdem: Ich bin gespannt auf Pirlo/Mahler Nummer 3: Soll im August 2023 erscheinen. Weiter so! Sehr gut.
August 2022Neue Krimis
Sybille Ruge, Davenport 160 x 90. Sonja Slanski betreibt in Frankfurt eine Inkassofirma, hat einen Loft und einen Liebhaber, einen russischen Oligarchen-Stiefvater und eine mercedessternförmige Narbe unter dem Auge, und sie boxt. Eines Tages betritt eine sehr elegante Dame ihr Büro und entpuppt sich als die Frau ihres Liebhabers. Die Dame beauftragt Slanski damit, eine kriminelle Anwaltskanzlei zu ruinieren, weil die sie in einer Patentangelegenheit betrogen habe. Slanski erpresst den Anwalt und erledigt den Auftrag. Dann taucht plötzlich eine junge Frau auf, Künstlerin, vielleicht Pornographin, die Slanski nähersteht, als diese denkt. Aber eines Tages liegt die junge Frau tot in Slanskis Atelier. Ermordet. Womöglich war Slanski gemeint.
Sybille Ruge hat ein mehr als ungewöhnliches Debut hingelegt. Tolle Geschichte, toll geschrieben: Rasanter Ton, ungewöhnliche Formulierungen (33: "Ihre Stimme hob sich leicht ekstatisch und sägte mir durch den Kopf"), Gesellschaftskritik, die so böse und lustig ist, dass sie nicht nervt, Selbstcharakterisierungen, nicht immer nur sympathisch aber witzig (111: Herkunft des Longboards). Man hofft und bangt mit ihr, und als sie am Schluss die post mortem-Ausstellung der Getöteten besucht, stockt einem angesichts des Ausstellungsstückes der Atem. Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und hoffe auf weitere Bücher von Ruge! Toll. Kerstin Ruhkieck, In deinen Augen der Tod. Olivia Bloch überlebt eine Geiselnahme, die für die anderen Beteiligten tödlich verläuft. Sie entwickelt ein Trauma und kehrt in ihr Heimatdorf zurück. Die Medien hatten sie verdächtigt, mit den Geiselnehmern gemeinsame Sache gemacht zu haben, und nun, im Dorf, sind die Menschen misstrauisch. Olivia Bloch hat das Gefühl, sie wird beobachtet, und irgendjemand scheint in ihrem Haus ein- und auszugehen. Die hochschwangere Tokessa taucht plötzlich auf und scheint ihre Hilfe zu brauchen. Ihr alter Verehrer Malte, inzwischen Journalist, will über sie schreiben. Olivia Bloch dagegen sucht verzweifelt nach ihrem besten Freund aus ihrer Jugendzeit, der vor ein paar Jahren plötzlich verschwunden war. Sie hat ein Geheimnis, und dem muss sie sich stellen.
Kerstin Ruhkieck hat einen höchst spannenden Thriller vorgelegt. Der Plot ist sehr intelligent konstruiert, das wirkt nicht konstruiert - das Buch zieht einen in seinen Sog. Man fragt sich, was Olivia Bloch in ihrem Heimatdorf eigentlich will, warum sie ihren alten Freund sucht. Mit der Zeit wird dann klar, warum - und das ist äußerst unheilvoll. Manchmal weiß der Leser mehr als die Protagonistin, manchmal weniger, und ein paarmal kommt ein Dreh in die Geschichte, der mehr als überraschend ist. Und das Ende gibt zu denken. Sehr gut. Wolfgang Hohlbein, Verderben - Kinder des Zorns. Wolfgang Hohlbein erzählt zwei Geschichten parallel. Deutschland: Kommissarin Conny Fesser ist auf den ukrainischen Gangsterboss Maxim Kutzow angesetzt. Der veranstaltet eine Vernissage (er ist nicht nur attraktiv, sondern auch vielseitig) und dort entdeckt die Polizistin ein sehr junges Mädchen in überaus aufreizender Kleidung. Sie glaubt, dass es nicht freiwillig dort sei und will es befreien. Das ist aber nicht so einfach und sie stellt fest, dass sie ausgerechnet Kutzows Hilfe braucht. Russland: Marc und seine beiden Freunde Alex und Ben besichtigen St. Petersburg, kaufen Marihuana - und das geht schief. Sie flüchten in die U-Bahn-Tunnel und machen dort eine Entdeckung, die sie in größte Gefahr bringt. Im Buch wechseln sich die beiden Geschichten kapitelweise ab, bis Hohlbein sie verbindet, und diese Verbindung ist mehr als überraschend.
Ein sehr spannender Thriller mit ein paar spektakulären Wendungen. Es geht auch um Politik, aber es ist nicht die Politik, die der Handlung den eigentlichen Sinn gibt, wie etwa bei Krimis von Wolfgang Schorlau oder Frank Göhre: Sie malt eher den Hintergrund für das Geschehen. Man bangt mit Conny Fesser, mit Marc, und man fragt sich, was das Geheimnnis des jungen Mädchens sein mag. Das Lesevergnügen wird allerdings getrübt durch ein paar Ungenauigkeiten (13: ein Traum von einem Frauenhaus! - Wie aber wird das finanziert? Und das Licht von Handy und Taschenlampe in den St Petersburger U-Bahn-Tunneln wird ewig lange schwächer, bis man sich hofft, dass dies verflixte Ding endlich ausgeht, nur damit man nichts mehr davon lesen muss.) Manche Wörter stimmen nicht 96: montieren, 199: Klopfbewegung; und der Autor sollte mindetens die Hälfte seiner Adjektive durch Beschreibungen ersetzen (126: verrüc kte Laute 126). An einigen Stellen fragt man sich, ob es ein Thriller ist und nicht auch etwas von Phantastik hat, was, finde ich, nicht passt. Trtotzdem: Tolle Konstruktion, ein spannendes Buch. Gut.
Helga Glaesener, Das Kind der Lügen. Hamburg, 1929. Die Hamburger Polizei hat eine Frau des Mordes überführt, sie wird verurteilt und hingerichtet. Signe von Arnsberg, wohlhabend, erscheint bei der Hamburger Polizei und meldet ihre kleine Tochter als vermisst: Diese sei nach einem Spaziergang mit ihrer Kinderfrau nicht ins Hotel Atlantic zurückgekehrt. Da von Arnsberg schon öfter bei der Polizei aufgetaucht war und immer ziemlich hysterisch war, nimmt man sie erst einmal nicht für voll. Nur Paula Haydorn, die seit einem Jahr eine der ersten weiblichen Beamten im Polizeidienst ist, glaubt ihr. Dann aber wird ihre Kollegin und gute Freundin Cora überfallen, ihr Vorgesetzter entgeht nur knapp einem Unfall. Mit der Zeit entwirren sich ein Gespinst von Unheil, das man nicht erwartet hätte.
Nach "Die stumme Tänzerin" ist dies der zweite Band um Paula Haydorn, die "aus gutem Hause " stammt und von ihren Eltern umabhängig sein will. Beim ersten Band fand ich die Figuren etwas hölzern, diesmal sind sie viel lebendiger. Glaesener erzählt mehr von ihrem Hintergrund, den Gründen für manchmal befremdliches Verhalten. Die Geschichte entfaltet sich auf dem Hintergrund der damaligen bürgerlichen Doppelmoral und man sieht, alles ist noch viel schlimmer als man ursprünglich gedacht hatte. - Ein seltsames Zusammentreffen: Meine Eltern lebten in Hamburg und waren im Jahr 1929 so alt wie das entführte Kind im Roman. Das hatt mich beim Lesen begleitet.
Gut.
Juli 2022
Neue KrimisJürgen Tietz, Berliner Monster. Berlin, Frühjahr 1947. Hans Adler ist ohne seinen linken Arm aus Russland zurückgekehrt und arbeitet wieder als Polizeikommissar. Berlin ist eine Trümmerlandschaft, Adler ist in einer Laube untergekommen. Es ist kalt, die Menschen hungern und frieren. Und nun wird schon die dritte Kinderleiche innerhalb weniger Monate geborgen. Adler recherchiert überall, aber es ist schwierig: Keines der drei Kinder wird vermisst, sein Chef scheint von Moskau gesteuert und eines Nachts stehen amerikanische GIs in Adlers Laube und nehmen ihn mit. Und dann verschwindet ein viertes Kind. Jürgen Tietz ist ein spannender Krimi gelungen, der den Leser in die harte Nachkriegszeit mitnimmt: Man hungert und friert mit Hans Adler, erschrickt über den Überfall durch die GIs und bangt vor den Russen. Man ist erleichtert über die modernen Zeiten und das gute Leben im heutigen Berlin - und denkt unwillkürlich an die Menschen in der Ukraine im Krieg, heutzutsge ist ein Krimi, der in einem (Nach-) Kriegsgebiet spielt, besonders schwer zu ertragen. Nur wenig ist zu bemängeln: Man "lacht" keine Sätze (161 und noch viel öfter), sondern man "sagt" etwas. Mehrere Krimis, die ich in den vergangenen Wochen gelesen habe, haben diesen Lapsus, dabei ist dies so ziemlich das erste, was einem im Volontärskurs (oder Schreibtraining?) beigebracht wird. Und ein Vogel hat kein Maul, sondern einen Schnabel (277), Kraniche schnattern nicht (das tun Gänse), sondern sie trompeten (302). Trotzdem: Ein Krimi, der sich lohnt. Gut bis sehr gut. Karina Ewald, Bitterwasser. Carolin Halbach übernimmt die Leitung der Bibliothek im neuen Kulturzentrum Bad Gastein. Aber dann, bei der feierlichen Eröffnung, wird der Chefarzt der Kurklinik ermordet. Die Häppchen waren vergiftet. Die Polizei vermutet Sabotage - schließlich war das Kulturprojekt bei den Gasteinern ziemlich umstritten. Dann wird eine Mitarbeiterin von ihr verhaftet. Carolin Halbach dagegen glaubt an ihre Unschuld. Und sie vermutet einen gezielten Anschlag. Doch auf wen, wenn so viele Häppchen vergiftet waren? Der nette Polizist glaubt ihr nicht so recht, also recherchiert sie einfach selbst. Und gerät dabei in größte Gefahr. Ewald hat einen kurzweiligen Krimi geschrieben. Zwar nicht immer ganz logisch (dass Halbach manche Beobachtungen, Geschehnisse etc. der Polizei nicht meldet, ist unter den beschriebenen Umständen eigentlich unwahrscheinlich (162, 200, 257ff)). Und, eine Stilfrage, warum wird Carolin Halbach immer beim Vornamen genannt? Dennoch, es ist eine schöne Geschichte mit hauptsächlich netten Charakteren, einem malerischen Umfeld aus Bergen und Belle Epoque-Bauten und ein paar attraktiven Männern, die an der Protagonistin Interesse zu haben scheinen. Außerdem ist mir der Krimi schon deshalb sympathisch, weil er Partei nimmt für Kulturzentrum und Bibliothek, und gegen Disko und schnelles Geld. Kurz: Ein Krimi, der leicht zu lesen ist und Spaß macht, für ein verregnetes Wochenende. Ziemlich gut. Dina El-Nawab und Markus Stromiedel, Zusammen stirbt man weniger allein. Lizzi Bergmann ist eine Anwältin, die gern aneckt. Und als sie nach einem langen Arbeitstag in der Kanzlei (Anpfiff vom Chef) und drei Stunden in einer nahe gelegenen Kneipe (zwei Bier und ein Caipirinha) nach Haus kommt, überrascht sie ein attraktiver Mann in ihrer Wohnung und behauptet, ihr Vater habe ihn engagiert, um auf sie aufzupassen. Nicht umsonst: Lizzis Vater ist verschwunden und irgendjemand scheint zwei Profikiller auf Lizzi angesetzt zu haben. Die Anwältin und der Personenschützer machen sich auf die Suche. Ein rasanter Plot, der Spannung verspricht: Eine hochfahrende Anwältin, ein attraktiver Personenschützer und ein verschwundenener Vater, der anscheinend eine ganze Reihe Geheimnisse vor seiner Tochter hatte. Man möchte wissen, was dahintersteckt und wie es weitergeht. Das Ganze könnte ein spannendes Drehbuch geben, aber für einen fesselnden Krimi ist es nicht gut genug geschrieben: "Ständig behauptete ihr Vater, dass er sie liebte. Aber was bedeuteten schon schöne Worte? Da war es wieder, das bedrückende Gefühl der Einsamkeit..." (28) Man "lächelt" keine Sätze (50). Und so weiter. Lizzi ist in nervtötender Weise überkandidelt, der Personenschütze zu brav. Immerhin: Lustig eine Szene wie der Dialog, als Lizzi den Polizeinotruf wählt und sich ein Missverständnis entspinnt (46f). Vielleicht kommt noch mehr Gutes dazu, ich schaffte es bis Seite 105. Aber eigentlich hoffe ich auf einen spannenden Film - die beiden Autoren sind erfolgreiche Drehbuchautoren.
Nicht so gut.
Ivar Leon Menger, Als das Böse kam. Juno, 16 Jahre alt, lebt mit Mutter, Vater und dem kleinen Bruder Boy auf einer Insel. Wenn einmal im Monat Onkel Ole zu Besuch kommt, müssen die Kinder sich verstecken. Und nur der Vater darf die Insel einmal im Monat zum Einkaufen verlassen. Die Eltrn sagen, dass auf dem Festland Fremdlinge leben, sie würden die Familie töten. Darum gibt es einen verborgenen Schutzraum mit Vorräten, darum müssen die Kinder regelmäßig üben, sich zu verstecken. Aber dann entdeckt Juno einen jungen Mann auf der Insel. Auch dieses Buch hat einen tollen Plot: Eine Familie, die vollkommen zurückgezogen auf einer Insel lebt und von irgendwem oder irgendetwas bedroht wird. Man fragt sich, worin die Bedrohung besteht , einmal gibt der Vater Juno eine Erklärung (66), aber stimmt sie? Und warum kommt der Vater einmal besudelt mit Blut nach Hause? Das sollte eine spannende Geschichte sein, aber das Buch zieht nicht mit, Junos Bravheit und Naivität wären eigentlich nachvollziehbar, aber sie wirken nicht glaubwürdig, und ihre einsetzende Pubertät auch nicht (56), ebensowenig viele Handlungen (läuft nachts im Nachthemd raus, 71ff, 87, schlingt die Arme um den Körper und läuft, 73) Ich habe es bis Seite 122 gelesen. Nicht so gut.
Juni 2022Neue KrimisHenri Faber, Kaltherz. Marie, fünf Jahre alt, ist verschwunden. Dabei war ihre Mutter Carla nur acht Minuten fort gewesen. Nun ist Carla völlig durch den Wind und ihr Mann Jakob ihr gegenüber eiskalt. Kommissarin Kim Lansky war eigentlich rausgeflogen, aber ihr Kinderfreund Theo Rizzi, auch bei der Polizei, engagiert sie wieder. Nun arbeitet sie in der Vermisstenabteilung und macht sich daran, das Rätsel um die kleine Marie zu lösen. Schon mit "Ausweglos" hatte Henri Faber einen sehr spannenden Thriller vorgelegt, in dem die Beteiligten aus ihrer Sicht den Ablauf der Ermittlungen schildern, bis zur sehr überraschenden Auflösung am Schluss. Das bewährte Rezept greift er in Kaltherz wieder auf: Auch dieser Thriller ist klug konstruiert und sehr spannend, hat keinen übermäßigen Tiefgang, aber liest sich sehr gut. Rund 400 Seiten Lesevergnügen. Wolf Harlander, Schmelzpunkt. Es ist zu warm in Grönland. Nanoq Egede, Touristenführer, findet bei einem Ausflug sehr viele tote Fische. Ein Gletscher kalbt und überflutet ein Dorf. Die deutsche Wissenschaftlerin Hanna Jordan reist in den Norden und bestätigt, dass die gefundenen Fische keines natürlichen Todes gestorben sind. Die Wirtschaft mischt sich ein. Und die Politik - Russen und Chinesen sind vor Ort und niemand durchschaut ihr Spiel. Tolles Thema, toller Plot, viel Abwechslung zwischen den "Spielorten" Grönland, Island, Bremerhaven, Berlin... Nur die Figuren bleiben irgendwie blass. Man wird nicht warm mit ihnen, fühlt und bangt nicht mit - dabei sind sie eigentlich spanned, vor allem Nelson Carius, der beim BND angeheuert hat, um dem seltsamen Verschwinden seiner Eltern nachzuspüren, und der, genau wie seine Kollegin Diana Winkels, auch schon bei Harlanders "Systemfehler" dabei war.
Bert Lignau, Singende Barsche. Bert Lignau erzählt seit November 2008 jeden Monat einen alten Kriminalfall aus Mecklenburg und Vorpommern im "kulturkalender" des Klatschmohn Verlages. Im Jahr 2016 wurden 48 Fälle auch als Buch veröffentlicht, mit dem vielsagenden Titel "Rübe ab! Der kriminelle Reiseführer durch Mecklenburg und Vorpommern" - seitdem ein Bestseller des Verlages. Das vorliegende Buch, "Singende Barsche" ist die Fortsetzung, auch in seiner Eigenschaft als Reiseführer, die 62 Fälle sind kapitelweise nach Gegenden geordnet und hinten befindet sich eine ausklappbare Landkarte mit den Tatorten. Lingnau hat seinen Geschichten zur Einordnung eine kleine Illustration vorangestellt: Einen roten lachenden Barsch bei einer lustigen Erzählung, bei einer bewegenden dagegen einen weinenden schwarzen Barsch. So eine Führung kann man mögen, man kann sie aber auch als bevormundend empfinden. Von heutigen Lesern sollte man ohnehin erwarten können, dass sie in der Lage sind, sich selber ein Urteil bilden. Ich konnte das Urteil des Autors auch nicht immer nachvollziehen: Ein fälschender Notar mag lustig sein, aber dass er zum Tode verurteilt wurde, definitiv nicht (76ff); genausowenig die Hinrichtung eines rauflustigen Schankwirts (110ff). Auch der humorige Ton ("Die Flammen beleuchten hübsch die Szenerie und sind weder mit Wasser noch mit Bier zu löschen." 112) ist nicht jedermans Sache. Dennoch bietet das Buch kurzweilige Episoden aus der Geschichte der Gegend; es ist ein ungewöhnlicher Reiseführer durch Mecklenburg-Vorpommern.
Mai 2022
Neue KrimisKerstin Ehmer: Der blonde Hund. Berlin, 1925. Ein Mann öffnet die Tür zu einem Zwinger voller Dobermänner. In einem Kanal treibt ein Toter, im Leben Journalist des Völkischen Beobachters. Menschen gehen zu Wahrsagern - auch die Frau von Spiros Kollegen Bohlke, auch Spiros Freundin Nike. Der Nationalsozialismus liegt in der Luft. Manche Menschen sind Morphinisten. Viele scheinbar einzelne Gegebenheiten sind in Wahrheit Teil eines größeren Gebildes, eines unguten Gebildes. Diese Zusammenhänge sind zugleich Stärke und Schwäche des Buches. Einerseits ist der geschichtliche Hintergrund spannend, unheilvoll, und Kommissar Spiro, dem politischerseits Steine in den Weg gelegt werden, hat alle Sympathien. Andererseits wird gelegenlich auf Hitler verwiesen, ohne dass der Name genannt würde, so dass man sich manchmal fast fragt, ob dieser Massenmörder nicht der Illustration dient. Der aufkommende Nationalsozialismus wirkt bedrohlich, ja, er ist Teil der Handlung, dennoch wirken manche Anspielungen gekünstelt. Insgesamt aber bin ich gespannt auf weitere Fälle - "Der blonde Hund" ist nach "Der weiße Affe" und "Die schwarze Fee" der dritte Fall um Kommissar Spiro. Eberhard Michaely: Frau Helbing und der tote Fagottist. Frau Helbing und der verschollene Kapitän. Frau Helbing und die schwarze Witwe. Die "schwarze Witwe" ist Frau Helbings dritter Fall. Auf dem Plan getreten war Frau Helbing, als Henning von Pohl, Fagottist, in ihr Haus zog und sich dieser Nachbarschaft nur kurz erfreuen konnte, denn er starb sehr bald. Drei Wespenstiche in die Fußsohle können einem Allergiker sehr leicht den Garaus machen. Die Polizei, allen voran die hochnäsige Frau Schneider, wollten den Fall zu den Akten legen. Aber Frau Helbing liest, seit sie in Rente und ihr Mann tot ist, viele Kriminalromane und war sicher: Herr von Pohl wurde ermordet. Was soll man sagen? Frau Helbing hat natürlich alles aufgeklärt! Frau Helbings zweiter Fall führte die ehemalige Fleischereifachverkäuferin ins Pflegeheim. Eigentlich wollte sie bloß ihre ehemalige Nachbarin besuchen. Aber dann begegnete sie Fiete Jacobsen, dem früheren Anglerfreund ihres verstorbenen Mannes. Und kaum verließ Frau Helbing das Pflegeheim, stürzte Fietes Betreuerin aus dem Fenster und starb, direkt neben Fau Helbing. Und dann verschwand Fiete - ausgerechnet aus dem "Silbersack" in Sankt Pauli. Frau Helbing ging wieder auf Recherche und die Polizei konnte nicht verhindern, dass sie auch diesmal wieder alles aufklärte. Und nun der dritte Fall: Herr Aydin hat Magen-Darm. Herr Aydin ist der Änderungsschneider, der die Räumlichkeiten übernommen hat, in denen Herr und Frau Helbing früher ihre Fleischerei führten. Nun besucht Frau Helbing immer Herrn Aydin, um bei ihm eine Tasse Tee zu trinken. Und als er krank ist, vertritt sie ihn. Dabei bekommt sie mit, dass der neue und nichtsnutzige Hausbesitzer die Mieten erhöht und die alten Bewohner rauszuekeln versucht. Und dann, tja dann verstirbt der Besitzer. Angeblich ein Autounfall, aber Frau Helbing weiß bald mehr! Die Bücher um Frau Helbing sind nette harmlose Krimis mit viel Hamburger Lokalkolorit. Eberhard Michaely hat viel Sinn für Situationskomik (Frösche küssen S. 114 ff). Man kann gar nicht andes, als Frau Helbing zu mögen. Schon weil sie immer etwas Sellerie zum Kartoffelstampf hinzufügt. Alle drei Bände sind gut, ich habe sie sehr gern gelesen, aber der dritte Band scheint ein bisschen unter Zeitdruck produziert worden zu sein, sie "hatte sich [...] festgelegt gehabt" ist falsch (S. 86) und Uwes plötzliches Geständnis (123) ist unglaubwürdig, und "Maximum an Interpretationsmöglichkeit" ist wohl kaum die Ausdrucksweise in Frau Helbings Gedanken (S. 141) - wobei mir die Idee mit Hugo Balls Lautgedicht allerdings sehr gut gefiel. Ich hoffe auf viele weiter Krimis um Frau Helbing - und lieber Herr Michaely und lieber Kampa-Verlag: Genießt den Erfolg und lasst Euch Zeit! Frau Helbing hat nur das beste verdient!
April 2022
Neue KrimisJan Costin Wagner: Am roten Strand. Ben-Neven-Krimi Nummer 2: Das Ermittlerteam um Ben Neven und Christian Sandner hat ein entführtes Kind befreit und einen Täter gefasst. Aber damit ist der Fall nicht gelöst, denn nun finden sie Hinweise auf ein Netzwerk von Tätern, die sich im Internet organisieren. Neven und Sandner ermitteln und setzen den ersten Verdächtigen in Untersuchungshaft. Aber der stirbt. Auch ein weiterer Verdächtiger stirbt. Nun müssen die Polizisten Täter schützen. Und ein Polizist muss sich selbst - oder andere vor ihm - schützen. Wagner schreibt aus verschiedenen Perspektiven, lässt mehrere Menschen berichten, ohne dass man immer weiß, wer diese Menschen sind. Schon das ist anspruchsvoll. Und er schreibt über etwas, das nicht sein darf. Dabei bleibt er aufrichtig, ehrbar - wie soll man es beschreiben? Wagner verzichtet darauf, den Leser zum Komplizen der Täters zu machen, obwohl man mitfühlt. Es geht bei diesem Krimi nicht um Nähe und Distanz, sondern um Urteilsfähigkeit auch in der Nähe, also gegenüber Personen, mit denen man als Leser mitfühlt, gegenüber einem Polizisten und auch gegenüber der Freundin eines anderen Polizisten. Wagner hat ein schwieriges Thema aufgegriffen. Und dann ist er auch noch sehr spannend. Toller Krimi. Alfred Bodenheimer: Mord in der 29. Straße. Jerusalem, Corona-Lockdown. Die Knesset-Abgeordnete Ruchama Wacholder und ihr Mann Gil werden auf offener Straße erschossen. In der Straße des 29. November, die an das Datum im Jahr 1947 erinnert, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen für die Teilung Palästinas und somit die Errichtung von zwei Staaten stimmte. Ein Mord aus Islamismus? Aus Parteipolitik? Die Polizeipsychologin Kinny Glass will ermitteln, dabei belastet sie der Fall seelisch: Ihr Ex-Mann Ariel hatte mit Gil zusammengearbeitet. Und dann will der Inlandsgeheimdienst übernehmen. Glass hat einen Ex-Mann, eine erwachsene Tochter, gelegentlich einen Liebhaber - wie tief das geht, das weiß sie selber nicht so genau. Der Lockdown ist angeordnet. Die Tochter bekommt den ersten Job, die Mutter vermutet, per Protektion, womit sie nicht glücklich ist: Viel Drumherum. Bodenheimer, Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte, hat schon mehrere Krimis verfasst: Sechs Bücher um Rabbi Klein, der in Zürich die Nase in die Polizeiarbeit hineinsteckt. Jetzt hat er mit Kinny Glass die Hauptperson und mit Jerusalem den Ort gewechselt. Glass ist eine moderne Frau, Israel ein moderner Staat. Aber es hakt an so vielen Stellen, es knirscht. Und dann diese Morde mitten im Lockdown. Wer war der Täter, was war das Motiv? Diese Spur wird verfolgt, jene Spur wird verfolgt, erst ganz am Schluss kommt alles raus. Die Spannung hält, man mag Kinny Glass, vielleicht hat sie ein paar Baustellen zu viel, aber alles ist stimmig, sie ist sympathisch und man bangt mit ihr. Sehr gut bis gut. Mark Benecke: Viral. Blutrausch. Bastian Becker hat Alpträume. Der ehemalige Polizist wirft sich falsches Verhalten und damit die Schuld am Tod eines Menschen vor. Er hat den Polizeidienst quittiert und ist Ermittler geworden. Manchmal wird er von seiner alten Chefin engagiert. So auch diesmal: Die Leiche einer jungen Frau wurde gefunden, und ihr fehlt fast das ganze Blut. Dann geschieht ein weiterer Mord, mehr: Eine ganze Mordserie erschüttert die Stadt. Becker und seine Partnerin Janina Funke machen sich an die Recherche. Aber sie werden behindert, und zwar von ganz oben. Das Setting für diesen Krimi ist wirklich ungewöhnlich - genaueres soll hier nicht verraten werden. Autor Benecke, seines Zeichens Kriminalbiologe, hat sich auch im wirklichen Leben mit dieser Szene beschäftigt und dazu diverse Interviews gegeben. Er hat mehrere Sachbücher verfasst, diesen Kriminalroman schrieb er zusammen mit dem Journalisten Dennis Sand (Riva Verlag). Trotz Benekes Hintergrund und der Zusmmenarbeit mit einem professionellen Schreiber wirkt dieses Buch über weite Strecken etwas bemüht. Etwa, wenn Querdenker-Demonstrationen beschrieben werden - eigentlich nicht wichtig für die Handlung, ebensowenig Bastian Beckers Gedanken darüber: Politik wirkt wie Staffage. Und dass ein Minister auf der Polizeistation auftaucht, um einzugreifen (S.61f.), ist mehr als unwahrscheinlich, seit wann kommt der Berg zum Propheten. Die Autoren achten darauf, "Polizistinnen und Polizisten" (S.22), "Kolleginnen und Kollegen" (S.29) und so weiter - nervtötend. Wer wissen will, wie man richtig gut gendert, sollte "Identitti" von Mithu Sanyal lesen - großartiges Buch! Beneckes Krimi ist ungewöhnlich, aber nicht besonders spannend.
März 2022Ukraine und Russland und die Möglichkeit, sich zu informieren
Angeblich unterstützen 70 Prozent der russischen Bevölkerung Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das liegt sicherlich auch an der dortigen Informationspolitik. Mit Langwellensendern könnte man russischsprachige Informationen rüberschicken. Als Alternative zum Internet, das oft gestört und zensiert wird. Zu dumm, dass Deutschland keine Langwellensender mehr hat.
Neue KrimisMatthias Wittekindt: Die Schülerin. Dies ist nach "Vor Gericht" der zweite alte Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz. Der genießt eigentlich den Ruderclub. Und dass eine gute Krankengymnastin seinen Rücken wieder hinbekommt, so dass er in seinem Garten Schwarzwurzeln stechen kann. Aber dann erzählt ihm seine Tochter Julia, Anwältin, von ihrem neuen Mandat. Und Manz kennt die Mandantin aus seiner aktiven Zeit als Polizist. Soll er seine Tochter warnen? Oder sich raushalten? Die Reihe um Manz spielt immer auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Ebene des Hier und Jetzt und der Ebene des Falles, zu Manz´ aktiver Zeit, dessen Bearbeitung nach und nach in Manz Erinnerung wieder hochkommt. Beide Ebenen sind sachlich und emotional miteinander verknüpft, und das macht alles besonders spannend. Bei diesem Fall, damals, war Manz´ Frau mit Julia schwanger und Julia wurde geboren, und Manz war vielleicht nicht ganz so aufmerksam wie normal. Und jetzt ist Julia Anwältin und Manz, der sich mit ihr gestritten hatte, erreicht eine fragile Versöhnung. Der Rückblick eine lakonische Betrachtung von Mobbing unter seltsamen Schülern auf einer seltsamen Schule und die Erinnerung an politische Korrektheit gegenüber Begriffen wie "Schwarzafrikaner", die eine Pressemitteilung erschwert, wenn die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wird und ein Mensch beschrieben werden soll. Das Jetzt der eben doch nicht abgeklärte Blick des alten Mannes. Einige Details des Berlin von 1978 stimmen nicht so ganz: Die Direktion 5 saß schon damals nicht in der Karl Marx Straße, sondern in der Friesenstraße. Und Drogenhändler afrikanischer Herkunft "arbeiten" erst in neuerer Zeit in der Hasenheide - in den 1970er Jahren waren es eher Biodeutsche, später Palästinenser. Das Ganze dürfte ein Kunstgriff sein, um die Kritik aus politischer Korrektheit gegenüber dem Gebrauch von Wörtern wie "Schwarzafrikaner" seinerseits zu kritisieren (S. 211 u.ö.) Nachvollziehbar, aber die historische "Schummelei" lässt den Leser stolpern. Aber wie dem auch sei, der Krimi ist sehr gut, spannend, vielschichtig: Wittekindt wird immer besser. Sehr gut.
Yassin Musharbash: Russische Botschaften. Die Investigativjournalistin Merle Schwalb wird nach einer Reihe richtig guter Artikel, etwa über Steuerbetrug bei Evangelikalen, befördert. Als sie im Beförderungsgespräch sitzt, in einem arabischen Imbiss in Neukölln, fällt ein Mann vom Balkon. Schwalb will darüber schriben, aber: Der Mann ist offiziell gar nicht tot. Warum wird sein Tod verschwiegen? Wer will diese Geschichte verhindern? Schwalb trommelt ein Team von investigativen Journalisten zusammen, mietet eine Unterkunft auf dem Land und sie fangen an zu recherchieren. Es geht um kriminelle Clans, Polizei, Verfassungsschutz, und - den Kreml. Und investigativen Journalismus. Es passieren merkwürdige Dinge, Hacking, Einbrüche, Shitstorms. Verrat aus den eigenen Reihen, aber von wem? Sehr spannend, sehr wichtig, und sehr aktuell. Musharbash kombiniert in sehr gelungener Weise Krimi - ein Verbrechen soll aufgeklärt werden - und Thriller - die Aufklärer geraten in Gefahr. Besonders spannend wird das Ganze, weil Musharbash eine Branche in den Mittelpunkt stellt, in dem er sich besonders gut auskennt: Investigativen Journalismus. Es geht um Journalisten, um ihre Integrität, die Recherche, die Mechanismen in großen Verlagshäusern und um Politik. Im Gegensatz zu vielen Autoren schreibt er kenntnisreich, die Geschichte wirkt glaubwürdig, es ist spannend. Und die russischen Botschaften sind leider sehr aktuell. Sehr gut.
Gloria Gray: Zurück nach Übertreibling. Vikki Victorias erster Zwischenfall. Vikki Victoria, groß, blond, glamourös und ein Münchner Star, wird gewarnt: Toni Besenwiesler ist aus dem Gefängnis ausgebrochen. Und er will sich an ihr rächen. Also muss sie sich in Sicherheit bringen. Sie flüchtet in ihren Heimatort Übertreibling, dort wird Toni sie gewiss nicht vermuten - aber plötzlich wird´s auch da gefährlich. Und zwar nicht nur für Vikki. Ein wirklich lustiger Krimi, das hat man selten. Und dann noch aus Sicht einer Transfrau, wo ein leider noch nicht ganz vorurteilsfreier Hetero doch glatt einen moralinsauren Vortrag erwartet hätte. Aber nein, das Buch macht einfach Spaß und liest sich weg wie nix. Ich bin gespannt auf Vikki Victorias nächsten Fall, nein, "Zwischenfall". Sehr gut. Wie es der Zufall so will, habe ich in diesem Monat drei Krimis gelesen, die erstens alle sehr gut waren und die zweitens - nach außen durch die Stimme ihrer Protagonisten, aber im Grunde wohl aus dem Herzen der Autoren - unterschiedliche Richtungen politischer Korrektheit kritisieren: Wittekindt lässt Polizisten der 1970er sich darüber wundern, dass sie nicht "Schwarzafrikaner" sagen dürfen (S. 211). Der Journalist Musharbash, der deutsche und jordanische Vorfahren hat, nimmt sich Clankriminalität genaus so wie Berichterstattung der Boulevardpresse darüber vor (S. 25 ff.). Und Gray, die mit 18 aus dem Bayerischen Wald geflüchtet ist, um sich als Frau und Künstlerin verwirklichen zu können, schreibt aus Sicht von Vikki Viktoria mit demselben Lebenslauf (S. 24), welche die junge Generation toll (S. 23 f. u.ö.) aber Gendern affig (S. 33) findet. - Tja: DIE dürfen das. Ja, dürfen sie. Es bedeutet viel: Es ist nicht nur gegen den Strich gebürstet, sondern man ist dankbar, es aus der Feder "solcher" Menschen zu lesen. Denn: Was ist korrekt im Sinne von richtig? Und was ist eben bloß "politisch korrekt", also klingt bloß korrekt um der Öffentlichkeit willen, ist aber im Grunde bedeutungslos? Politische Korrektheit hat nur manchmal was für sich. Oftmals wird sie übergestülpt.
Ein Beispiel mit übergestülpter politischer Korrektheit aus eigener Erfahrung: Ich habe zweimal erlebt, dass ich einen Text abgegeben habe und der ohne mein Wissen - geschweige denn meine Erlaubnis - gegendert wurde. Das unterstellt mir im günstigsten Fall Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit und im ungünstigsten Fall Desinteresse oder gar Ablehnung der Sache der Gleichberechtigung. Damit eines klar ist: Ich finde die DISKUSSION ums Gendern großartig. Ohne sie wüsste ich nichts vom generischen Maskulinum - und ziemlich viele andere Menschen auch nicht. (Als ich das Frauenboxen Mitte der 1990er Jahre gegen den damaligen Deutschen Amateurbox-Verband durchsetzte, argumentierte ein (alter weißer) Mann aus dem Verband: Im Reglement stehe "der Boxer", und der sei nun einmal männlich. Dieser Mann, der Journalist, der darüber berichtete, und ich: Keiner von uns dreien schien vom generischen Maskulinum - das Männer, Frauen, Transgender, Diverse: einfach ALLE! meint - zu wissen. Ein Vierteljahrundert später weiß ich davon. Auch dank der Diskussion.) Aber ich gendere trotzdem nicht. Ich kämpfe mit den vorhandenen Waffen. Sprich: Ich setzte mich für die Gleichberechtigung ein, indem ich darauf poche, dass das generische Maskulinum gilt. Dass alle Menschen die gleichen Rechte haben.
Ach, nicht zu vergessen: Ich hoffe auf viele weitere ebenso gute Krimis.
Februar 2022
Kultur in FrankfurtStädel Museum Frankfurt: 700 Jahre Kunst unter einem Dach. Frankfurt, und eine oder zwei freie Stunden? Nix wie ab ins Städel! Und dann: Sich treiben lassen. Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Bild „Goethe in der römischen Campagna“ mit den zwei linken Füßen und dem überproportional großen linken Bein bestaunen und sich fragen, wie dem Künstler so etwas hat passieren können – vielleicht wollte er Goethe eigentlich mit übereinandergeschlagenen Beinen malen und hat das unterwegs vergessen? Max Liebermanns „Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus“ betrachten und bemerken, dass mehrere von den jungen Waisen auch in der Freistunde sticken. Munchs „Eifersucht“ anschauen, rechts der brave Munch mit gesenktem Blick und links der vor Raserei grüne Stanislaw Przybyszewski, den die Literatin Dagny Juel, purpurrot in der Mitte, letztlich heiratete. Vor Franz von Stucks „Pietà“ mit der verzweifelten Maria vor dem toten Jesus zurückschaudern. Im Café dagegen, das Max Beckmann im „Café-Interieur mit Spielspiegel“ gemalt hat, einkehren wollen. Hat das Modell auf Ernst Ludwig Kirchner „Stehender Akt mit Hut“ die Schamhaare rasiert – ich dachte, das sei erst seit 10 oder 20 Jahren Mode. „Das Leben“ von Lise Gujer nach einem Entwurf von Kirchner ist eine großartige Wollweberei. Dann die Alten Meister: „Weibliches Idealbildnis“ von Sandro Botticelli bewundern, bei Canalettos „Ansicht des Bacino di San Marco in Venedig“ Fernweh bekommen, und sich fragen, was Tiepolos Portraitierter im „Studienkopf eines alten Mannes“ wohl erlebt haben mag – und Tizians Modell für das „Bildnis eines jungen Mannes“ wohl noch erleben wird. Ist Adam Driver vielleicht ein Nachfahre des Mannes aus Emden, den Ludolf Backhuysen gemalt hat? Und wie konnte sich die Frau, die Jan Cornelisz Verspronck im Sessel gemalt hat, mit ihrem Ungetüm von Halskrause bloß bewegen? Ein Zeichen von Reichtum – sie hatte genug Personal... Lieblingsbilder: Friedrich Georg Weitsch „Bildnis einer unbekannten Frau“, „Venus“ von Lucas Cranach d. Ä., „Der Geograf“ von Jan Vermeer. Fies: „Tanz der Ratten“ von Ferdinand van Kessel. Am 2. März beginnt die Ausstellung: Renoir. Rococo Revival. Der Impressionismus und die französische Kunst des 18. Jahrhunderts. Ich bin gespannt!
Neue Krimis
Inken Witt: Warten. Leben. Sterben (Ein Fall für Isa Winter 1) Isadora Winter, 35, ist studierte Bildhauerin. Und nun Privatdetektivin. Sie ist gut in ihrem Job, denn sie kann warten. Und das macht nun mal 80 Prozent ihres Jobs aus. Bislang hat sie sich aus persönlichen Verwicklungen in ihre Fälle immer rausgehalten. Aber Katharina Schneider ist ihr sympathisch, und als sie ihren Mann mit einer Frau erwischt, mischt sie sich ein, damit er nicht fremdgeht. Daraufhin passiert sehr viel, sehr viel Schlechtes, und Katharina Schneider ist tot. Nun hält Isa Winter sich gar nicht mehr raus und handelt. Inken Witt hat einen sehr spannenden Krimi geschrieben, dessen Handlung sich allmählich entwickelt: Ein uneheliches Kind, ein Politiker mit einem nicht ganz astreinen Privatleben, eine Reportage. Die Vergangenheit. Immer wieder Überraschungen in dem Fall, und auch das Setting stimmt: Berliner Lokalkolorit, aber nicht zu viel; persönliches Kolorit, sprich: Typen, aber auch davon nicht zu viel. Isa Winter lebt mit ihrer alten Freundin Tina und ihrem pubertierendem Sohn in einer Kreuzberger WG. Sie hat nicht viele Freunde: Tina und ihren Taxi-und-alles-andere-Mentor Eugen. Sie will es so. Sie hat Sex mit dem verheirateten Polizisten Sebastian, was beim Arbeiten gelegentlich zu Verwicklungen führt. Ansonsten beobachtet sie die Menschen eher. Eine interessante Figur in der Krimiszene, ich bin sehr gespannt auf weitere Fälle.
Sehr gut! Ralf Langroth: Ein Präsident verschwindet. Der zweite Fall um den Kriminalhauptkommissar Philipp Gerber und seine Freundin, die Journalistin Eva Herden, wieder mit einem historischen Hintergrund: Am 20. Juli 1954 verschwindet Otto John, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Kurze Zeit später taucht er in Ost-Berlin wieder auf. Philipp Gerber soll der Sache auf den Grund gehen. Daran hat er auch ein persönliches Interesse - denn auch Eva Herden ist verschwunden, und Gerber bekommt ein Foto, auf dem sie zusammen mit John zu sehen ist.
Historische Kriminalromane bergen immer ein gewisses Risiko, sie bieten eine Interpretation. Damit können sie auch eine Verschwörungstheorie aufnötigen, was gelegentlich ärgerlich ist. Aber Langroth hält sich mit so etwas zurück, naja, die Einstellung der Amerikaner zum BND ist vielleicht eine solche Theorie, aber wahrscheinlich eher nicht, sondern nachvollziehbar (S. 316). Die Handlung entwickelt sich, Gerber recherchiert, gerät in Gefahr, und man ist immer wieder überrascht. Man kann etwas für die eigene kriminelle Karriere lernen (ein gefälschtes Autokennzeichen ist Hinweis auf einen geheimdienstlichen Zusammenhang, gewöhnliche Kriminelle verwenden einfach ein gestohlenes Nummernschild, S. 160f.) Aber Türen - das sollte man sich für einen Einbruch merken - bricht man nicht mit der Schulter auf (S. 206), sondern man tritt sie ein. Manchmal schreibt Langroth auch etwas umständlich ("Sattler hatte mit diesem vorhersehbaren Manöver Zaunerts gerechnet und befolgte die vor einer halben Stunde erhaltene telefonische Anweisung, die ihm Dr. Ernst Brückner, der Leiter der Sicherungsgruppe Bonn, erteilt hatte." S. 202: Wenn Sattler mit dem Manöver gerechnet hatte, braucht man nicht extra zu schreiben, dass es vorhersehbar ist; außerdem ist der Satz schrecklich verschachtelt. Angenehm bei der Lektüre: Auch Eva Herden hat ein Eigenleben. Ach, und die Einschätzung der Arbeitsbelastung bei freien Journalisten (S. 343) spricht dafür, dass der Autor - er schreibt unter Pseudonym - sich damit durchaus auskennt. Und das Buch ist etwas langatmig, eine Kürzung um etwa ein Viertel hätte dem Ganzen gut getan.
Januar 2022
Kultur in Berlin
Anna Dorothea Therbusch. Eine Berliner Künstlerin der Aufklärungszeit. Noch bis zum 10. April in der Berliner Gemäldegalerie. Therbusch wurde im Jahr 1721 in Berlin geboren. Ihr Vater bildete sie und ihre Geschwister in der Malerei aus, aber sie heiratete einen Gastwirt und bekam fünf Kinder! Also: keine Zeit zum Malen. Erstmal. Aber ab ihrem 40. Geburtstag widmete sie sich umso energischer der Malerei und unternahm mehrjährige Reisen an süddeutsche Fürstenhöfe und nach Paris. Und mit 46 Jahren gelang ihr als eine von sehr wenigen Frauen die Aufnahme in die damals bedeutendste europäische Kunstakademie, die Pariser Académie royale de peinture et de sculpture. Die muss damals eine ziemliche Machobande gewesen sein: Frauen waren von den Preisausschreibungen und den Aktklassen ausgeschlossen. Und das Gemälde, das Therbusch als erstes einreichte, wurde mit der Unterstellung abgelehnt, sie als Frau könne es nicht selbst gemalt haben. Sie reichte ein neues Bild ein und wurde aufgenommen. Dann kehrte sie zurück nach Berlin und wurde eine gefragte Porträtmalerin. Sie malte unter anderem Henriette Herz, Friedrich II. und den Arzt Christian Andreas Cothenius. Damit wurde sie auch zu einer bedeutenden Chronistin der Zeit der Aufklärung. Und sie malte sich selbst, 12 Bildnisse sind erhalten. Besonders schön ist das Aushängeschild dieser Ausstellung: Die nicht mehr junge Therbusch in einem großartigen weißen Seidenrock, einem dünnen Tuch und mit Monokel - und mit einem sehr direkten Blick voll Witz und Charme.
Neue KrimisJohann Palinkas, Coup. Polen schießt über der Ostsee einen russischen Jet ab und im Baltikum wächst Furcht vor einem Gegenschlag. Die EU gerät ins Wanken: Wer hilft wem, und wer wiegelt bloß ab? In diesem Chaos versucht die Bundeswehr einen Putsch. Der Autor erzählt aus mehreren Perspektiven: Aus der Sicht korrupter Politiker, und aus der Sicht einiger Menschen, die nun reagieren: Julius Graf ist ein aufstrebender Hauptmann der Bundeswehr und Adjutant des Generalinspekteurs. Emilia Berg ist Journalistin und Grafs Freundin. Richard Hartig ist deutscher Botschafter in Lettland. Ein militärischer Putsch in Deutschland ist ein mutiges Szenario für ein Buch und mit der Begleitung unterschiedlicher Menschen hat der Autor einen interessanten Weg gefunden, um das Geflecht aus Intrigen, in dem sich die Geschichte entwickelt, darzustellen. Er erzählt in vielen kurzen Kapiteln, im Titel meist Datum, Uhrzeit und Protagonist. So verliert man nicht den Faden. "Coup" ist das Debut eines sehr jungen Autors und es ist wirklich bemerkenswert, wie er Intrigen zeichnet oder das Innere der Bundeswehr beschreibt, etwa die Motivation, Soldat zu werden (S. 170) - seine eigene Zeit beim freiwilligen Wehrdienst soll ihn zum Buch inspiriert haben. Nur recht selten stolpert man, etwa dass Hartig seine Tochter nicht warnt, ist sehr unwahrscheinlich (S. 307 ff.). Trotzdem ist die Lektüre nervig, und das liegt an Palinkas Schreibstil. Die Sätze sind umständlich, die vielen Partizipien und Adjektive stören. Etwa: "Berg warf einen letzten hastigen Blick über ihre Schulter auf den Betonvorsprung und den darauf liegenden USB-Stick." (S. 203) - Und wie schaut wie über die Schulter nach unten? Auch die Emotionen sind nicht überzeugend dargestellt, "Halt suchend griff sie nach Leos zitternder Hand." (S. 231) Und ein Wort wie "ausgeknipst" statt "getötet" (S. 359) ist einfach schlecht. Wenn der Verlag einen Autor aufbauen will, sollte er mehr ins Lektorat investieren.
Mittel. Romy Hausmann, Perfect Day. Ann und ihr Vater hören Lou Reed und warten auf den Pizzadienst. Stattdessen kommt die Polizei und verhaftet den Vater. Er soll seit 14 Jahren Mädchen entführt und ermordet haben. Für Ann ein Schock. Ihr Vater ist ein international bekannter Anthropologe und Philosoph und hat sie nach dem Tod ihrer Mutter allein großgezogen. Nun setzt sie alles daran, seine Unschuld zu beweisen. Dabei gerät sie selber in Gefahr. Solides Thrillerhandwerk, man erkennt auch Hausmanns Handschrift mit der Erzählung aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeiten, wobei sie den Leser mehrmals schön an der Nase herumführt (wer wird S. 262 eigentlich interviewt?) Aber manchmal verhält sich die Protagonistin einfach unwahrscheinlich doof (S. 70, warum fotografiert sie die Unterlagen nicht einfach ab; S. 359 ff.), was zwar die Handlung im Spannungsbogen weiterbringt, aber beim Lesen etwas nervt. Mittel.
Dezember 2021Kultur in BerlinDie Neue Nationalgalerie ist nach sechs Jahren Sanierung endlich wieder offen! Die Skulptur „Têtes et Queue“ (Köpfe und Schwanz) von Alexander Calder (1898–1976) wurde zur Eröffnung der Neuen Nationalgalerie im Jahr 1968 aufgestellt und kehrt zur Wiedereröffnung zurück. Schon das ist einen Besuch wert. Aber drinnen kann man noch mehr Werke von Calder bewundern – und sogar mit ihnen spielen. Die Ausstellung Minimal / Maximal in der Glashalle im Erdgeschoss zeigt nicht nur große Skulpturen und Mobiles, sondern auch winzig kleine Plastiken, eine Art Löffel mit hochgebogenem Stil, an dem verspielte Gewichtlein hängen, eine tanzende Frau, ein Mensch an einem dreieckigen Tisch – vielleicht sehen andere Menschen darin aber auch ganz anderes? Spaß: ein von Calder entworfenes Schachspiel, mit dem man auch spielen darf (also zu zweit kommen!) Einige Werke sind beweglich und werden bis zu viermal täglich für die Ausstellungsbesucher aktiviert. Im Untergeschoss werden in der Ausstellung „Die Kunst der Gesellschaft“ wieder die „Hauptwerke des Klassischen Moderne“ gezeigt, etwa 250 Gemälde und Skulpturen aus den Jahren 1900 bis 1945. Die Werke von Otto Dix, Hannah Höch, Ernst Ludwig Kirchner, Lotte Laserstein, Renée Sintenis, Conrad Felixmüller und anderen reflektieren die gesellschaftlichen Prozesse dieser bewegten Zeit: Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg; Reformbewegungen, Verfemung der modernen Kunst, Holocaust. Die Ausstellung setzt teils bekannte, teils unbekannte Schlaglichter: Die wachsenden Städte, Orte von Umbruch und Zersplitterung. Die weiblichen Modelle der Brücke, teils verstörend jung. Die Kolonien. Politik und Propaganda. Die Kunst nimmt die politischen und sozialen Verhältnisse auf und spiegelt sie wider. Das Bröhan-Museum in Berlin-Charlottenburg veranstaltet vom 6. Oktober 2021 bis zum 16. Januar 2022 die Ausstellung „BRÖHAN TOTAL!“. Der Sammler Karl H. Bröhan wäre am 6. Juli 2021 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigt das Museum in dieser Jubiläumsausstellung so viele Stücke wie nie zuvor. Bröhan wurde in Hamburg geboren und kaufte aus Liebhaberei Kunst und Antiquitäten vor allem des Jugendstils, Art Déco und der Berliner Secession. Das war auf dem Kunstmarkt kaum gefragt, aber Bröhan sah in der Epoche um 1900 einen kaum bekannten Schatz, „der nur darauf zu warten schien, gehoben zu werden.“ Im Jahr 1965 zog er nach West-Berlin und dort wurde er zum passionierten Kunstsammler. Nach acht Jahren eröffnete er in Berlin-Dahlem ein Privatmuseum und baute zusammen mit seiner Frau, der promovierten Kunsthistorikerin Margrit Bröhan die Sammlung weiter aus. Noch einmal acht Jahre später schenkte er seine Sammlung dem Land Berlin. Zwei Jahre danach, im Jahr 1983, wurde das Bröhan-Museum in Charlottenburg eröffnet, das Karl H. Bröhan bis zu seinem Tod im Jahr 2000 geleitet hat. BRÖHAN TOTAL! zeigt so viel wie noch nie von der Sammlung: Schaudepotbereiche mit Höhepunkte der Kollektion, selten gezeigte Schätze, Räume zum französischen Art Nouveau, zu den reformbewegten Entwürfen des deutschen Jugendstils, zum Art déco und zur funktionalistischen Formgebung der 20er Jahre, Gemälde der Berliner Secession und ausgefallene Sammlungsblöcke wie Tierfiguren. Ausgewählte Neuerwerbungen der letzten Jahre zeigen zudem die Entwicklung der Sammlung auf. Es werden Gemälde, Grafik, Möbel, Porzellan sowie Metall- und Glaskunst zu sehen sein. Im Juni 2021 schenkte ein privater Sammler aus Berlin-Schöneberg seine Kollektion von über 100 farbenprächtigen Gläsern des Münchner Designers Jean Beck (1862-1938) dem Museum – diese hatte ihn einst zum Sammeln inspiriert. Die Ausstellung zeigt diese und zwei weitere „Satellitensammlungen“ – Sammlungen, die unmittelbar vom Bröhan-Museum inspiriert sind. Zum Hingucken: Eine Wand mit 32 Bestecksets (Messer, Gabel., Löffel), zeitgenössische Karikaturen zu Jugendstil und Art Déco, Bröhan Fun Facts, und die Porzellanvögel, sehr wirklichkeitsgetreu – mit Artentafel zum Überprüfen der eigenen ornithologischen Kenntnisse.
Neue KrimisMartin von Arndt, Wie wir töten, wie wir sterben. Bonn, 1961. Dan Vanuzzi, ein zu alter Boxer, sucht für den französischen Auslandsnachrichtendienst zwei Männer in Deutschland. Sie gehören zur algerischen Befreiungsarmee und sollen Kriegsverbrechen an französischen Soldaten verübt haben. Ephraim Rosenberg, Agent des Mossad, will den ehemaligen KZ-Kommandanten Arthur Florstedt finden und nach Israel entführen. Florstedt verantwortet auch die Ermordung von Rosenbergs Familie im Holocaust. Vanuzzi und Rosenberg kennen sich, und nun arbeiten sie zusammen. Aber was ist real? Rosenberg und teilweise Vanuzzi tauchen schon in älteren Thrillern von Arndts auf, nämlich Tage der Nemesis (derzeit leider nicht lieferbar), Rattenlinien und Sojus. Aber das aktuelle Buch versteht man auch, ohne die drei anderen gelesen zu haben. Hier liest man abwechselnd die Perspektiven von Vanuzzi und Rosenberg; was tun und lassen sie, erfüllen sie überhaupt ihre Aufträge? Und was steckt eigentlich dahinter? Was dürfen und, ja, was wollen sie wissen? Und auch diese Frage stellt sich: Was ist real? Bei alledem schafft es der Autor, geschichtliche Hintergründe über den Krieg zwischen Frankreich und Algerien und das Problem "entnazifizierter" Nationalsozialisten, über Folter, Traumata und über die Fragen von Moral und Verantwortung bei der Arbeit als Agent zu erzählen, ohne den Leser zu langweilen, sei es mit moralinsauren Vorträgen, sei es mit Verschwörungstheorien. Ein sehr spannender Agententhriller.Toll. Heinrich Steinfest, Amsterdamer Novelle. Der Kölner Roy Paulsen sieht sich auf einem Foto durch Amsterdam radeln. Allerdings war er noch nie in Amsterdam, und er fährt auch nicht Rad. Das Foto lässt ihm keine Ruhe, er reist nach Amsterdam und sucht das Haus im Hintergrund des Fotos. Und nun wird es gefährlich. Ein echter Steinfest, dieses schmale Büchlein von gut 100 Seiten: Eine nicht - naja vielleicht doch ein bisschen - abstruse, eine nicht ganz diesseitige Geschichte über die Reise eines Mannes zu sich selbst, was bei Steinfest auch oft heißt: Zur Liebe seines Lebens. Paulsen erlebt Haarsträubendes, von einem Foto, das nicht sein kann, über einen sintflutartigen Regenguss bis zu einem sehr gefährlichen Ereignis, in das er auf seiner Suche hineinplatzt. Eines folgt aus dem anderen und am Schluss stimmt wieder alles. Ein großes Lesevergnügen. Sehr gut.
Fabio Lanz, Ein kaltes Herz. Sarah Contis erster Fall. Sarah Conti hätte Pianistin werden können, aber nun übt sie nur noch manchmal Klavier und ist hauptberuflich Ermittlerin der Zürcher Kriminalpolizei. Da hat sie schon viele Mordopfer gesehen, aber noch keines wie den stadtbekannten Anwalt: Ihm wurde das Herz herausgerissen. Conti und ihr Team recherchieren bei Witwe und Sohn des Opfers, in seinem sonstigen Umfeld, und in seiner Vergangenheit. Dabei decken sie ein übles Geflecht auf - und dann wird Sarah Conti von der Jägerin zur Gejagten. Sarah Conti könnte eine wunderbare Ausnahmeerscheinung unter Krimiermittlerinnen werden: Sie interessiert sich für Musik, Literatur und Kunst, sie spielt sogar hervorragend Klavier. Und sie hat zwar Probleme, aber nicht zu viele - die versoffenen einsamen Wölfe oder meinetwegen Wölfinnen sind auf Dauer doch recht langweilig. Stattdessen hat sie Freundinnen, isst gut und geht gern aus. Schon deshalb hoffe ich, dass sie noch viele weitere Fälle löst. Ein kaltes Herz ist klug konstruiert, manchmal glaubt man das Erstlingwerk zu bemerken, wenn es etwa zu oft einen überraschenden Knall o.ä. tut (S. 102, 156, 179, 202 u.ö.), wenn der Autor mit seiner Kenntnis der Musen etwas zu dick aufträgt (Kafka-Beginn S. 57 u.ö. oder die detaillierten Klavieranalysen), oder wenn kleinere Flüchtigkeitsfehler durchgerutscht sind, was aber auch dem Lektorat geschuldet sein mag, z.B. "das Bootshaus war gröer" (S. 272). Aber der Autor schreibt unter Pseudonym und dies Buch scheint nur sein Erstlingswerk unter diesem Pseudonym zu sein. Die Geschichte ist vielleicht keine riesengroße Überraschung, aber doch ungewöhnlich genug für eine vergnügliche Lektüre, und ich hoffe auf weitere Fälle. Gut.
Ann-Kristin Gelder, 21 Tage. Louisa soll sterben, in 21 Tagen. Das steht in einer Mail an sie. Sie ist Anfang 30, arbeitet in einer Werbeagentur, hat heißen Sex mit ihrem Chef und eine beste Freundin. Aber nun die Mail. In dieser wird ihr nicht nur ihr baldiger Tod angekündigt, sondern es werden auch die Todesumstände beschrieben. Und genau die erinnern Louisa an etwas, das sie vor 15 Jahren getan hat. Aber wer kann das wissen? Dann kommt die nächste Mail. Und die übernächste. Und so weiter. Die Mails sind nicht alles: Ihre beste Freundin glaubt ihr nicht, jemand scheint in ihrem Haus gewesen zu sein, und sie sieht immer wieder eine dunkle Gestalt, die andere Leute aber nicht sehen. Ein dunkles Geheimnis und eine aktuelle Bedrohung - und ein Zusammenhang zwischen beidem, der nicht klar ist: Ein düsterer Ausgangspunkt für einen spannenden Thriller, und Louisas Fesselung in ein fieses Spiel ist eigentlich spannend. Aber die Autorin setzt in ihrem Thrillerdebut zu sehr auf billige Mittel, immer wieder lässt sie Louisa völlig idiotisch handeln und dann sich selber fragen, warum sie bloß so gehandelt habe. Das könnte man geschickter machen. Auch die Fragen von Reue und Schuld werden nicht gerade tiefsinnig abgehandelt: Louisa empfindet Reue unwahrscheinlich spät (S. 314); Schuld empfindet man eigentlich nicht, man hat sie allenfalls; und das Ende wirkt wie eine etwas billige Reinwaschung. Also: Kein Tiefgang, aber durchaus eine nette Unterhaltung für ein verregnetes Winterwochenende auf dem Sofa. Ganz gut.
November 2021Neue Krimis
Regina Nössler, Katzbach. Isabel Keppler findet eine Leiche in ihrer Wohnung. Eigentlich lebt sie dort nur mit Goldhamster Godzilla. Ohne Leiche. In der Katzbachstraße in Berlin-Kreuzberg. (Ich kenne diese Straße zwischen den Yorckbrücken und der Dudenstraße. Die Yorckbrücken sind im Regen melancholischer als alles andere, und in der Nähe der Dudenstraße liegen die Gebrüder Grimm begraben und es spukt. Aber das nur nebenbei, es hat mit dem Krimi nichts zu tun.) Dort also wohnt sie als Fredis Untermieterin im Souterrain und hat zweieinhalb Jobs, alle nervtötend: Büro, Veranstaltungsagentur (eigentlich auch Büro), und Gesellschafterin bei einer alten Frau, die seltsame Dinge erzählt und wenig nett ist. Nun ist aber auch Isabell Kepler kein wirklich netter Mensch: Garstig zu allen Leuten, nicht ganz ehrlich außerdem. Sie geht oft auf Vernissagen, trinkt ein bisschen zu viel und kifft. Diese Routine wird unterbrochen, als Vermieter Fredi sie damit beauftragt, einen gewissen Daniel zu beobachten, der einen Schreibworkshop leitet. Dann wird alles irgendwie bedrohlich. Sie wird überfallen. Bekommt seltsame Botschaften. Und diese Leiche liegt in ihrer Wohnung in der Katzbachstraße. Woher kommt die bloß? Regina Nössler in Hochform: Wieder hat sie einen Krimi vorgelegt, dessen Protagonistin mehr als skurril ist, und bis zum Schluss weiß man nicht, was eigentlich passiert ist. Das Buch beginnt "danach", das nächste Kapitel spielt drei Tage vor Heiligabend, das übernächste Anfang Oktober. Mit vielen Rückblenden entspinnt sich eine schräge Geschichte um eine schräge Hauptperson, und trotz der vielen Zeitebenen wird es nie wirr, sondern immer spannender. Toller Krimi! Anke Küpper, Der Tote vom Elbhang und Tod an der Alster. Der Tote vom Elbhang bildet den Auftakt einer Krimireihe um Hauptkommissarin Svea Kopetzki. Sie ist aus dem Ruhrgebiet in die Hamburger Mordkommission gekommen und muss gleich mal diesen höchst merkwürdigen Fall lösen: Erstaunlich saubere Menschenknochen, in ein Fell eingewickelt und vergraben auf einem Grundstück, das zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben ist. Ausgerechnet am Falkensteiner Ufer, einer wunderschönen Straße an der Elbe im Stadtteil Blankenese. Ein bekanner Investor würde eine Rekordsumme für das Anwesen zahlen, dabei steht bloß ein gammeliges Haus drauf - warum? Und warum ist der Noch-Besitzer so seltsam? Und was wollten die beiden jungen Mädchen auf dem Grundstück, als sie die Knochen fanden? In Tod an der Alster hat Svea Kopetzki sich in Hamburg anscheinend gut eingelebt und auch mit ihrem neuen Freund Alex läuft es gut. Aber dann läuft eine Schönheitschirurgin vor einen Bus und stirbt. Aber woran? Am Unfall wohl kaum - sie hat nämlich Stichspuren am Hals. Irgendwas stimmt mit ihrer Praxis nicht, in der auch die Mutter von Kopetzkis Ex in Behandlung gewesen war. Und damit nicht genug an emotionalen Verwicklungen für Kopetzki: Auch ihre junge und eigentlich fitte Mitarbeiterin Franzi und Kollege Temme haben irgendwelche Probleme mit Privatleben und Beruf. Eine Krimiserie, die in Hamburg spielt - reiht sich gut in die schöne Mode der lokalen Krimis ein. Die Nebenschauplätze wie die Wohnungsnot und die Gegensätze zwischen arm und reich passen ins Stück. Die Bücher sind solides Krimihandwerk - mehr allerdings auch nicht: Die Abneigung gegenüber dem Hamburger "Schnöselmilieu" geht sicher auch auf Kopetzkis gescheiterte Beziehung zu einem Mann aus eben diesem Milieu zurück, ist auch ohne dies nachvollziehbar, wirkt aber immer etwas aufgesetzt, etwa wenn Kopetzki nach einem Besuch im Laufe ihrer Ermittlungen denkt, "Diese parfümierte Haushälterin heute Nachmittag, zum Kotzen" (Elbhang S. 110). Auch Schubacks Reaktion ist arg einfach (Elbhang 211) und wenn die Kommissarin dann staunt, weil noch nie jemand so prompt auf ihren Bluff angesprungen war, liest sich das wie eine Erklärung der etwas zu einfachen Handlung. Und wenn B. über seinen nackten, haarlosen Unterarm fährt, als streichele er eine Kaschmirziege (Alster 185 f.), ist das ein lustiges, aber völlig schiefes Bild. Aber das sind eher Ausnahmen, im Großen und Ganzen lesen sich die Bücher schnell und gut und sind eine nette Unterhaltung für einen langen Herbstabend mit einer Tasse Tee auf dem Sofa.
Kultur in Stuttgart
Noch bis zum 22. Februar 2022 zeigt die Stuttgarter Staatsgalerie die Ausstellung „Becoming Famous. Peter Paul Rubens“. Rubens (1577–1640) war der wohl erfolgreichste Maler des Barock und ist noch heute hinlänglich bekannt. Aber diese Themenstellung ist wirklich ungewöhnlich und eröffnet einen neuen Blick auf seine Bilder und seinen Werdegang: Wie hat er es geschafft, dass man ihn in ganz Europa gefeiert hat? Die Ausstellung zeigt, dass einige Voraussetzungen zusammenkamen: Startkapital, künstlerisches Talent und großer Ehrgeiz, erfolgreiches Netzwerken, sowie einflussreiche Freunde und Förderer. So lernte er auf der Lateinschule gehobene Konversation und wurde als 14-Jähriger Page bei Marguerite de Lignes, bei der er das höfische Leben und die Regeln der politischen Repräsentation kennenlernte. Aber er beschloss auch früh, Maler zu werden, obwohl diese Ausbildung nicht standesgemäß war. Im Jahr 1600 verließ Rubens Antwerpen, um in Italien die Kunst der Antike, der Renaissance und der Zeitgenossen zu studieren. Er wurde Hofmaler des Herzogs von Mantua, porträtierte Angehörige der einflussreichsten Familien Genuas und stellte sich erfolgreich dem Wettbewerb mit anderen Künstlern. Nach acht Jahren kehrte er nach Antwerpen zurück und baute eine Werkstatt mit tüchtigen Mitarbeitern auf. Selten liest man solches über einen Künstler wie bei den Stuttgarter Ausstellungmachern über Rubens: „Eine prägnante Bildsprache wird sein Markenzeichen. Die prominente Platzierung seiner Werke in Kirchen oder hochrangigen Sammlungen und die weite Verbreitung seiner Bilder machen Rubens zu einer begehrten Marke. Er reagiert auf Angebot und Nachfrage, indem er günstigere Kopien seiner berühmten Bilderfindungen fertigen lässt. Auch bei der Massenproduktion der Bilder stehen Innovationsanspruch und künstlerische Qualität im Vordergrund. Rubens bleibt ein Leben lang Suchender nach der perfekten, emotional anrührenden Form und dem überzeugenden Bild. Schnell sind seine Motive in ganz Europa bekannt, was nicht zuletzt an der umfangreichen Kupferstichproduktion liegt.“ Zum Hingucken: Die Stuttgarter Ausstellung zeigt eine Serie von elf römischen Imperatoren, die der noch junge Rubens mit Hilfe seiner Mitarbeiter nach einer bekannten Publikation gestaltet hat. Solche Bilder waren in vornehmen Häusern sehr beliebt. Es ist nicht ganz sicher, ob alle von Rubens sind. Die Staatsgalerie hat sie kunsttechnologisch untersucht, und wer ein bisschen Geduld mitbringt, kann diese Untersuchung auf einem Bildschirm nachverfolgen – toll gemacht und hochinteressant! Fazit: Die Herrscherportraits entstanden als Gesamtwerk (wieso steht da „beauftragt“?), wahrscheinlich von einer Person in einer Werkstatt: Dafür sprechen Übereinstimmungen bei Bildträger, Komposition und charakteristische Schichtfolgen; Tafelherstellung und Grundierung; auch die Imprimatur. Ausgeführt wurden die Malereien dann von unterschiedlichen Malern. Eine vergoldete Beschriftung stammt wiederum von einer einzigen Person. Mein Lieblingsbild – und das Titelbild der Ausstellung ist aus der Zeit in Italien das Gemälde „Geronima Spinola Spinola mit ihrer Enkelin Giovanna Serra“ - Angehörige der Genueser Oberschicht. Die Großmutter hält ihre Hand über das Handgelenk der Enkelin. Das Kind schaut höflich, die Großmutter streng; sie nimmt auch den größten Raum des Bildes ein. Wenige Jahre später sollte das Mädchen wie seine Großmutter in ein Kloster eintreten. Kultur in Dresden
Das Dresdner Albertinum wurde zwischen 1559 und 1563 als Zeughaus errichtet und im 19. Jahrhundert zum Museum umgebaut. Seither heißt es dem sächsischen König Albert zu Ehren „Albertinum“. Beim Bombenangriff auf Dresden im Jahr 1945 wurde es weniger als andere Museumsbauten der Stadt beschädigt. In der DDR fanden hier die Kunstausstellungen statt. Beim Hochwasser im August 2002 wurde das Kulturgut evakuiert und danach wurde ein flutsicherer zweigeschossiger Werkstatt- und Depotkomplex über dem Innenhof mit einer 72 Meter langen 2700 Tonnen schweren Stahlkonstruktion errichtet. Das Albertinum beherbergt eine Sammlung von Skulpturen ab 1800 und Kunst von der Romantik bis zur Gegenwart: Romantik, Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Kunst der DDR und Kunst der Gegenwart. Zwei besonders wichtige Künstler sind der Romantiker Caspar David Friedrich sowie der „Zeitgenosse“ Gerhard Richter, der aus Dresden kommt. Zum Hingucken:
Ungewöhnliche Gegenüber: einerseits „Kreuz im Gebirge“ von C. D. Friedrich (1807/8), andererseits „Kreuzwegstation“ von Hermann Nitsch (1961). Beide Bilder versuchen, so die Texttafel im Museum, eine neue, sehr individuelle (jeweils) moderne Sicht auf die Religion, sie nehmen traditionelle christliche Motive auf und brechen mit ihnen, und sie loten die Darstellungsmöglichkeiten der Kunst ihrer Zeit neu aus: Das Kreuz im Gebirge präsentiert ein Landschaftsbild als Altarbild und der Kreuzweg ist eines der ersten Schüttbilder des Künstlers und teils mit Blut gemalt. Niedrig gehängt – für Kinder: „Im Albertinum hängen die Gemälde im Rayski-Raum tiefer. Dafür hat das Museum ein Team an Fachleuten gewinnen können: eine Gruppe von fünf Kindern.“ Meist hängen Museumsbilder angenehm hoch für mittelgroße Menschen. Hoch bedeutet leicht einmal: pathetisch, wichtig, für Erwachsene. Ferdinand von Rayski hatte Humor, seine Adelsportraits sind etwas übertrieben und damit ironisch. Aber er hat auch einen Stieglitz (Distelfink) so gemalt, dass der dasitzt in der Haltung eines Adligen, der portraitiert wird: Anschauungsunterricht für Kinder über den Umgang mit Autoritäten.
Die 48 Portraits bedeutender Männer von Gerhard Richter sind schwarzweiß und alle in ähnlicher Form portraitiert. Man muss zu ihnen hinaufschauen, und ihre Blickrichtung wandelt sich von Profil zu frontal zu Profil. Richter hatte sie für die Biennale in Venedig 1972 gemalt. Der dortige deutsche Ausstellungsbau war 1938 im NS-Stil umgestaltet worden, und darauf hatten später mehrere Künstler Bezug genommen. Auch Richter, und zwar sehr subtil, indem er eben Männer portraitiert - nach dem Krieg fehlten die Väter und viele Söhne konnten sie danach nicht als moralische Vorbilder akzeptieren – und Richter zeigt Männer, die besondere Leistungen erbracht haben. Diese wirken weder streng noch böse; Kafka etwa nicht unheimlich, sondern sanft und verletzlich. Figuren zur Identifikation.
Bis zum 6. Februar 2022 läuft noch die Ausstellung „Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland“ im Albertinum. Was ist Freiheit, wovon träumst du, was ist Heimat, was gibt dir Hoffnung, was fühlst du jetzt?, das alles fragen die Ausstellungsmacher. Über 140 Gemälde der Romantik werden in einer Ausstellungsarchitektur von Daniel Liebeskind gezeigt, die dieser wie ein Labyrinth gestaltet hat, mit Themenräumen wie Selbstportraits, Nachtlandschaften, Religion (davon hätte ich mir mehr gewünscht), Friedrich, Carus, Iwanow... Besonders beeindruckend nicht ein Bild aus der Romantik (1789 bis 1849), sondern ein Video von 2007 von Guido van der Werve, „Nummer acht, everything is going to be alright“: Der Künstler geht über den zugefrorenen Bottnischen Meerbusen. Hinter ihm fährt ein Eisbrecher. Man mag kaum hinschauen – das Eis scheint unendlich, das Schiff riesig, das unter ihm aufbrechende Meer unheimlich, der Mensch davor winzig und zerbrechlich. Lieblingsbild? „Bildnis einer Dame mit Zigarette“ von Oskar Zwintscher. Wer die Dresdner Rüstkammer im Residenzschloss besucht, lernt spätestens dort, dass Plattner nicht nur der Nachname des SAP-Mitbegründers ist, sondern auch ein Handwerksberuf: Ein Plattner ist ein Schmied, der sich auf die Herstellung von Plattenpanzern spezialisiert hatte. Die Rüstkammer mit ihren Rüstungen und Waffen lässt den Besucher nicht kalt. Es erfreut zunächst, dass die lutherische Kirche in Kursachsen von Herrschern mit so guten Namen wie Friedrich dem Weisen, Johann dem Beständigen und Johann Friedrich dem Großmütigen etabliert wurde. Aber der Anblick so vieler Tötungsinstrumente verursacht einiges Unbehagen. Dies steigert sich, wenn die Opfer personalisiert werden. Die vielen Schwerter, Spieße und Dolche sind schlimm genug, aber irgendwie auch anonym, man kann angesichts der hohen Handwerkskunst leicht von ihrer Verwendung abstrahieren. Entsetzlich berührend dagegen das Richtschwert mit dem Namen des Scharfrichters „CONRADUS POLS“ (Konrad Polster) und der Aufschrift „CAVE CALVINIANE – D.N.K.“ (Hüte dich, Kalvinist – Dr. Nikolaus Krell). Der Kurfürst Christian I. neigte zum Kalvinismus, und als er starb, begannen orthodoxe Lutheraner, Kalvinisten zu verfolgen, so auch den kursächsischen Kanzler Dr. Nikolaus Krell. Und der wurde am 19. (9.) Oktober 1601 mit eben diesem gezeigten Schwert in Dresden geköpft. Beim „Langen Gang“ in der Rüstkammer handelt es sich um eine etwa 100 Meter lange Galerie. Er ist ein sehr bedeutendes Zeugnis der Renaissance-Architektur in Sachsen. Kurfürst Christian I. ließ ihn um 1588/90 vom Architekten Paul Buchner erbauen, um das Residenzschloss mit dem Stall zu verbinden. Zunächst diente er als Ahnengalerie 46 (teils sagenhafter) wettinischer Herrscher bis eben zu Christian I. 1733 ließ August III. das „Königliche Leibgewehr“ aufstellen, eine sehr bedeutende Sammlung von bis zu 1800 Feuerwaffen, die auch gebraucht wurden. Beim Bombenangriff vom 13./14. Februar 1945 wurden der Bau und die Wandmalereien schwer beschädigt. Die Waffen waren allerdings vorher ausgelagert worden. Nach dem Krieg wurden sie in die Sowjetunion überführt und 1958/59 vollständig zurückgegeben. Heute sind in der Gewehrgalerie fast 500 prunkvolle Handfeuerwaffen ausgestellt, wie im ursprünglichen Konzept geordnet nach geographischer Herkunft: auf der Südseite Waffen aus dem deutschsprachigen Raum, auf der Nordseite aus anderen europäischen Gebieten. Eines der Ausstellungsstücke, ein beschrifteter Lauf (in der dänischen Kollektion die Nummer 21) gehörte ursprünglich einem sächsischen Soldaten. Aber während der gescheiterten Belagerung von Riga (1700) soll August der Starke damit Enten gejagt haben. Würden doch alle Menschen Brüder werden und nicht einander, sondern stattdessen Enten schießen! - Die kann man sogar essen. Das Verkehrsmuseum zeigt Sachen zum Staunen, Lachen und Weinen. Alles im Rahmen der Geschichte der Fortbewegung zu Wasser, zu Lande – auf der Straße und auf Schienen – und in der Luft. Es ist auch ein Museum für Kinder, sie können viel anfassen und ausprobieren. Zum Beispiel, ob Autos oder Eisenbahnen schneller sind, indem sie kleine Modelle auf einer schiefen Ebene hinabfahren lassen: Die Eisenbahn ist schneller, denn der Widerstand ist geringer. Viele, viele Dinge zum Betrachten: Die Taschenuhr eines Lokomotivführers - auf dem Führerstand einer Dampflok gab es keine Uhr, aber so konnte er den eigenen Fahrplan kontrollieren. Eine Replik (1989) der ersten funktionstüchtigen deutschen Dampflok „Saxonia“, im Einsatz ab 1836. Ein Schienenzeppelin – ein Propellertriebwagen, der schneller war als ein Flugzeug! Plakate zum Thema „Sicherheit für Eisenbahner“ – dass ich nicht lache: Steckt die Frauen nicht in hochhackige Pumps – lasst sie Sneakers oder Turnschuhe tragen! Das ist besonders einfach und besonders sicher! Texte: Die Deutsche Reichsbahn war das profitabelste Unternehmen der Zwischenkriegszeit; im Jahr 1935 erreichte das Schienennetz mit rund 68700 Kilometern seine größte Ausdehnung jemals. Bedrängend ist ein Raum über Deportationen zur Zeit des Nationalsozialismus. Millionen Menschen wurden im Zweiten Weltkrieg in Konzentrationslagern ermordet, etwa drei Millionen von ihnen wurden in überfüllte Güterwaggons gepfercht und mit der Eisenbahn in den Tod transportiert. Die Deutsche Reichsbahn stellte dem Reichssicherheitshauptamt für jeden beförderten Menschen ein Ticket 3. Klasse in Rechnung. In den wenigen Nachkriegsprozessen zeigte sich, so die Texttafel, dass die Eisenbahner wussten, „welchen Zweck die unwürdigen Menschentransporte hatten. Von Widerstand aus den Reihen der Reichsbahner ist kaum etwas bekannt.“ So viel Bedrückendes: Ein schwarzer Streifen an der Wand mit einigen Zahlen, Daten und Fakten über Transporte im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Der Auszug aus einer Häftlingstransportliste. Besonders bewegend ein Video: der Bericht eines alten Mannes, der als kleiner Junge mit seiner Familie erleben musste, wie sie „abtransportiert“ wurden – allein dieses Wort spiegelt die Perversität und das Grauen wider. Man hört dem Mann zu, manchmal bricht ihm fast die Stimme, man möchte weinen, und was er erzählt, lässt einen nicht los: Der Transport im Waggon mit einem Eimer, der bald von menschlichen Ausscheidungen überquoll, die hinterhältige Ermordung seines Vaters, der eine Spritze mit Vitamin C erwartete und stattdessen eine Giftspritze bekam, der Raub des Gepäcks, das entgegen der Versprechungen nicht mitfuhr. Dann wieder Schönes: Fahrräder, eine Draisine, ein Hochrad, und, ach, Mode für Frauen, die in früheren Zeiten sicher und „anständig“ radfahren wollten: Hosen (Skandal!?) und eine sehr schicke Jacke – doppelreihig, besonders gut bei heftigem Fahrt- oder Gegenwind. Motorräder, Autos, Flugzeuge, und weitere interessante Texttafeln, etwa über die Zwangsverschleppung deutscher Fachleute aus der Luftfahrtindustrie in die Sowjetunion und ihre Rückkehr. Leider schon vorbei: Eine Ausstellung über das Projekt "Mit Wiederverwendung Zukunft bauen" des Teams Zirkuläres Bauen des Zentrum für Baukultur Sachsen, einer Einrichtung der Stiftung Sächsischer Architekten: Lauter Sachen, von Fenstern über Steine bis zu Lichtschaltern, die beim Rückbau (Abbruch) abgefallen sind, die nun neue Besitzer suchen. Geniale Idee - könnte man da nicht eine bundesweite (mindestens) Datenbank machen? Oder reicht ebay Kleinanzeigen? - Naja, wohl nicht, sieht jeder, der durch Neuköllns Straßen läuft und hie und da offensichtlich herrenlose Haufen von Bauschutt sieht.
Oktober 2021Neue KrimisSusanne Saygin, Crash: Isa Kurzeck hatte jahrelang zur Firma Nolden-Bau recherchiert und musste schließlich fliehen. Nach einiger Zeit auf den Hebriden erfährt sie, dass Obergangster Christoph Nolden tot ist. Und dass Mira verschwunden ist, Mira, die bei den Recherchen ihre Assistentin war. Isa will herausfinden, was passiert ist, kehrt zurück und recherchiert weiter. Dabei trifft sie auf Torsten Wolf, Mitarbeiter bei Nolden Bau. Der soll Christoph Noldens Nachfolger werden. Und bemerkt, dass irgendetwas mit der Firma nicht stimmt. Kurzek und Wolf recherchieren weiter und stoßen auf etwas ganz anderes, was weit über wirtschaftliche Interessen und Verbrechen hinausgeht. Klug konstruierter Krimi. Die Autorin erzählt wechselnd aus der Sicht von Isa Kurzeck und Torsten Wolf, und obwohl die Rollenverteilung eigentlich klar ist - die gute Rechercheurin und der böse Bauunternehmer - sind die Ambitionen der Protagonisten und damit die Sympathien nicht so klar. Man bangt mit beiden, hofft mit beiden, rauft sich die Haare über beide. Lange liest man das Buch auf Betrug und Mord in der Baubranche, bis man mit der Protagonistin merkt, dass da eigentlich etwas ganz anderes im Hintergrund steht. Das ist überraschend, spannend und beklemmend.
Sehr guter Krimi. Frank Göhre, Die Stadt, das Geld und der Tod: Die Leiche von David, 16, wird in einem Park in Hamburg-Eimsbüttel entdeckt, mit zu viel Amphetaminen im Blut. Davids Mutter ist die alleinerziehende Kristina Wójcik, sein Vater der verurteilte Schläger und Schmuggler Ivo Jasari, derzeit in Santa Fu, Hamburgs bekanntestem Gefängnis. Ivo war Ende der 1980er aus Rumänien nach Hamburg gekommen und dort an Nicolai geraten, der ihn unter seine Fittiche nahm, sie wurden Partner und machten viel Geld auf dem Kiez. Nicolai stieg in die feine-unfeine Hamburger Gesellschaft auf, Ivo wurde nicht so fein. Und nun wird Ivo aus dem Gefängnis entlassen und Nicolai weiß etwas über Davids Tod. Frank Göhre flicht auf knapp 160 Seiten ein böses Gespinst aus Gewalt, Abhängigkeiten, Gier und Angst. Mit seinen kurzen Sätzen, kurzen Absätzen und kurzen Kapiteln entwickelt er im Stakkato eine bitterböse Geschichte um das Hamburger Rotlichtmilieu und vor allem um die Banken- und Immobilienbranche. Aber die vielen Protagonisten machen das Ganze unübersichtlich und einige der nebeneinanderher laufenden Geschichten bleiben ungelöst, das ist nicht so befriedigend. Guter Krimi. Andreas Pflüger, Ritchie Girl: Paula Bloom war im Jahr 1936 als junge Frau aus Deutschland geflohen und 1945 kehrt sie als amerikanische Besatzungsoffizierin zurück. Sie wurde im "Camp Ritchie", einem Ausbildungslager des US-Militärgeheimdienstes, ausgebildet und kommt in ein Camp der U.S. Army in der Nähe von Frankfurt. Dort wird sie damit konfrontiert, dass verschiedene Nachrichtendienste ehemalige Nazis enagieren, natürlich auch die Amerikaner. Und Paula Bloom soll nun herausfinden, ob ein gewisser Johann Kupfer tatsächlich im Zweiten Weltkrieg der Top-Spion gewesen war, als der er sich ausgegeben hatte. Als erstes findet sie aber heraus, dass er den Mann gekannt hatte, den sie liebte. Ein Spionageroman, der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spielt, mit Personen, die real existiert haben - ein äußerst spannendes Setting. Genau so spannend die Erzählweise, etwa die Schwierigkeiten herauszufinden, ob jemand Spion war oder nicht, und wenn ja, auf welcher Seite er stand (spannende Szene S. 229 ff.) Und Pflügers Schreibstil, kurze Sätze, wirre Bilder, die in den Bann ziehen "Eine Dissonanz der Kapelle, die Parade geriet aus dem Tritt." (255) Auch die Institutionen wie Camp Ritchie, in dem viele Emigranten ausgebildet wurden wie etwa Stefan Heym oder Klaus Mann, Unternehmen wie IG Farben, und viele prominente Menschen wie Oskar Schindler, Henry Ford und viele Künstler machen neugierig. Aber das ist gleichzeitig eine der beiden großen Schwierigkeiten im Buch: Es gibt einfach zu viele Prominente, die Paula Bloom mal so eben trifft bzw. getroffen hatte (auch Nixon, Dulles, Lindbergh...). Ihr Vater ist einer realen Person nachempfunden, wie Andreas Pflüger im Nachwort verrät, es wäre also - vielleicht - realistisch. Aber es wirkt unecht und hölzern; der Gipfel ist die Hinrichtungsszene (404 ff.) Die andere Schwierigkeit sind die vielen oberlehrerhaften Dialoge und Gedanken, in denen Paula Bloom und andere Gute sich gegen Nationalsozialismus etc. wenden. Ich teile die Ansichten des Autors, aber es nervt, sie dauernd lesen zu müssen (210 f. und noch viel öfter). Selten sind bereichernde Hinweise, etwa zur Frage der Rolle von Richard von Weizsäcker (96, 456) oder Pullach als Quellort des Wenzbaches (453). Dass Sperber im Gegensatz etwa zu Bussarden nicht kreisen (223), sondern im Ansitz oder oder aus kurzem Anflug jagen, ist demgegenüber egal. Das Buch ist gut, aber ich fand das Nachwort am interessantesten. Ich empfehle eher Pflügers Reihe über Jenny Aaron. Guter Krimi. Anna Karolina, Auf Tod komm raus: Start zu einer neuen Serie um die Ex-Polizistin Ebba Tapper: Sie war dabei, bei der Polizei Karriere zu machen. Dann ereignete sich etwas, sie flog raus und fing an zu trinken. Da tritt die berühmte Anwältin Angela Köhler an sie heran: Die nämlich verteidigt den Ex-Fußballer Nicolas Moretti, der seine Zwilllingsschwester ermordet haben soll, und sie engagiert Ebba Tapper für ihre Kanzlei, damit sie in dieser Mordsache für sie ermittelt. Für Tappert eine Herausforderung, denn sie wird mit ihren ehemaligen Kollegen konfrontiert. Anna Karolina folgt auf knapp 430 Seiten einer alkoholkranken Ermittlerin und spinnt sehr gekonnt mehrere Handlungsstränge mit- und nebeneinander. Sie erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Sicht des angeblichen Mörders Nicolas Moretti und der Ermittlerin, und dabei führt sie die Polizei, die Ermittlerin und den Leser gekonnt an der Nase herum. Immer wieder gibt es eine überraschende Wendung, immer wieder neue Erkenntnisse, bis zum überraschenden Schluss. Allerdings fallen auch einige Ungereimtheiten auf, wieso wusste Ebba Tapper nichts von Köhlers Situation, und der Schluss ist denn doch zu unwahrscheinlich. Insgesamt ein guter Krimi.
Kein Krimi, ausnahmsweise
Frisch erschienen: Bodo Kirchhoff, Bericht zur Lage des Glücks. Ein Mann flieht vor der Liebe, vor der Erinnerung an eine Liebe, indem er eine Reise tut, die er einst mit der Geliebten getan hatte. Was für eine Idee von einem Trainingsprogramm, sich eine Liebe abzugewöhnen! Dieser Mann berichtet nun von der ersten Reise, von der zweiten Reise, und von seinen Erzählungen darüber. Das ergibt ziemlich viele Zeitebenen, und merkwürdigerweise versteht man sie als Leser und kommt nicht durcheinander, denn in jeder Ebene berichtet er einem anderen Gesprächspartner. Man fühlt mit dem Berichtenden, obwohl er nicht sympathisch ist, der alte weiße Mann, der eine junge schwarze Frau liebt. Diese Frau ist für ihn unfassbar, man kann aber nicht sagen, dass sie sich ihm entzieht, das würde sie zum re-agierenden Objekt machen, sondern ihre Existenz ist einfach außerhalb seines Zugriffs, sie ist Herrin ihrer selbst. Wie ihm auch die anderen Frauen seltsam überlegen scheinen. Kirchhoff schreibt über das Scheitern des Mannes mit feiner Selbstironie und Distanz. Dieser Mann ist auf der Flucht vor der Liebe, obwohl er liebt. Und zwei Frauen lieben ihn oder liebten ihn zumindest, was sich darin zeigt, dass sie ihn erkennen, denn beide fragen ihn, was in einer gewissen Nacht in Mailand geschehen sei. Und er entrinnt der Liebe nicht, obwohl er vor ihr flüchtet: Er findet zu sich selbst und überlässt seinen Bericht der rechten Person. Tolles Buch, berührend und, ja, spannend.
September 2021
Kultur in StuttgartDas Landesmuseum zeigt noch bis zum 24. April 2022 die Ausstellung FASHION?!Was Mode zu Mode macht. Mode geht Alle an, egal ob man morgens irgendwas aus einem Klamottenhaufen herausfischt und hineinschlüpft, oder das maßgeschneiderte Kostüm vom Zedernholzbügel anzieht. Die Stuttgarter Ausstellung stellt gute Fragen: "Wer entscheidet eigentlich, was ´in` oder ´out` ist, und warum ändert sich die Bedeutung von Kleidungsstücken überhaupt?" Ein Kopftuch etwa werde je nach Trägerin - Queen Elizabeth, Bäuerin, Grace Kelly, arabische Mädchen - ganz unterschiedlich wahrgenommen. Die Ausstellung zeigt Modegeschichte von den 1950er Jahren bis heute, darunter Entwürfe bekannter Designer und Modehäuser. Sie zeigt Modekommunikation anhand von Magazinen, Modefotografen und Social-Media-Aufritten. Früher zählte die Mode- und Textilindusterie mit Webereien und Manufakturen zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen Baden-Württembergs, aber der Textilmarkt hat sich geändert und viele Unternehmen sind in Konkurs gegangen. Heute gibt es im Ländle noch Unternehmen für Unterwäsche, Sportmode und Trikotage. Und ein paar Kleinunternehmen, die sich "Nachhaltigkeit" auf die Fahnen geschrieben haben: Wiederbelebt etwa kauft weggeworfene Stoffe auf - durchaus edle Ware, die Industrie wirft jedes Jahr Tonnen weg - und macht daraus zeitlose Mode, in Stuttgart, Deutschland, unter fairen Arbeitsbedingungen. Future Fashion benennt die sozialen und ökologischen Ungerechtigkeiten entlang der textilen Wertschöpfungskette und zeigt nachhaltige Alternativen. In der Werkstatt für textiles Gestalten und Modedesign im Werkstatthaus Stuttgart kann man Nähen und Stricken und noch viel mehr lernen. Neue KrimisOrkun Ertener, Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf). Paul und Finn sind seit der ersten Klasse befreundet und stehen kurz vor dem Abitur. Vor zwei oder drei Jahren hat Paul Khalil angeschleppt. Der weiß schon, was er nach dem Abi studieren will, während Paul und Finn erstmal eine große Reise machen wollen. Aber dann passiert etwas und fortan kann Paul sich nur noch an das erinnern, was bis zu jenem Tage geschehen war und an das, was er an jedem neuen Tag erlebt - aber am darauffolgenden Tag hat er die vorangegangenen Tage vergessen. In der Reha bekommt Paul einen Brief von Khalil, und der kündigt etwas Schreckliches an. Paul überzeugt Finn, dass sie Khalil finden müssen, um das Schreckliche zu verhindern. Sie reisen von Köln über Berlin und London nach Hamburg zum G20-Gipfel. Dort finden sie Khalil und etwas passiert. Das Buch ist sehr, sehr spannend, und zwar auf unterschiedliche Arten: Man fühlt mit den Jugendlichen mit, wie sie erwachsen werden oder auch nicht, ärgert sich mit Finn über seine nervtötend verständnisvollen Eltern (S. 53), trauert mit den Jugendlichen über ihren ungeschickten - vielleicht auch mehr als das - ersten Sex, ärgert sich über Nina, man fragt sich, was Khalil vorhat, und ob Paul und Finn ihn stoppen können. Man staunt, dass Paul Dinge neu versteht, die er schon als Jugendlicher erlebt hatte, so etwa das Verhältnis zu seiner Mutter (z.B. S. 167. 174). Kurz: Auf vielen Ebenen berührend und überraschend. Toll. Helga Glaesener, Die stumme Tänzerin. Hamburg, Ende der 1920er. Paula Haydorn, reiche Eltern, will unabhängig sein und heuert bei der Kriminalpolizei an. Ihre Eltern sind entsetzt. Bei der Kripo gibt es seit kurzem eine "Weibliche Kriminalpolizei". Die entstellte Leiche einer Prostituierten wird gefunden, Paula mischt sich in die Ermittlungen ein, leistet gute Arbeit und kommt sehr schnell in die Mordkommission. Martin Broder leitet die Ermittlungsgruppe, er ist kein Fan von Frauen in diesem Job, außerdem leidet er unter den Folgen des Ersten Weltkriegs. Paula Haydorn und ihre Kollegen recherchieren zunächst im Rotlichtmilieu, dann geht Paula Haydorn im Alleingang weiteren Spuren nach und es wird gefährlich. Ein historischer Kriminalroman, der schön das Hamburg der 1920er Jahre nachzeichnet, die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges, die Gegensätze von arm und reich, von Rotlicht und Bürgertum und die Herausforderungen für Frauen in einem Beruf, der bis dahin ein typischer Männerberuf war samt den persönlichen Herausforderungen im Umgang mit der widerständigen Familie. Das Buch ist recht spannend, es gibt mehrere überraschende Wendungen, nur die Figuren bleiben etwas hölzern. Ganz gut. Wolf Harlander, Systemfehler. Daniel macht Marketing für Computerspiele. Seine Schwester Sabine ist Chirurgin. Nelson fängt beim BND an. Und ihr aller Leben wird durcheinandergewirbelt, als mitten in der Urlaubszeit europaweit das Internet zusammenbricht. Daniel wird verdächtigt, mit dem Zusammenbruch zu tun zu haben. In Sabines Krankenhaus versagen die Apparate und Menschen sterben. Nelson, der eigentlich aus ganz anderen Gründen zum BND gegangen ist, vermutet einen Anschlag mit einem Computervirus. Daniels Sohn macht Unfug - und nun ist der BND hinter Daniel her. Eine geniale und wichtige Idee für einen Krimi. Auch gut, das Ganze von verschiedenen Standpunkten aus zu erzählen. Aber auch dieser Krimi ist hölzern erzählt: Man fühlt nicht mit den Personen mit. Daniel als Vater ist so nett zu seinem Sohn Ben, man möchte beide verprügeln. Die Wanderung von Daniels Familie ist kaum vorstellbar, die Leute müssten meiner Ansicht nach viel mehr Hunger und Durst haben (S. 166). Und dass der BND so wenig IT-Spezialisten hat, dass der Neuling Nelson sofort mit einem derartigen Fall betraut wird, ist auch unglaubwürdig. Ganz gut. August 2021
Neue Krimis
Ingo Bott, Pirlo - Gegen alle Regeln. Dr. Anton Pirlo hieß mal anders. Nur will man als Strafverteidiger nicht unbedingt, dass alle Welt weiß, dass man mit dem Khatib-Clan verwandt ist. Aber plötzlich ist der Job weg. Dann kriegen seine Brüder Ärger. Und zu allem Überfluss soll er ihre Schulden bezahlen. Dazu muss er mit seiner Partnerin Sophie Mahler seinen neuen, einzigen Fall gewinnen. Aber die Mandantin bestreitet zwar vehement, dass sie ihren Mann umgebracht hat, ist aber ansonsten wenig kooperativ. Sehr spannend, sehr lustig, gut und spannend geschrieben. Wie noch mehr Krimiautoren hat auch Dr. Ingo Bott halblange Haare und ist Jurist. Milieukrimis machen einfach Spaß; immer mehr Juristen schreiben Krimis, was sich natürlich irgendwie anbietet; wer sonst kann einen Abrechnungsbetrug so schön schildern? (S. 147 ff.) Dies Buch ist der erste Fall um den Strafverteidiger Pirlo, er endet mit einem kleinen Cliffhanger; der zweite Band soll in einem Jahr erscheinen (August 2022) und eine Leseprobe ist gleich mit abgedruckt. Man darf gespannt sein.
Sehr gut. Ule Hansen, Neuntöter / Blutbuche / Wassertöchter (Trilogie). Emma Carow wurde mit 19 vergewaltigt, hat ihren Vergewaltiger hinter Gitter gebracht und ist Polizistin geworden, Fallanalytikerin. Nun ist sie Serienmördern auf der Spur - und ihr Vergewaltiger, inzwischen aus dem Gefängnis entlassen, ist ihr auf der Spur. Im ersten Band der Trilogie (Neuntöter) geht es um Leichen, die in Panzertape einbandagiert sind; dies Buch hatte gleich den Stuttgarter Krimipreis erhalten. Im zweiten Band (Blutbuche) geht es um zerrissene Frauen. Und im dritten Band, der bei den diesjährigen Stuttgarter Kriminächten vorgestellt wird, wird eine Frau vergewaltigt. Dabei werden ihr Schnittwunden zugefügt, die denen ähneln, die Emma Carow bei ihrer eigenen Vergewaltigung zugefügt wurden. Carow ist sicher, dass ihr Vergewaltiger auch diese Tat begangen hat. Aber niemand glaubt ihr. Drei wirklich spannende Bücher. Ja, Serienmörder sind nur in Krimis häufig. Ja, Frauen tauchen in Krimis sehr oft als Vergewaltigungsopfer auf. Aber: Diese Krimis sind zwar gut recherchiert, so etwa unterscheidet das Autorenduo Astrid Ule und Eric T. Hansen zwischen Profiling und Operativer Fallanalyse (auch wenn die eher angelsächsische Methode des Profiling wenig erklärt wird) und der langwierige Polizeialltag mit Datenerfassung wird klar. Das stört die Spannung nicht, im Gegenteil, man möchte wissen, wie es weitergeht und fühlt mit Carow. Die Autoren schreiben sehr anschaulich, man hat sofort Bilder im Kopf, und das ist die große Stärke dieser Trilogie, die man in einem Rutsch hintereinander weg lesen kann. Sehr gut bis gut. Heinrich Steinfest, Die Möbel des Teufels. Leo Prager war als junger Mann nach dem Einsturz der Reichsbrücke im Jahr 1976 aus Wien geflüchtet und blieb nach einigen Wirren 44 Jahre lang auf einer spärlich bewohnten Insel im Südpazifik hängen. Nun kehrt er zurück, weil er allmählich erblindet und noch einmal dem Ort seiner Kindheit und Jugend begegnen will - und weil seine Schwester ermordet wurde und er sie zu beerdigen hat. Wer aber ermordet eine über 60 Jahre alte pensionierte Parlamentsstenografin? Hat das Ganze mit ihrer freiberuflichen Arbeit als Rentnerin zu tun? Mit ihrem Privatleben? Prager engagiert Frau Wolf und Cheng, er entdeckt einen alten Roman mit scheinbar prophetischem Potential, er lernt Frauen kennen und Architekten. Ein typischer Steinfest: liebevoll, umständlich, mit absurden Details wie einem Elefanten auf der Insel, mit der Feier einer etwas altmodischen Weiblichkeit wie einem Wäschegeschäft und daneben außerordentlich tüchtigen und unkonventionellen Frauen und einer männlichen Jungfrau, mit einer wundervoll versponnenen Handlung und mit dem üblichen Einschlag von Übersinnlichem oder zumindest nicht wirklich Erklärbarem. Und: Endlich mal ein Krimi, in dem das Phänomen des Traumas nicht durch Dramatisierung verfälscht wird. Ich habe nur Kleinigkeiten zu meckern: Wie hat Leo Prager eigentlich filmen können, als er damals, äh, beschäftigt war, bzw. wer hielt die Kamera? Ein paar Flüchtigkeitsfehler, die dem Lektorat durchgerutscht sind, etwa steht "gemäß" mit Dativ, nicht mit Genitiv, wie auf Seite 61 unten; und eine Steigerung des Perfekt gibt es auch nicht, also: er hatte Wein getrunken, nicht aber getrunken gehabt (S. 162); und auf Seite 232 überlegt er, wem er seine Nachtzigarette widmet, Seite 255 scheint dagegen die Mittagszigarette noch "frei" gewesen zu sein. (Ich bin übrigens Nichtraucher.) Sehr gut. Bernhard Aichner, Gegenlicht. Berlin, Sommer, ein Mann und eine Frau sitzen im Garten einer Jugendstilvilla, als ein Mann vom Himmel fällt. Ein blinder Passagier aus einem Flugzeug. Pressefotograf Bronski und Redakteurin Spielmann fahren hin, machen die Geschichte - und plötzlich sterben lauter Menschen, die damit zu tun hatten. Bronski und Spielmann machen sich auf die Suche nach der Geschichte hinter der Geschichte und reisen nach Afrika, dorthin, wo der Mann als blinder Passagier ins Flugzeug gestiegen war. Auf Seite 65 fehlt unten eine Dialogzeile, aber das ist der einzige Fehler, den ich im Buch entdeckt habe. Abgesehen von dieser lässlichen Winzigkeit sind Aichners Dialoge wie immer exzellent, er beherrscht die Kunst des Dialogschreibens, kurze Sätze, furztrocken und lakonisch. Aichner rollt eine Geschichte auf um Macht und Gier und Skrupellosigkeit, und es ist spannend. Während in der ersten Geschichte um den Pressefotografen Bronski das Handeln der Personen oft nicht nachvollziehbar war, ist das diesmal nur noch selten so, beispielsweise fragt man sich, warum Bronskis Tochter scheinbar traumafrei ist und Journalistin werden will, und warum sie plötzlich die Redaktion verlässt, um jemand aufzusuchen. Aber insgesamt scheinen sich Herr Aichner und Herr Bronski miteinander angefreundet zu haben: Die Reihe verspricht Spannung. Sehr gut bis gut. Anne Nordby, Eis.Kalt.Tot. Kopenhagen ist kalt. Seltsam drapierte Leichen tauchen auf.Jesper, Polizist, ist neu in Kopenhagen, und der Anfang wird ihm nicht leicht gemacht: Es gibt ein Leck bei der Polizei, die Presse weiß zuviel, und seine Chefin Kirsten sieht ihn im Gespräch mit einem Journalisten, mit dem er mal in der Schule gewesen war. Die Polizei engagiert die attraktive Superrecognizerin Marit, die jedes Gesicht wiedererkennt, auch wenn sie es nur einmal gesehen hat, und die mit dem attraktiven, gut gelaunten Pressefotografen Kjell auf einem Hausboot wohnt. Aber auch sie hat etwas zu verbergen. - Diese Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, aus der Sicht (späterer) Mordopfer, Polizisten, Mörder... Nach und nach entdecken die Ermittler Zusammenhänge zwischen den Morden. Eigentlich interessant: Kopenhagen, eine Super-Recognizerin, Legenden der Inuit, Öko-Verbrechen. Aber ich habe mit niemand mitgefühlt, der Horror, den die Ermittler angesichts der Morde empfinden, kommt nicht rüber. Vielleicht liest es sich im Original besser, aber auf Deutsch ist es maniriert und langweilig. Schon die vielen Adjektive stören. Z.B. S. 277: "Genervt brachte Kirsten Marit fort... Daraufhin wandte sich Marit automatisch in Richtung... Marit bedachte Kirsten mit einem besorgten Blick... Erschöpft stieß Kirsten Luft aus... Marit nickte mitfühlend... grausige Girlande... entgegnete Kirsten gereizt... fühlte sich plötzlich unendlich müde...": Mal liest, was die Personen tun und fühlen, aber es bleibt bei einer Beschreibung, man bleibt distanziert, denkt, aha, sie ist also erschöpft, und dieser Gedanke unterbricht den Lesefluss. Vielleicht ändert es sich später, aber die Bösen sind hässlich (S. 76), das ist zu einfach.Ich habe gut 300 Seiten gelesen, immerhin, aber dann aufgegeben. Nicht gut.
Thomas Lang, Goldberg und der unsichtbare Feind. Minkin, Stuttgarter Ermittler und ein großer Loser vor dem Herrn, bekommt kurz vor dem ersten Lockdown einen neuen Auftrag von Goldberg: Er soll nach Belgien und Abbé Jean finden, einen sehr alten Trappisten und Bierbrauer, der maßgeblich mit dem D-Day zu tun hatte - was ihm ein paar Leute sehr, sehr übel nehmen. Minkin trinkt und fragt sich durch die Lande, lernt einen interessanten Portier kennen und schließlich auch den Abt.
Schön lakonisch geschrieben und nicht nur für Bierliebhaber ein großes Vergnügen (ich zum Beispiel mag Bier gar nicht, wohl aber dies Buch). Herrlich durchgeknallt ist die Idee des überraschenden Retters (S. 122). Gute Idee, die Wehrmacht als tüchtig darstellen zu lassen, aber die Führung durch das Bier-Desaster lächerlich zu machen - eine wirksamere Kritik am Krieg, als es eine allgemeine Abwertung der Soldaten wäre. Nur ein paar Kleinigkeiten zu mäkeln: Beim Handymodell dürfte es sich um das Siemens SL (nicht SM) 45 gehandelt haben (S. 24), statt Bachtölpel meinte der Autor wohl Basstölpel (S. 165), und die Kommentare des Autors sind witzig, aber auf Dauer ein bisschen zu viel. Auch dieser Autor hat halblange Haare und ist Jurist.
Gut. Kultur in Schleißheim
Museum im Alten Schloss Schleißheim. Ökumenische Sammlung Gertrud Weinhold – Das Gottesjahr und seine Feste. Hierzulande kennt jeder Kreuze oder Weihnachtskrippen, aber das religiöse Jahr beinhaltet noch viel mehr Kalenderfeste als Weihnachten, und es gibt auch noch viel mehr Ritualgegenstände und Andachtsmittel als Kreuze oder Krippen; und die Feste werden in verschiedenen Ländern und Gruppen ganz unterschiedlich dargestellt und gefeiert. Die Berliner Mäzenin Prof. E. h. Gertrud Weinhold (1899–1992) hat auf ihren Reisen in alle Welt Tausende solche Bilder und Skulpturen zusammengetragen und damit zum ersten Mal so unterschiedliche religiöse Volkskulturen dokumentiert. Ihre Sammlung und Präsentation ging durch Erbvertrag an den Freistaat Bayern über und nun zeigt das Museum im Alten Schloss auf 2000 Quadratmetern mehr als 6000 von ihren Objekten. Der Leitgedanke ist eine vergleichende ökumenische Schau des auf der Grundlage der Heiligen Schriften entwickelten religiösen Festwesens. "Die Inszenierung des ´Gottesjahres` im Dialog der Kulturen war seinerzeit geradezu vorausschauend und birgt heute das didaktische Potential für Schule und Erwachsenenbildung zum besseren Verständnis der Konfessionenvielfalt moderner Gesellschaften", schreiben die Ausstellungsmacher. Nun ja: Erwachsene begreifen sehr wohl, dass es eine Ausstellung über Glaubensformen ist, eigentlich über die Menschen und ihren Glauben, aber für Kinder geht es ganz unmittelbar um die Inhalte. Wer also die Darstellung der Passionsgeschichte mit einem Kind betrachtet, muss sich mit dem eigenen Glauben oder Nicht-Glauben auseinandersetzen: Was bedeutet das stellvertretende Opfer, was die Kreuzigung, was glaubt man, was nicht, und wie erklärt man es, verständlich, und erklärt man es neutral? Eine spannende und herausfordernde Ausstellung!
Museum im Alten Schloss Schleißheim. Es war ein Land ... – Sammlung zur Landeskunde Ost- und Westpreußens. Diese Ausstellung zeigt die Entwicklung der alten Kulturlandschaft ab der Missionierung und Kolonisierung durch den Deutschen Orden. Der war 1190 zur Pflege verwundeter Kreuzfahrer gestiftet und 1198 zu einem geistlichen Ritterorden erhoben worden. 1226 bat Konrad von Masovien ihn um Hilfe gegen die heidmnischen Prussen; 1283 unterwarfen die sich und nahmen den christlichen Glauben an. Der Deutsche Orden schuf einen straff organisierten Staat und wurde neben der Hanse im 14. und 15. Jahrhundert die beherrschende Handelsmacht. Der Bund der Hanse war eine ökonomische Lobby für zahlreiche Städte unter der Führung von Lübeck; der Deutsche Orden war nichtstädtisches Mitglied und sein Hochmeister zählte zu den "Häuptern der Hanse".1410 aber wurde der Deutsche Orden in der Schlacht bei Tannenberg von Polen und Litauen besiegt, damit begann sein Niedergang.
Später galt Ostpreußen als "Kornkammer Deutschlands", bis ins 20. Jahrhundert waren die wichtigsten Wirtschaftszweige Getreide- und Kartoffelanbau, Viehzucht und Fortstwirtschaft. Eine wilde Landschaft: Wer weiß, dass es 1940 in Ostpreußen rund 1300 Elche gab? Er wurde zum Symboltier Ostpreußens, die Elchschaufel ist das Brandzeichen für Trakehner Pferde. Die Sammlung zur Geschichte und Kultur Westpreußens umfasst 400 Objekte. Man bestaunt die Bernsteine, Kinder begeistern sich für die Versteinerungen in ihnen, wunderbar ist der Glasschrank, in dem sie liegen, samt Tafeln, auf denen steht, in welchem Stein welches Tier gefangen ist - nur wäre es schön, wenn so etwas auch für Kindergröße erreichbar wäre, so dass man sie nicht hochheben muss. Erwachsene bestaunen dagegen das besondere Kunsthandwerk. Man lernt dank der Ausstellungsstücke und der informativen Texttafeln viel über Backsteingotik (Backsteine sind weicher als Natursteine, daher hat die Backsteingotik weniger komplizierte Bauformen als die französische Kathedralgotik), über religiöse Vielfalt in Ost- und Westpreußen, über die vielen Kriege und Eroberungen, aber auch über Künstler, Musiker, Wissenschaftler und Philosophen, die aus der Albertus-Universität Königsberg hervorgingen - die Universität stand nach dem Willen ihres Stifters Herzog Albrecht allen Gesellschaftsschichten offen. Nix wie hin!
Kultur in Stuttgart
Kunstmuseum Stuttgart. Zwischen System und Intuition: Konkrete Künstlerinnen. Zwölf konkrete Künstlerinnen werden ausgestellt und es ist das erste Mal in Deutschland, dass eine Gruppe konkreter Künstlerinnen Thema einer Ausstellung ist. Es sind Marcelle Cahn, Geneviève Claisse, Sonia Delaunay, Clara Friedrich-Jezler, Lily Greenham, Katarzyna Kobro, Verena Loewensberg, Vera Molnar, Aurelie Nemours, Charlotte Posenenske, Sophie Taeuber-Arp und Mary Vieira. Sie haben Beziehungen untereinander, zu Stuttgart beziehungsweise der Region um Stuttgart, und zur Sammlung des Kunstmuseums Stuttgart. So sammelten Heinz und Anette Teufel konkrete Kunst, Heinz Teufel zeigte im Jahr 1980 als erster Galerist konkrete Kunst - und die Sammlung der Teufels gehört zum Kunstmuseum Stuttgart. Die konkreten Künstlerinnen mussten lange auf ihre Würdigung warten, Verena Loewensberg verkaufte ihr erstes Werk, da war sie 38. Und Aurelie Nemours wurde erst mit 94 bekannt - durch eine Einzelausstellung im Centre Pompidou in Paris. Die Bilder von Aurelie Nemours und die Mode von Sonia Delaunay sind am schönsten, behaupte ich. Hingucken und ausprobieren: Die Sitzgelegenheiten, gestaltet von Kunststudentinnen der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Stühle, Rollen und Kugelscheiben mit aufgeschnallten Shaumstoffpolstern! Noch bis zum 17. Oktober 2021.
Kunstmuseum Stuttgart. Kamm, Pastell und Buttermilch. Willi Baumeister, Adolf Hölzel und Fritz Seitz. Man unterscheidet Kunst und Kunsthandwerk, ja, aber Kunst ist auch Handwerk, mal mehr, mal weniger. Willi Baumeister etwa sah sich auch als Handwerker, er stand immer sehr positiv zu aller Maltechnik und probierte verschiedene Materialien und Techniken, schraffierte Bilder mithilfe eines Metallkamms und mattierte schwarze Flächen mit Buttermilch. Das Kunstmuseum zeigt Werke der drei verbundenen Künstler (Hölzel war Baumeisters Lehrer, Seitz sein Schüler) in verschiedenen Räumen, die jeweils Techniken gewidmet sind: Kammzug, Sand und Spachtelmasse, Buttermilch, und Pastell. Noch bis zum 26. September 2021.
Juli 2021
Neue Krimis
Max Annas, Der Hochsitz. 1978, ein Dorf in der Eifel, nah der Luxemburgischen Grenze. Sanne und Ulrike sind ungefähr elf Jahre alt, sie haben Osterferien. Sanne muss viel auf dem Hof helfen, aber in der freien Zeit fahren sie mit ihren Rädern hin und her und verbringen Stunden auf einem nahen Hochsitz. Dort reden sie über Gott und die Welt und versuchen, ihr selbstgebasteltes Sammelalbum für die Fußball-WM zu füllen, wenn es sein muss, mit geklauten Bildern aus geklauten Hanutas. Bei der Post hängt ein Fahndungsplakat mit Fotos von RAF-Mitgliedern, eine Bank wird ausgeraubt, ein Motorradfahrer erschossen, die verrückte Gaby Teichert springt in den Bach, zwei merkwürdige Frauen geistern im Wald umher, und ein Amerikaner bereitet etwas vor. Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Am Nahesten ist man an Sanne, die in der Ich-Form erzählt; die anderen bleiben in der dritten Person. Es passiert viel und man fühlt - und bangt manchmal auch - mit den beiden Mädchen mit, am Schluss auch mit dem Amerikaner. Der Autor lässt seltsame Dinge passieren, immer mehr passt irgendwie zusammen. Aber man wünscht sich doch, dass weniger lose Enden blieben - oder liegt man mit den Ahnungen richtig?
Gut.
J.C. Tudor, Schneewittchen schläft. Gabe ist auf dem Heimweg, da sieht er ein kleines Mädchen im Rückfenster des Autos vor ihm - seine fünfjährige Tochter Izzy. Ihre Lippen formen das Wort "Daddy". Der Akku seines Handys ist leer, er fährt zu einer Raststätte und ruft zuhause an, und am Telefon meldet sich die Polizei. Die nächsten drei Jahre verbringt er damit, die Autobahnen abzufahren, immer auf der Suche nach diesem Auto. Und seiner Tochter. Fran und Alice sind ebenfalls auf den Straßen Englands unterwegs. Sie werden verfolgt. Fran weiß, was mit Izzy geschehen ist, und sie weiß auch, was geschehen wird, wenn sie es sagt. Eigentlich ein gut geschriebener Thriller mit einer mehreren parallel laufenden spannenden Handlungssträngen und ein paar wirklich überraschenden Wendungen. Aber manches ist sehr unwahrscheinlich, etwa Gabes langes Schweigen über sein Geheimnis gegenüber seiner Frau, oder Katies Verwandtschaft. Und die Szene S. 442 ff., obwohl es schon einige Hinweise gegeben hatte, ist einfach lächerlich und passt gar nicht.
Geht so. Bernd Ohm, Sechs Tage im Herbst. Henning Kollwey ist wohl situiert, verheiratet, hat zwei Töchter. Und plötzlich wird auf ihn geschossen. Der Anschlag muss mit seiner Vergangenheit zu tun haben, mit etwas, was er weiß - aber worin besteht dieses Wissen? Er gräbt nach und muss feststellen, dass innerhalb kürzester Zeit mehrere ehemalige Kameraden ums Leben gekommen sind, alles Menschen, mit denen er seit Jahrzehnten keinen Kontakt hatte - und die der RAF sehr nahe standen. Wie er auch, damals. Das Thema ist spannend: Ein Altlinker, ehemals der RAF Nahestehender, wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Kollwey ist ein vom Extremismus Fortbekehrter, ein zur Vernunft Gekommener, der nun ein gutes Leben lebt. Aber die Wandlung bleibt grau, man vollzieht sie nicht nach. Vielleicht soll sie in den Dialogen deutlich werden, aber viele Dialoge sind Erklärdialoge, etwa S. 56-70 zwischem ihm, dem Altlinken, und Jenny, der auch linken Tochter eines der just ermordeten Kumpanen, die allerdings unglaubwürdig gefasst ist angesichts der Tatsache, dass ihr Vater just ums Leben gekommen is. Oder zwischen ihm und dem Politiker Jochen Lohgerber (S. 246 ff.) Für die Bekanntgabe der unterschiedlichen Positionen hätten eine oder zwei Seiten gereicht. Wendungen wie die, dass Jenny den Protagonisten begleitet (S. 178), sind unwahrscheinlich. Immerhin entspinnt sich keine Liebesgeschichte.
Geht so.
Henri Faber, Ausweglos. Noah schlägt die Augen auf, er ist schwer verletzt und wird ins Krankenhaus gebracht. Aber er war in der Wohnung seiner Nachbarin aufgewacht - und die hat neben ihm gelegen, ermordet. Ihre Wunden weisen auf einen Serienmörder hin, der schon mehrere Frauen getötet hat. Der Polizist Elias ist seit Jahren auf der Spur dieses Mörders, er hält Noah für einen wichtigen Zeugen. Aber Noahs Frau Linda fragt sich, ob er ein Monster ist. Und was ist eigentlich aus dem Journalisten geworden, der auf der Spur des Mörders war? Und Elias´ ehemaligem Kollegen Mats?
Ein klug konstruierter Krimi um einen Serienmörder in Hamburg. Seine Opfer sind weiblich - wie so oft in Krimis, aber eben auch in der Realität. Der Autor schreibt viele Konfliktlinien: Linda ist eine erfolgreiche Wirtschaftsprüferin, ihr Mann Noah ein erfolgloser Autor - wer kümmert sich mehr um den anderen? Elias war bei der Mordkommission, der Serienmörder war sein Fall und der seines Freundes Mats, aber eine Reihe bösartiger Artikel stellten die Polizei bloß, und die beiden wurden ins Einbruchdezernat abkommandiert. Mats ist irgendwo versackt und Elias kommt jetzt wieder zur Mordkommission, wo Probleme mit dem Leiter lauern. Alle erzählen in der Ich-Form, und trotzdem weiß der Leser immer weniger, wem er eigentlich trauen kann, was geschehen ist und wer die Wahrheit sagt - oder nicht. Ganz guter Krimi, zwar nicht wirklich Tiefgang, aber er liest sich locker weg, macht Spaß und ist spannend. Ganz gut.
Juni 2021
Neue Krimis
Johannes Groschupf, Berlin Heat. Berlin, der erste Sommer nach der Corona-Pandemie. Es ist heiß, Touristen wollen feiern, und Tom Lohoff besorgt ihnen Wohnungen, Drogen und Adressen für Sex-Clubs. Dummerweise ist er ein spielsüchtiger Pechvogel und hat Schulden bei Krasniqi, einem sehr, sehr bösen Gangster. Gerade als er versucht, das Geld zusammenzugewinnen, sprechen ihn zwei Männer an und fragen ihn, ob er einen Bekannten von ihnen für einige Tage unterbringen kann. Tja: Der Bekannte ist ein stadtbekannter Rechtsaußen-Politiker, und der ist plötzlich - entführt. Nach Berlin Prepper schafft Groschupf es auch bei Berlin Heat, dass man einem völlig schrägen Loser atemlos zur Seite stehen möchte - wenn man ihn nicht gerade schütteln will, um ihn zur Vernunft zu bringen. Der liebenswerte Süchtige und Dieb stolpert in ein Unglück nach dem anderen, trifft eine falsche Entscheidung nach der anderen, und gerät in die Politik, ohne es zu wollen. Und lernt nebenher lauter tolle Frauen kennen. Hart, spannend und komisch. Sehr gut.
Andrea Di Stefano, Buona Notte. Der Gitarrist ist tot. Und Lukas Albano Geier, Ex-Zeugenschützer, Musiker, ein Deutscher am Lago Maggiore, wartet vergeblich auf die Kriminalkommissarin Cristina Conte. Sie scheint verschwunden. Geier forscht nach und das wird gefährlich. Spannender Krimi, der sich gut liest. Klar strukturiert, gut geschrieben. Dazu gute Charaktere und schöne Einzelheiten wie die Musik und der Uhu.
Sehr gut bis gut. Anne Goldmann, Alle kleinen Tiere. Rita, Ela, Marisa und Tom: Vier Menschen in der Krise. Und alle irgendwie mit einander verbunden. Es geht um üble, allerübelste Nachrede, um Wohnraum und seine Bewirtschaftung, und um explodierende Schlagsahne. Der seltsame Titel wird auf S. 76 erklärt. Vier ganz gute Geschichten, auch der Plot, wie sie zusammenhängen, ist interessant. Aber das Buch ist etwas mühsam zu lesen, die Autorin macht es spannend, indem sie dem Leser Informationen vorenthält, und das ist bei vier Menschen und ihren unterschiedlichen Geschichten etwas nervig. Geht so.
Mai 2021
Neue Krimis
Berhard Aichner, Dunkelkammer. David Bronski ist Mitte 40, kommt aus Tirol, ist Witwer und lebt als Pressefotograf in Berlin. Der einzige ihm nahestehende Mensch ist seine Schwester. Quasi-privat fotografiert er tote Menschen, die Fotos entwickelt er in seiner Dunkelkammer. Überraschend ruft ihn ein alter Bekannter von früher an. Der ist inzwischen obdachlos, säuft, und erzählt ihm, dass er beim Einbuch in eine leerstehende Wohnung er eine Leiche gefunden habe, die da seit 20 Jahren unentdeckt herumgelegen habe. Bronski könnte damit einen Coup landen, aber er kann es nicht allein, seine Chefredakteurin drückt ihm eine Journalistin aufs Auge, ausgerechnet aus dem Kulturteil. Und dann entdeckt Bronski, dass der Fall mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Und das verschweigt er seiner Chefin.
Dunkelkammer ist der erste Band einer neuen Reihe um den Pressefotografen David Bronski. Aichner spinnt einen düsteren Roman um ihn, um den Fall und um seine Vergangenheit. Da ist ein Gegner, der ihm immer einen Schritt voraus ist, und man rätselt lange, ob der auch mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Das Buch liest sich sehr gut, immer wieder Dialoge zwischen unterschiedlichen Protagonisten, unterschiedliche Blickwinkel, das macht das Ganze spannend. Auch der wirklich böse Gegner, der böse um des Böseseins zu sein scheint, ist eine gute Idee. Aber er wirkt nicht wirklich überzeugend, und auch die Reaktionen der Guten kann man oft nicht nachvollziehen, etwa Bronski (239 ff.) oder Mona (333 ff.).
Ganz gut.
Bernhard Jaumann, Caravaggios Schatten. Die Kunstdetektei von Schleewitz bekommt ihren zweiten Fall, und der geht ihrem Chef Rupert von Schleewitz näher, als ihm lieb ist: Ein alter Schulfreund bittet ihn zum Gang durch die Gemäldegalerie im Potsdamer Schloss Sanssouci, und dort, vor Caravaggios Bild "Der Ungläubige Thomas", bleibt der Freund stehen, sagt ein paar Worte und sticht auf das Bild ein. Damit nicht genug: Als das Bild zum Restaurieren gebracht wird - wird es entführt. Auch Jaumann hat es schwer. Der erste Band um die Kunstdetektei von Schleewitz, Der Turm der blauen Pferde, war spannend, und die Auflösung überraschend. Aber während der erste Band von einem Bild handelt, das es tatsächlich gegeben hat und das verschollen ist, geht es bei Caravaggios Schatten um den Ungläubigen Thomas, ein bekanntes Gemälde von Caravaggio. Das behindert ein bisschen die Phantasie, man denkt nicht mehr, so hätte es gewesen sein können, sondern man vergleicht die Geschehnisse im Buch mit denen, die tatsächlich passieren könnten. Und das ist sehr unwahrscheinlich, und schlimmer, nicht nachvollziehbar. Auch das Verhalten des Rupert von Schleewitz ist nicht nachvollziehbar, trotz aller Andeutungen - die letztlich bloß dazu führen, dass man den Grund für das Attentat vorausahnt. Geht so. Kai Hensel, Terminal. Jana hat das Internat geschmissen und ist nach Berlin gegangen, um für ihren Traum, die Teilnahme an einer Motorradralleye, Geld zu verdienen. Aber in Berlin gerät sie in Machenschaften um den neuen Flughafen. Dessen Baumängel sind Selbstläufer und der Flughafen bringt Unglück über immer mehr Menschen. Auch Jana gerät in seinen Bann. Die Geschichte von Jana ist recht spannend, ebenso die Geschichte eines Flughafens, der immer neue Mängel bekommt, als eine Art Eigenleben. Aber beide Geschichten werden bloß angedeutet. Schade, denn gerade letztere hat eigentlich Potential. Heinrich Steinfest hat mal so etwas über den Stuttgarter Bahnhof geschrieben, da wurde das Absurde aber viel konkreter. Hier wird es nur angedeutet (z.B. S. 134), schade. Ganz gut geschriebener Krimi, der leider etwas wirr ist. Geht so. Geht so. April 2021
Neue Krimis
Steffen Kopetzky, Monschau. Deutschland 1962, die Zeit des Wirtschaftswunders und des Wettrüstens. Und da brechen in der Eifel, im Kreis Monschau, die Schwarzen Pocken aus. Eigentlich waren sie in Deutschland fast ausgerottet, aber ein Monteur hat sie aus Indien mitgebracht. Vom Autor des vorliegenden Romans, Steffen Kopetzky, erschien im März 2020 ein Artikel im Spiegel über den Ausbruch der Pocken im Kreis Monschau, ein Jahr später erschien der vorliegende Roman, der die historischen Gegebenheiten aufnimmt, sogar einige Namen und Personen wie den mutigen Arzt Günter Stüttgen, der im Krieg in der Eifel Leben von Freund und Feind gerettet hatte und nun, 20 Jahre später, zurückkehrt, um wiederum Leben zu retten. Dessen Assistent und Doktorand Constantin Orfanos heißt im Roman Nikolaos Spyridakis, und die Otto Junker GmbH, der größte Arbeitgeber der Region, der Hochtemperaturöfen herstellt und in alle Welt verkauft, heißt im Roman Rither-Werke. Ausgedacht (wahrscheinlich) hat sich der Autor die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Assistenten und der Erbin der Rither-Werke, beider Liebe zum Jazz und eine noch ganz andere Gefahr, in der Stüttgen schwebt. Ein spannendes Buch, das die schreckliche Aktualität eines kaum bekannten Ereignisses zeigt, aber nicht daraus lebt - auch ohne die Aktualität durch die Corona-Pandemie wäre es ein sehr guter Roman. Monschau ist kein Krimi im eigentlichen Sinn, mit Mord und Aufklärung, aber es hat die Spannung eines Krimis - werden die Ärzte siegen, werden sie die Menschen zur Vernunft anhalten, werden die Menschen akzeptieren, dass ihr geliebter Karneval im Jahr 1962 ausfällt? Toll. Axel Simon, Goldtod. Berlin, 1889. Ein goldlockiger Junge verschwindet, taucht wieder auf und schweigt fortan. Mehrere Bankiers werden ermordet. Irgendwie sind Diamanten im Spiel. Deutsche wollen Bodenschätze aus Afrika. Der zweite Fall des versoffenen Privatermittlers Gabriel Landow: Und der sieht mehr, als er sehen soll, und er sieht gleichzeitig mehr und weniger als die Polizei. Wie bei Eisenblut, seinem ersten Krimi um Landow, arbeitet der Autor auch in Goldtod auf mehreren Ebenen: Er folgt Landow und seinem Kompagnon Orsini beim Versuch, das Rätsel um die Mordserie an Bankiers zu lösen, und darunter brodelt eine Geschichte um verschwundene Kinder und eine weitere um Kolonialismus. Eigentlich eine gute Idee, mehrere Geschichten zu erzählen, von denen der Ermittler nur einen Teil versteht, indem man auch anderen Personen folgt; die TV-Serie Goliath mit Billy Bob Thornton erzeugt auf ähnliche Art Spannung, vor allem bei der 2. Staffel, als es oberflächlich um Drogenhandel, Machtkämpfe zwischen Kartellen und die Unterwanderung von Politik und Verwaltung geht, und daneben, von Goliath nicht bemerkt, um eine grauenvolle Geschichte von Amputationen. Aber Goldtod ist etwas wirr, die einzelnen Stränge sind nicht klar genug, so verliert man leicht den Überblick. Geht so. Matthias Wittekindt, Vor Gericht. Berlin und nahe bei Dresden, 1990 und jetzt. Jetzt: Manz ist im Ruhestand und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Dresden und rudert mit ein paar anderen älteren Männern auf der Elbe. Dann bekommt er plötzlich einen Brief: Er soll in Berlin als Zeuge zu einem Vorgang von 1990 aussagen; eine alte Frau war erwürgt worden, er ermittelte, aber wenige Wochen später war er mit Familie in die Nähe von Dresden gezogen. Nun gibt es neue Möglichkeiten bei der DNA-Analyse und der Fall wird neu aufgerollt. Manz lässt sich die alten Unterlagen schicken und rekapituliert den Fall und sein damaliges Leben. Wittekind schreibt immer so seltsame Bücher mit Personen, in die man sich nicht so recht einfühlen kann. Das ist hier nur zum Teil der Fall, er lässt den Leser an Manz´ Überlegungen teilhaben, an seinen erwachenden Erinnerungen, an seinen Gefühlen. Man fragt sich, wer es gewesen sein kann, wer den Mord begangen hat, aber vor allem lebt man mit der Arbeit von Polizisten und Wissenschaftlern. Spannendes Buch. Sehr gut. Karsten Dusse, Achtsam morden am Rande der Welt. Björn Diemel hat eine Midlife-Krise und sein Achtsamkeits-Coach rät ihm, auf dem Jakobsweg zu pilgern. Diemel macht sich auf den Weg, aber jemand scheint ihn ermorden zu wollen. Karsten Dusse hat´s nicht leicht: Sein erstes Buch der Achtsam morden-Reihe um den Rechtsanwalt Björn Diemel war ein origineller Bestseller, und daran werden nun seine weiteren Bücher gemessen. Schon der zweite Band, Das Kind in mir will achtsam morden, fiel demgegenüber etwas ab, und der dritte Band, Achsam morden am Rande der Welt, erst recht. Dabei ist es eine gut geschriebene leichte Krimi-Lektüre. Aber während der erste Band das Prinzip der Achtsamkeit herrlich durch den Kakao zog und spannend und lustig war, weil plötzlich lauter Leichen Diemels Weg pflastern, während er nach den Prinzipien der Achtsamkeit lebt und handelt, und damit die Prinzipien der Achtsamkeit vielleicht nicht ad absurdum geführt aber doch sehr veräppelt werden, funktioniert dieses im vorligenden Band nicht. Dusse hätte die Prinzipien der Religion und des Pilgerns durch den Kakao ziehen können, aber das geschieht nicht. Im Grunde ist es ein Krimi, der zufällig auf einer Pilgerfahrt spielt, und ab und zu kommt ein Satz zur Achtsamkeit oder zum Pilgern drin vor. Aber es ist nicht wirklich lustig. Auch fehlen Details aus Diemels Welt, im ersten Band etwa ist Diemels Ärger mit der Kanzlei, in der er arbeitet, sehr unterhaltsam, und Details wie, dass er seinem Arbeitgeber durch Halbwelt-Mandanten viel Umsatz brachte, gleichzeitig aber eben wegen dieses Umgangs in der Kanzlei geächtet war, hatten den ersten Band abgerundet. Oder die Idee, sich mit Gangstern zu treffen, und sie im Kindergarten auf Kinderstühle zu setzen, war ein Detail von der Art, wie man es jetzt vermisst. Das vorliegende Buch ist zu einfach. Nichtsdestotrotz, es liest sich gut. Ganz gut. Tom Hillenbrand, Montecrypto. Das Flugzeug von Gregory Hollister, einem kalifornischen Start-up-Unternehmer, ist über dem Meer abgestürzt. Man findet vom Flugzeug ein paar Trümmer und von Hollister einen Teil eines Fingers von ihm. Hollister soll ein ungeheures Vermögen hinterlassen haben, das aus Bitcoins besteht. Hollisters Schwester beauftragt Privatdetektiv Ed Dante mit der Suche. Und der fliegt durch die Weltgeschichte, Los Angeles, New York, Frankfurt, Zug... Aber er ist nicht der einzige: Ein weltweiter Hype setzt ein, und lauter Nerds und Geeks wetteifern darum, Hollisters Schatz zu heben. Und mit der Zeit fragt er sich, ob es wirklich nur um Bitcoins geht. Was passiert mit Bitcoins, wenn der Besitzer das Passwort vergisst? Wenn er stirbt, ohne das Paswort zu hinterlassen? Gute Idee für einen Thriller, solches ist schon vorgekommen. Oder auch, dass jemand sein eigenes Passwort vergisst. Hillenbrand schreibt darüber, und er schreibt flüssig, allerdings nerven manchmal Anglizismen und andere Holprigkeiten, die vielleicht von einem längeren Auslandsaufenthalt des Autors herrühren (Jemand hat einen Punkt, S. 144, 381 u.ö., sitzen konjugiert man mit dem Hilfsverb haben, nicht sein (S. 177), es geht nicht um die ganzen anderen Coins, sondern um alle anderen Coins (S. 179), "präferiertes" Heißgetränk klingt affig (S. 349)): Da hätte ein Lektor aufpassen sollen. Tom Hillenbrand hat einen Thriller geschrieben, gute Idee, solides Handwerk, zwar literarisch nichts Besonderes, macht aber Spaß zu lesen. Ganz gut.
Kultur und so
Vormerken: Dienstag, 28. April 2021, 18 Uhr: Berliner Religionsgespräche zum Thema Antisemitismus // Livestream aus der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
März 2021
Neue Krimis
Merle Kröger, Die Experten. Deutschland und Ägypten, Anfang der 1960er Jahre. Rita Hellberg, noch minderjährig, besucht ihre Eltern in Ägypten. Dort arbeitet ihr Vater als Ingenieur. Und der entscheidet: Die Familie gehört zusammen und Rita muss bleiben. Sie liebt ihre kleine Schwester, vermisst ihren großen Bruder, der in Deutschland geblieben ist, und wird von ihrer Mutter zum Putzen abkommandiert. - Der damalige Präsident Nasser will eine afrikanische Rüstungsinsdustrie aufbauen und Ritas Vater arbeitet an einem Jagdbomber mit. Rita genießt das Leben in diesem Land im Umbruch und im Aufbruch, aber sie erlebt Anschläge mit und allmählich wird ihr klar, dass sie auch mitten in einem Konflikt steht. Stefanie Schulte Strathaus ist Filmkuratorin. Sie gab den Anstoß zu diesem Buch, ihr Großvater war ein solcher "Experte" wie Rita Hellbergs Vater, und ihre Mutter lebte als Kind in Ägypten. Über diese Geschichte ist sie gestolpert und Merle Kröger hat daraus ein höchst spannendes Buch gemacht, einen Roman mit dokumentarischen Aspekten. In eine Abfolge realer historischer Ereignisse hat sie die Familie Hellberg hineingedichtet, eine Familie, die viel von der Familie von Frau Schulte Strathaus hat. Mich hat dieser Thriller gefesselt, mit seinem kaum bekannten geschichtlichen Hintergrund, mit den Familienmitgliedern, die alle glaubhaft waren, mit Rita, die erwachsen wird und nicht mehr weiß, auf was sie sich verlassen kann. Toll! Christoph Wortberg, Trauma. Anfang einer neuen Serie um die Münchener Mordermittlerin Katja Sand. Zwei Tote: Einer in einem See ertrunken, der andere in einem Kühlschrank erstickt. Beide Todesarten haben mit Traumata der Getöteten zu tun. Und es gibt noch etwas anderes, das sie verbindet. Dennoch ist Sand die Einzige, die an Mord, nicht an Selbstmord glaubt. Aber sie leidet selber unter einem Trauma, und dann ist auch noch ihre Tochter in der Pubertät. Eine spannende Geschichte: Zwei Tote, eine Ermittlerin, und keiner, der ihr glaubt. Traumata, die Geschichte der Traumaforschung und die Auswirkungen von Traumata werden kurz und knapp und verständlich (S. 272 ff.), und die Ermittlungen sind interessante. Aber die Auflösung des Falles ist nicht überzeugend, es wirkt so, als hätte der Autor sich etwas möglichst Spektakuläres über Traumata ausdenken wollen. Kein Buch, das ich behalten und ein zweites Mal lesen würde. Dennoch ist dieses Buch eine recht spannende Lektüre für einen oder zwei freie Tage. Und im September soll Katja Sands zweiter Fall erscheinen.
Mittel bis gut. Ada Fink, Blütengrab. Mecklenburg, August 1975 und Mai 1993. Mädchenleichen mit germanischen Runen in die Haut geritzt auf Gräbern aus blühenden Ebereschenzweigen. Kommissarin Ulrike Bandow und ihr neuer Kollege Ingo Larsen aus dem Westen sollen ihren ersten gemeinsamen Fall aufklären. Beide kämpfen auch gegen dunkle Schatten aus ihrer Vergangenheit. Nun ermitteln sie bei "Gewalt-Nazis" und "Öko-Nazis", bei Schlägern und Preppern, und folgen Spuren in die deutsch-deutsche Vergangenheit. Spannender Krimi, spannendes "Personal", wenn auch nicht immer überzeugend und manchmal vielleicht etwa klischeehaft (Polizisten als einsame Wölfe.) Fink wechselt die Sichtweisen, wenn etwa ein junger und etwas doofer Mann namens Marc sich durch jemandes Blicke genervt fühlt, dann "glotzt" der Mensch (S. 328); sie fühlt sich in ihre Personen ein (guter Gedanke mit dem Wettbewerb des Unglücks, S. 329 f.). Oft könnte sie anschaulicher schreiben, statt z.B. "einen für die siebziger Jahre typischen Anzug" könnte sie diesen Anzug beschreiben (S. 364). Die Auflösung finde ich nicht sehr befriedigend, die Motive nicht nachvollziehbar. Das Ende dagegen, der Ausblick für die beiden Mädchen, gefällt mir, obwohl er eigentlich sehr problematisch ist. Insgesamt eine angenehme Unterhaltung für einen oder zwei freie Tage. Ganz gut.
Febuar 2021
Neue Krimis
Catrin George Ponciano, Leiser Tod in Lissabon. Lissabon, 1975 und Lissabon, in einem Sommer, ungefähr heutzutage. In einer Kirche wurde ein Mensch erstochen, der Bankier Elías Inácio. Er hatte sich mit seinem Bruder, dem Bildhauer Jósua Inácio gestritten. Inspetora-Chefe Dora Monteiro aus dem Morddezernat der Kriminalpolizei Lissabon, die ihren Tag mit Pralinen beginnt, Flamenco tanzt und gelegentlich Besuch von einem zahmen Raben namens Alfonso-Henrique bekommt, und, ach, sich ab und zu ein amouröses Abenteuer gönnt, Dora also stößt auf ein altes Foto. Darauf ein ehemals mächtiger und seit Jahren für tot gehaltener Mann. Sie verfolgt diese Spur und gerät in ein altes Netzwerk, das in die Zeit des Militärputsches, der Nelkenrevolution, hineinführt. Spannendes Thema: Der Militärputsch und seine Folgen. Die Protagonistin Dora wird hoffentlich noch mehr Fälle lösen, sie ist eine gute Figur, die Spaß macht, keine alte Alkoholikerin und auch kein unreifer Idiot: Ihre Macken sind gerade so, dass sie interessant ist. Das Buch liest sich gut. Aber es bleibt nicht im Gedächtnis, es sind ein paar Figuren zu viel und ein überraschendes Ende ist zwar gut, aber die losen Enden, die dorthin führen, hätte man schon gern früher gesehen. Das könnte allerdings auch der Tatsache geschuldet sein, dass der leise Tod in Lissabon Poncianos Krimi-Debut ist. Ich hoffe auf weitere Fälle.
Ganz gut.
Olivia Monti, Sterbewohl. Deutschland, in der Zukunft. Das Land ist nur noch eine Scheindemokratie. Der Staat will Rentenzahlungen vermeiden und veranstaltet für ältere Menschen Sterbeseminare in Luxushotels. Dort sollen sie freiwillig eine Giftpille namens Sterbewohl einnehmen. Nadja, Anna, Max und Fred leben in einem Mietshaus mit vier Wohnungen, sie sind über 65 und bekommen die Einladung fürs Seminar, im Hotel Paradies auf Fehmarn. Sie wollen noch nicht sterben, fahren trotzdem hin, wann werden einem schon ein paar Tage Luxushotel bezahlt, und merken, dass da was nicht stimmt. Manche Alten freuen sich zu sehr aufs Sterben, andere wollen nicht sterben und verschwinden plötzlich. Was ist da los? Monti greift ein wichtiges Thema auf, eigentlich zwei: Erstens die leeren Rentenkassen und die Würde der alten Menschen und zweitens, das aber eher am Rande, die Frage eines selbstbestimmten Todes. Eine gute Idee, die Themen in einen gut lesbaren Krimi zu verpacken. Aber die Autorin findet den Ton nicht, sie erzählt weder ironisch, obwohl Ironie und Satire gut zum Thema passen würden, noch macht sie es besonders aufregend, etwa mit Cliffhangern, sympathischen Protagonisten, unsympathischen Antagonisten o.ä. Es gibt solche Figuren, aber sie bleiben seltsam gleichgültig. Das Handeln der vier Alten wird nicht nachvollziehbar, die Frage nach des bösen Morlocks paranormalen Fähigkeiten wird nicht verfolgt, und so stellen sich weder wirklich Spannung noch Mitgefühl ein. Nicht so gut.
Januar 2021
Neue Krimis
Jan Seghers, Der Solist. Berlin, September 2017. Der erste Fall eines Ermittlers namens Neuhaus, der von Frankfurt in die neue Berliner "Sondereinheit Terrorabwehr" geht. Die sitzt in einer Baracke auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Und dann beginnt eine Mordserie: ein jüdischer Aktivist, eine muslimische Anwältin, und noch mehr Menschen sterben. Neuhaus ist eher ein Solist. Seine Kollegen trauen ihm noch nicht so recht, nur die junge Deutschtürkin Suna-Marie. Er versucht herauszufinden, was die Fälle verbindet, aber die Kollegen sind nicht immer eine Hilfe. Dafür gibt es Gründe.
Der Polizist ist Sohn einer RAF-Sympathisantin. Ebenso ungewöhnlich ist der Hintergrund von Suna-Marie, Spitzname Grabowski nach einem blinden alten Maulwurf, ihre Eltern haben ein Blumengeschäft in der Sonnenallee; türkische Blumenläden scheinen mir eher unwahrscheinlich, als ich in der Sonnenallee lebte, gab vielmehr ein alteingesessener (wenn auch deutscher) Blumenladen auf. Suna-Marie ist emanzipiert, lebhaft, und bietet dem eigenwilligen Polizisten Paroli. Auch in diesem Buch spielen Rechtsextreme eine böse Rolle, wie in vielen Krimis in dieser Zeit, wirkt hier aber nicht gekünstelt. Dennoch sind die Figuren ein bisschen "geplant", der einsame Musik hörende Bulle (der seine Schallplatten seltsamerweise in einer großen Ledertasche unterbringen kann, S. 51), die emanzipierte (Deutsch-)Türkin mit Eltern, die einander und ihre Kinder so innig lieben, dass die Tochter sich nicht getaut, zu heiraten und Kinder zu bekommen (S. 103). Schön ist das Neuköllner Lokalkolorit, der Autor hat gut recherchiert, nur steht das Hotel Mercure nicht am Hermannplatz, sondern am Rollberg. Sonst stimmt es, sogar die Telefonzelle am Herrfurthplatz mit den Büchern zum Tauschen. Aber können sich Polizisten das Saint Amour leisten, in dem die Frösche einverstanden sind, totgestreichelt zu werden, damit Menschen ihre Schenkel verspeisen können? (S. 192 ff.) Gut geschrieben, gute Dialoge (S. 107 f.), und die Weißstörche (S. 106) würde ich auch gern sehen.
Gut bis sehr gut.
Thomas Ziebula, Abels Auferstehung. Leipzig, Februar 1920. Paul Stainer ist nicht mehr nur durch den Krieg traumatisiert, sondern auch durch den gewaltsamen Tod seiner Frau. Und nun muss er gleich mehrere Morde aufklären; die Leiche eines Soldaten weist frische Wunden von einer Mensur auf - er war Mitglied einer jüdischen Studentenverbindung gewesen und Stainer recherchiert nun zu radikalen Rechten in Leipzig. Ein weiterer toter Soldat wird in Basel aus dem Rhein geborgen und die junge Journalistin Marlene Wagner will herausfinden, ob es vielleicht ihr vermisster Bruder ist, und recherchiert dann auch zu den Morden. Sie schreibt einen polemischen Artikel über Mensuren und gerät in den Fokus der radikalen Rechten, und sie verfolgt die Spur eines Zigarettenetuis, das der eine Soldat bei sich hatte, Werbegeschenk eines Leipziger Rauchwarenhändlers. (Fellhändlers!) Ziebula lässt wieder die Zeit um 1920 auferstehen, die Recherchen im rechtsradikalen Milieu lesen sich spannend. Aber die Geschichte ist etwas wirr, mehrere Handlungsstränge laufen nebeneinander, es steuert nicht wirklich auf das Ende zu, obwohl das wiederum überraschend ist und dadurch interessant, das könnte man mit mehr Klarheit in der Geschichte besser genießen. Die Sprache ist etwas gekünstelt ("etwas Triumphierendes funkelte in seinen eisblauen Augen", S. 214), eine Sexszene ist schlecht geschrieben ("Er nahm sie auf eine Art, die Marlene nicht wirklich genießen konnte" und dann eine Aufzählung, warum denn nicht - es fehlte bloß noch die Nummerierung dieser Gründe, S. 215), der Feminismus wirkt unecht ("´... das wird unseren Lesern gefallen und unserem Chef auch.` ´Und unseren Leserinnen hoffentlich auch.`" S. 187, ähnlich S. 251, und "´Fräulein` kann ich nicht leiden." S. 208) Gab es wirklich vor 100 Jahren Diskussionen um gegenderte Sprache? Der Autor hat das Buch Gerdrud Senftleben gewidmet, der Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Sie wurde aber erst 1906 geboren, im Jahr 1920 war sie gerade mal 14. Das ist wie das Buch im Ganzen: Irgendwie steht man dahinter und findet es richtig, irgendie passen die Dinge aber auch nicht so wirklich zusammen. Der erste Band der Reihe um Paul Steiner war deutlich besser. Warten wir den dritten Band ab. Mittel bis gut.
Volker Kutscher, Olympia. Der achte Fall des Gereon Rath. In Berlin finden die Olympischen Spiele statt. (Kleine schulmeisterliche Fußnote: Kutscher schreibt immer "Olympiade", wenn er die Spiele meint. Dabei bezeichnet dies Wort den Zeitraum zwischen zwei Spielen.) Im Olympischen Dorf ereignet sich ein Todesfall, und Gereon Rath wird dorthin abkommandiert, um ihn in verdeckter Mission aufzuklären. Die Machthaber, Raths Auftraggeber, glauben, dass Kommunisten die Spiele sabotieren und in der Tat findet Rath im Dorf einen Mitarbeiter mit kommunistischer Vergangenheit, der am Tatort war. Die SS verhört und foltert den Verdächtigen, aber dann geschieht der nächste Mord. Rath steht unter Druck. Auch privat läuft es nicht so rund: Er musste amerikanische Olympiatouristen bei sich aufnehmen und daraufhin hat seine Ehefrau Charly die gemeinsame Wohnung verlassen. Und der frühere Ziehsohn Fritz ist mit dem Jugendehrendienst im Olympischen Dorf, kommt den Ereignissen zu nahe, und gerät auch ins Blickfeld der SS. Gut konstruiert. Auch geschichtlich interessant, es macht Spaß, einen Krimi vor diesem Hintergrund zu lesen. Aber kein "großer" Krimi: Mir fehlt der Mut zur Bosheit. Gereon Rath und vor allem Charly Ritter sind etwas zu gut. Der Krimi ist politisch korrekt und ich will das eigentlich nicht als Schimpfwort verstanden wissen. Zum Beispiel sterben viele Leute, die nur zum Sterben im Buch auftauchen, und sonst keine Rolle haben. "Nur" eben, das Mörderische im Nazi-Regime zu zeigen. In diesen Szenen werden ihre letzten Gedanken beschrieben, so dass man solidarisch mit den Opfern ist. Aber es ist eben auch etwas langweilig. Man muss nicht darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist. Man fühlt mit den Menschen mit, die gegen das NS-Regime sind: Das ist ein Verdienst des Autors, seine Absicht sowieso. Aber man vergisst sie auch schnell. Und der "gemeine Nazi" ist vielleicht auch nicht so doof wie beschrieben, auch wenn man sichs so wünschte (S. 286). Gut bis sehr gut.
Dezember 2020
Neuer Krimi
Wolfgang Schorlau, Kreuzberg Blues. Georg Dengler und seine Freundin Olga haben auf etwas schräge Art einen Haufen Geld verdient, aber sie können sich nicht drauf ausruhen, denn eine Freundin von Olga bittet sie um Hilfe: Sie lebt in Kreuzberg, zwischen Townhouses, Plattenbauten, Türkischer Community und Schwarzem Block - und ein Bauunternehmer will die Mieter aus zwei Häusern loswerden und die Kita daneben abreißen. Dengler und Olga fahren nach Berlin, müssen plötzlich um das Recht auf Wohnen kämpfen und dann tauchen da plötzlich noch ganz andere Menschen und Mächte auf. Schon das dritte Buch über die Methoden von Immobilienhaien, nach "Die Schlange" von Martin Wehrle und "Gott wohnt im Wedding" von Regina Scheer: ein fettes Problem, kennt wohl jeder in der Großstadt und man kann nur hoffen, dass man in einer Wohnung lebt, die kein solcher Hai "entmieten" will. Auch wenn Georg Dengler im neuen Krimi von Wolfgang Schorlau noch andere Gegner hat. Scheer hat die beste Literatur gemacht, Schorlau aber hat das kurzweiligste Buch geschrieben. Wieder greift der Autor Personen der Zeitgeschichte auf,ist etwa äußerst kritisch gegenüber dem früheren Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen (Herr Meesen, z.B. S. 186), aber auch wieder gegenüber dem früheren Chef des Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz Helmut Roewer (Harry Nopper, z.B. S. 188, man kennt ihn aus "Die schützende Hand"). Wie immer sieht Schorlau große Verschwörungen hinter der Politik (z. B. zum Wandel der Einstellung gegenüber Geflüchteten S. 248), aber was solls, es könnte ja sein, es gibt ein paar kleinere Ungenauigkeiten (S. 116: Nicht Paragraph im Grundgesetz, sondern Artikel). Aber Kreuzberg Blues liest sich einfach sehr gut, nimmt sogar schon Corona auf, hat mit dem Immobilienmarkt ein wichtiges und aktuelles Thema und ist sehr spannend. Was will man mehr? Toller Krimi!
Oktober/November 2020
Neue Krimis
Heinrich Steinfest, der Chauffeur. Paul Klee ist Chauffeur. Er wirkt ganz zufrieden, nach Abitur, ein paar Semestern Jura, mit wenig Privatleben, aber immer zwei Büchern gleichzeitig zum Lesen. Doch dann geschieht ein Unfall und er trifft die falsche Entscheidung. Er hört auf, Chauffeur zu sein, kauft ein kleines Haus und macht daraus ein Hotel, zusammen mit der Maklerin, in die er sich verliebt. Und dann geschieht noch etwas, und er macht sich auf eine Suche. Typisch Steinfest, eine Mischung verschiedener Genres, ein bisschen Krimi, ein winziges bisschen Fantasy, aber vor allem Roman. Endlich mal wieder ein Buch, das ich nicht weglegen mochte aber natürlich weglegen musste, denn ab und an esse, schlafe oder arbeite ich ja auch. Und ich freute mich immer darauf, weiterlesen zu können. Wie immer und immer besser kommt Steinfest bei seinen Erklärungen vom Hundertsten ins Tausendste, und alles macht Spaß. Ich habe einiges nachrecherchiert, andere Leser wohl auch, etwa auf S. 196 erwähnt er ein Buch "Als die Libellen starben", als ich das bei Google eingab, wurde es gleich ergänzt, wenn auch mit "sterben", und dabei gibt es das Buch nicht einmal. Und auf S. 216 recherchiert Klee bei Wikipedia den Ort Wesenufer: Der Ort verfüge (a propos: das Wort "verfügen" nutzt Herr Steinfest viel zu oft, gegen Ende hatte der Lektor vielleicht nicht mehr genug Zeit?) "über einen einzigen Schriftsteller", da lacht man sich schon mal schlapp, und noch viel mehr, wenn man nach dem Schriftsteller guckt: Der heißt Martin Selle und hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag, demzufolge er mit seinen Büchern "Multiwert" bieten will, er absolvierte sogar mal eine Ausbildung zum Akademischen Immobilienfachberater. Das alles ist so schön, das hätte sich Steinfest auch ausdenken können - aber Selles Eintrag gibts schon seit 2011; im damaligen Eintrag steht auch noch: "Schüler verleihen Martin Selle für seine Geschichten Auszeichnungen wie ´Ehrenautor der Schüler der HS Esternberg für die meistgelesensten [sic!] Bücher an der Schule`." Der Chauffeur ist ein tolles Buch. Christian von Ditfurth, Terrorland. In Berlin explodiert ein Bus mit Touristen, aber nicht nur Touristen. Mehrere Diplomaten werden ermordet, vor allem Russen. Kommissar Eugen de Bodt und sein Team verstehen es nicht, de Bodt hat immerhin eine Idee, aber ob die stimmt?
Solides Thrillerhandwerk, eigentlich auch spannend, aber viiiel zu lang, ich habs bei Seite 300 (von insgesamt 442) gesteckt. De Bodt mit seinen Hegel-Zitaten ist originell, die Dialoge sind spritzig, aber es trägt nicht über diese Länge. Ein paar Unstimmigkeiten (dass ein Killer vergisst, sich zu ent-parfümieren (S. 245) ist sehr unwahrscheinlich, und "Erika" ist, finde ich, ein Name, der zu einer Berufsmörderin nicht passt. "Killerin" ist auch eine Berufsbezeichnung, über die ich immer stolpere, obwohl es sie schon seit Kill Bill 2 gibt. Mittel.
Tilman Spreckelsen, die Nordseefalle. Der junge Anwalt Theodor Storm (ja, genau DER, der war tatsächlich nicht nur Schriftsteller, sondern auch Anwalt, auch wenn dieser Fall Spreckelsens Erfindung ist) hat einen neuen Fall: Der versoffene Tagelöhner Hinrich Dahl wird eines Morgens mit einem blutigen Messer neben der Leiche eines fremden Mannes gefunden. Zunächst kann Dahl sich an nichts erinnern. Dann aber doch, und Storm und sein Schreiber Peter Söt reisen nach Wyk auf Föhr, wo der dänische König, der Dichter Hans Christian Andersen und ein freundlicher Ex-Kommilitone Storms sich aufhalten. Es geht um Aquavit, eine Schatzkarte der verschwundenen Insel Rungholt und die royale Vaterschaft... Spreckelsen lässt den Schreiber aus seiner Sicht erzählen, so folgt man Storm und kommt ihm dennoch nicht zu nahe. Und das Ende ist überraschend. Ein guter Krimi, der am Meer spielt, gerade das Richtige für ein paar freie Tage in den kommenden Herbststürmen.
Amelie Fried, Die Spur des Schweigens. Julia, knapp 40, schlägt sich mühsam als freie Journalistin durch. Sie bekommt einen Auftrag, von dem weder der Chefredakteur noch sie überzeugt zu sein scheinen, aber sie macht sich an die Arbeit: In einem wissenschaftlichen Institut soll es sexuelle Übergriffe geben. Erst glaubt sie es nicht, aber dann sind betroffene Frauen bereit zur Aussage - und sie lernt den Hauptverdächtigen kennen, den sie sehr attraktiv findet. Und sie stößt auf die Verbindung zu ihrem Bruder Robert, der seit 12 Jahren verschollen ist. Mehrere Geschichten laufen parallel, aber man verliert nicht den Überblick. Julia und ihre Recherche, die Geschichte um ihren Bruder, und das Schicksal ihrer Mutter, und dazwischen Geschichte um Liebe und Freundschaft. Klare Handlungsstränge, wobei mich persönlich die Liebesgeschichten am wenigsten interessieren, aber man muss ja erklären, warum Julia den Hauptverdächtigen so attraktiv findet. Julia gerät in viel Schlamassel, und ob sie da wieder rauskommt, ist spannend. Solides Handwerk, guter Krimi. Petra Hammesfahr, Nach dem Feuer. Die Polizei rettet einen Jungen davor, sich in einen brennenden Wohnwagen zu stürzen. Er kommt ins Krankenhaus und Hauptkommissarin Rita Voss versucht herauszufinden, wie er heißt, woher er kommt, und was passiert ist. Sie weiß bald nicht mehr, ob er geistig zurückgeblieben oder hochintelligent ist. Der Junge hat ein schreckliches Geheimnis. Und er scheint in großer Gefar zu schweben. Mehrere Handlungsstränge, und man findet erst allmählich heraus, wer was getan hat, und warum. Das ist eigentlich spannend. Aber die viele Personen und ihre Beziehungen zueinander sind ziemlich wirr. Ich habe es nur bis Seite 214 geschafft und dann abgebrochen. Mittelmäßig.
Letzter Museumsbesuch vor dem Lockdown II: Museum RitterDas Museum Ritter in Waldenbuch mit seiner Kunst, so quadratisch wie die Schokoladentafeln, zeigt von Mitte Oktober 2020 bis zum 11. April 2021 zwei Ausstellungen. Im Obergeschoss "Promenades en carré" von Vera Molnar. Die Künstlerin gilt als besonders wichtige Vertreterin der konstruktiv-konkreten Kunst und sie ist eine der ersten Künstlerinnen überhaupt, die Werke mit dem Computer schuf. Sie wurde 1924 in Budapest geboren und lebt seit 1947 in Paris. Sie ist mit mehreren Werken in der Sammlung Marli Hoppe-Ritter vertreten. Man sieht violette Kreise und Halbkreise, verrückte Rauten, grüne, blaue und rosa Quadrate, seltsame gerade Formen, man hat Lust,m davorzustehen und sich zu versenken in die Bilder. Im Erdgeschoss HIGHLIGHTS. Lichtkunst aus der Sammlung etwa mit "LOVE" von Maurizio Nannucci gleich am Beginn, farbige Neonröhren vereinen die vier Buchstaben des Wortes Love zu einem Quadrat. Gregorio Vardagnegnas "Relief Lumineux" erinnert an Werke Piet Mondrians, Werner Bauer schuf Leuchtkästen mit Acrylglas und Folien, die Licht sammeln und leiten. Ein großes Vergnügen, hoffentlich kann man im Dezember wieder hin!
August 2020
Neue Krimis
Tommie Goerz, Meier. Meier hat zehn Jahre gesessen, für einen Frauenmord. Den hatte er aber gar nicht begangen. Aber dann hatte er Zeit, für Gymnastik, zum Nachdenken und für Pläne: Seilspringen ohne Seil, Sit-ups; Gerechtigkeit, Wiedergutmachtung, Geduld; Kontakte knüpfen, verbotene Dinge lernen. Nun ist er frei. Und das ist gar nicht so einfach. Meier hat studiert, Physik, Philosophie, fiel im Knast einem Tschetschenen auf, und das hat Folgen, im Knast und danach, was Goertz wunderbar lakonisch beschreibt. Ein leider viel zu kurzes Buch voller Überraschungen, Wendungen, Tricks, ganz ohne moralische Vorträge, und doch fragt man sich, was ist Recht und Unrecht, wie weit darf man gehen in der Not. Vor allem ist es richtig spannend. Toller Krimi. Zoe Beck, Paradise City. Deutschland, 22. Jahrhundert oder später. Das Leben konzentriert sich um Frankfurt, die elektronische Patientenakte ist Alltag, jeder trägt ein Bodycase mit sich herum und KOS, ein Gerät, das Bescheid gibt, sobald man irgendein Medikament braucht. Zum Beispiel. Liina ist Rechercheurin bei einem der letzten unabhängigen Nachrichtenportale. Ihr Chef schickt sie in die Uckermark mit einem Auftrag, den sie überflüssig findet. Aber dann hat er einen seltsamen Unfall und eine Kollegin wird ermordet. Und Liina vermutet, dass eine Person, der sie einmal sehr nahe stand, darin verwickelt ist. Ein spannender Krimi. Man wird hineingeworfen in eine Welt nach Pandemien, mit gestiegenem Meeresspiegel und einwandernden Wildtierarten - auch dem Goldschakal, der in Deutschland tatsächlich schon gesichtet wurde. Die Autorin reflektiert Datenschutz und Datensicherheit, man ist hin- und hergerissen zwischen Nutzen und Schaden einer elektronischen Überwachung, und kann eine medizinische Totalüberwachung etwas anderes als ien Alptraum sein? Die Protagonistin weiß, wie sie staatlicher Überwachung entkommen kann, aber staatliche Kräfte wissen auch, wie sie die Protagonistin austricksen können. Ohne und mit Gewalt. Guter bis sehr guter Krimi. Max Annas, Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit. Der zweite Fall der Morduntersuchungskommission um Otto Castorp, der Eheprobleme hat und trinkt, und der eigentlich nur ein aufrechter Polizist sein will. Melchior Nikoleit war Bassist in einer Punk-Band in Jena. Und IM der Stasi. Er wird ermordet. Vorher waren die Bandmitglieder verhört und verprügelt worden. Und davor waren sie hier und da eingebrochten, um zu gucken und vielleicht eine Flasche Bier zu klauen. Melchiors Vater gerät in Verdacht, er hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Und vom Vater eines anderen Bandmitglied, einem NVA-Major, taucht bei einem dieser Einbrüche ein Foto auf, das ihn mit ein paar anderen Soldaten zeigt, gegen Ende des Krieges, posierend mit der Leiche eines Engländers. Interessantes, spannendes Thema: Polizeiarbeit in der DDR, Nachhall von Verbrechen von Wehrmachtssoldaten. Die Geschichte spielt 1985 in der DDR, der Autor hat sie Matthias Domaschk (https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/matthias-domaschk) gewidmet, der 1981 starb, der Mitglied der Jungen Gemeinde Jena war, und besonders spannend in diesem Krimi ist der Umgang der Jungen Gemeinde mit der Stasi. Überhaupt überzeugt an diesem Roman vor allem die Beschreibung der Atmosphäre in einer Familie, in einer Kirchengruppe, und in einer Punkband, während das Verbrechen als solches eher wirr wirkt - aber das ist auch kein Wunder angesichts so unterschiedlicher Möglichkeiten. Auch sind trinkende Ermittler mit Eheproblemen in Krimis recht weit verbreitet. Aber, wie gesagt, die Atmosphäre hat mich ins Buch gezogen.Gut bis sehr gut.
Juli 2020
Neue Krimis
Hannah Häffner, Nordsee-Nacht. Sommer 1987, ein Ferienlager in Hulthave an der Nordsee. In einer Nacht verschwindet Friederike Baumgart, ein schüchternes kleines Mädchen. Spurlos. Kommissar Ulrich Wedeland und Betreuerin Sascha Götz suchen sie - vergeblich. Und siewerden die Erinnerung nicht los. 25 Jahre später liegt eine erwachsene Frau am Strand von Hulthave, sie lebt, kann sich aber an nichts erinnern, sagt sie. Ist es Friederike? Wedeland und Sascha kehren nach Hulthave zurück, um endlich die Wahrheit herauszufinden. Er hat das Gefühl, nicht gut genug ermittelt zu haben, sie leidet unter Schuldgefühlen wegen eines Moments der Unachtsamkeit, den sie verschweigt. Die erste Hälfte des Buches erzählt die Ermittlungen im Jahr 1987, die zweite Hälfte das Geschehen 25 Jahre später. Friederikes Verschwinden hat sich wie ein Schatten über das Leben von Wedeland und Götz gelegt. Autorin Hannah Häffner beschreibt in ihrem ersten Roman die ermüdenden Ermittlungen, und sie zeigt die tiefen Spuren, die so ein Fall bei allen Beteiligten hinterlässt. Man fühlt mit, wenn sie sich nach 25 Jahren wieder nach Hulthave aufmachen, auch wenn es immer mal ein bisschen hakt, warum hat der Kommissar gerade diese Geliebte, warum hat die Betreuerin ausgerechnet eine Familie zustande gebracht, aber keine Arbeit. Das Buch liest sich gut, die immer wieder neuen Erkenntnisse bieten Überraschungen. Solides Krimihandwerk. Ganz gut. Tommie Goerz, Sandmann. Friedo Behühtuns´ neunter Fall: Ein Mann kommt abends nach Hause und findet Frau und Sohn niedergestochen in ihrem Blut liegen; der Sohn ist tot, die Frau stirbt bald darauf. An der Garderobe hängt eine Spieluhr, sie spielt den "Sandmann", ein Schlaflied, etwa sieben Minuten lang, die Tat muss also wenige Minuten vor der Ankunft des Mannes geschehen sein. Die Ermittlungen zeigen Abgründe in der Familie, aber wer war der Täter? Wieder ein Krimi, in dem das Privatleben des Kommissars zwar keine Rolle spielt, aber weiten Raum einnimmt. Aber das nervt nicht, im Gegensatz zu den Gedanken, etwa über die gendergerechte Sprache und Entfernung von Gomringers Gedicht (S. 54) oder die AfD in Sachsen (S. 218). Während man vielleicht etwas über das Privatleben einen Kommissar wissen möchte, der einen Fall nach dem anderen löst (der vorliegende Krimi ist sein neunter), fühle ich mich durch die Ausführung der politisch korrekten Gedanken, obwohl ich sie teile, bevormundet. Ansonsten ist der Krimi gut, dem Autor gelingt es, die Spannung zu halten, während er die Ermittlungen erzählt, einige Ermittlungsansätze versprechen Erfolge und laufen dann ins Leere, andere ziehen sich über Monate hin. Ganz guter Krimi. Matthias Wittekindt, Die Brüder Fournier. Die Brüder Iason und Vincent Fournier wachsen in Envie, einem Vorort von Brüssel, auf. Envie bedeutet auf Französisch Lust, etwa die Lust, etwas zu unternehmen. Aber der Ort Envie ist langweilig und die Brüder wachsen eher vernachlässigt auf. Vincent soll Jura studieren, der verhaltensauffällige Iason die Konditorei der Eltern übernehmen. Sie treffen sich mit Freunden, leben sich auseinander, finden wieder zusammen, probieren Drogen, Iason gerät in Kreise reicher Leute, die exklusive Parties veranstalten. Dann aber sterben nacheinander zwei Jugendliche aus ihrem Freundeskreis, sie werden erfroren aufgefunden, Drogen im Blut.
Spannendes Buch mit Stoff zum Nachdenken. Dabei macht es einem der Autor nicht leicht, es gibt eigentlich keine wirkliche Sympathiefigur. Man denkt über die Jugendlichen nach, aber man fühlt nicht mit ihnen. Man betrachtet die Wege der Jugendlichen mit einem gewissen Verständnis, aber mit Distanz. Nur selten wird sie überwunden, etwa wenn der Leiter der Anstalt, in der Iason eine Zeitlang lebt, über ihn spricht - dann wünscht man sich, dass Iason hier Leben lernt. Selten, dass Psychologen/Psychiater etc. in Krimis vernünftig und nachvollziehbar argumentieren - hier ist es der Fall. Ein sprödes, sehr gutes Buch. Juni 2020
Neue Krimis
Elisabeth Herrmann, Requiem für einen Freund. Der sechste Fall des Berliner Anwalts Joachim Vernau: Zu seinem größten Erstaunen meldet sich ein Finanzbeamter an: Betriebsprüfung. Der prüft, verbeißt sich in eine Jahre alte Restaurantquittung - und liegt kurz darauf erschossen in Vernaus Büro. Die Behörden behaupten einen Selbstmord, Vernau glaubt das nicht, fängt an zu recherchieren und entdeckt, dass der Prüfer ganz eigene Recherchen verfolgt hatte, die auch einen alten Freund Vernaus betreffe. Spannender Krimi. Der Anwalt ist einigermaßen arm, einigermaßen ehrlich, und einigermaßen unglücklich getrennt, und während so eine Konstellation leicht einmal überflüssiges Beiwerk ist und nervt, ist es hier Teil der Geschichte. Diese entwickelt sich nach und nach und trägt die fast 500 Seiten. Die Personen wirken authentisch, man fühlt sich in ganz unterschiedliche Charaktere hinein. Sehr gut. Andrea Di Stefano, Tutto Bene. Ein Lago-Maggiore-Krimi. Lukas Albano Geier hat den Polizeidienst als Agentenführer hinter sich gelassen und ist an den Lago Maggiore gezogen, um nur noch Musik zu machen. Dann aber taucht eine Leiche auf, auf deren Arm seine alte Mobilfunknummer geschrieben steht. Der Autor ist zu zweit: Die Brüder Andreas und Stephan Lebert schreiben unter dem Pseudonym Andrea Di Stefano Romane. Dieser hier ist wirklich gut gelungen. Man folgt dem Ex-Polizisten bei seiner Spurensuche, bekommt mit ihm Herzklopfen, wenn er seine alte Liebe wiedersieht, und ein ungutes Gefühl, wenn er über die Ethik der Tätigkeit eines Agentenführers grübelt. Dennoch kein Lehrstück mit erhobenem Zeigefinger. Stattdessen ein überraschender Schluss. Sehr guter Krimi. Stefan von der Lahr, Das Grab der Jungfrau. Wissenschaftler der Universität Berkeley entdecken einen Papyrus mit einer Information, die ein grundlegendes Dogma der Kirche wiederlegen könnte. Einer der Forscher bringt das Schriftstück nach Rom, um diese Information in der Vatikanischen Bibliothek zu ergänzen. Das ruft gewisse kirchliche Kräfte, weitere Wissenschaftler und die Mafia auf den Plan - und der Papyrus wird geraubt. Commissario Barielle von der römischen Polizei und Monsignor Montebello von der vatikanischen Bibliothek versuchen, das Rätsel zu lösen. Dieser Roman ist die überarbeitete Fassung eines schon 2015 im Verlag Antike erschienenen Krimis. Die Geschichte ist interessant, gar spannend. In der Art folgt der Autor einem ähnlichen Schema wie seinem 2019 erschienenen Buch Hochamt in Neapel. Aber während im Hochamt die Religion etwas Erfrischendes hat, wirkt sie beim Grab der Jungfrau öde, die guten Priester sind zu gut, der afrikanische Papst hat reine Hände, das Dogma ist sauber. Politisch korrekte Schwarzweiß-Malerei. Nicht so gut. Jan Costin Wagner, Sommer bei Nacht. Jannis, fünf Jahre alt, verschwindet. Die Ermittler Ben und Jan finden bald Parallelen zu einem anderen Fall, auch einem verschwundenen Jungen. Und zu weiteren Fällen. Sie schleppen aber selber eine Last mit sich. Wagner schreibt aus der Sicht der unterschiedlichen Personen. Dadurch entstehen viele teils sehr kurze Kapitel, und man fühlt mit. Man ahnt, was so ein Fall mit allen Beteiligten macht, wer überhaupt beteiligt ist. Das tut auch weh, weil Wagner einige sehr aktuelle Begebenheiten aufgreift. Aber nicht alles überzeugt. Zum Beispiel überzeugt mich der Hintergrund des Ermittlers Christian mich nicht. Der seines Kollegen Ben schon eher. Aber dessen Handeln am Schluss und Christians Reaktion darauf wiederum nicht. Ich habe allerdings das Gefühl, dass der Leser damit einverstanden sein soll, und das stößt mich ab. Die Figur des Landmann finde ich überflüssig. Dennoch: Dieser Krimi hat literarischen Anspruch, den er erfüllt. Er ist spannend, und diese Spannung gewinnt er nicht durch eine verborgene Lösung - die kennt man schnell - sondern durch das Mitgefühl mit den Personen und die Frage, ob am Schluss Gerechtigkeit widerfährt. Sehr gut bis gut.
Mai 2020
Neue Krimis
Karsten Dusse, Das Kind in mir will achtsam morden. Dies Buch beginnt, wo "Achtsam morden" aufgehört hat: Björn Diemel führt nun die beiden Mafia-Clans, den Chef des einen hatte er um die Ecke gebracht, den des anderen im Keller seines Kindergartens eingesperrt. Nun will er nicht mehr morden. Erstmal macht er mit seiner (Ex-)Frau und der gemeinsamem Tochter Urlaub, dummerweise gerät er mit einem Kellner aneinander und verliert die Selbstbeherrschung. Wieder erpresst seine Frau ihn zu einem Achtsamkeitstraining. Und sein bewährter Therapeut Joschka Breitner hilft ihm, sein inneres Kind zu entdecken und sich mit ihm zu versöhnen. Allerdings ist es recht aufsässig, dies innere Kind. Ein zweites Buch mit demselben Thema, nach demselben Muster: ein Abklatsch? Die Vermutung lag nahe, wurde aber zum Glück getäuscht: Björn Diemel hat neue Probleme, man ist gespannt auf die Lösung, an die Stelle der Dialoge mit dem Therapeuten treten Dialoge mit dem inneren Kind, die sehr lustig sind. Der Abschluss ist nicht so hingeschludert wie im ersten Buch. Stattdessen eine äußerst innovative Sex-Szene! Kein Tiefgang, aber sehr gute Unterhaltung. Und der Autor kennt sich mit Achtsamkeit gut aus. Sehr guter Krimi! Martin Wehrle, Die Schlange. Zwei Ich-Erzähler: Hauptperson ist Susanne Mikula, ehemalige Journalistin, die in Notwehr getötet hatte und jetzt ein Trauma plus Geldprobleme hat und herumhängt. Da bekommt sie einen ungewöhnlichen Auftrag: Sie soll für die Hamburger Immobilienfirma StageBau interne Recherchen anstellen: Wer mobbt alte Mieter aus den Wohnungen, die dann luxussaniert werden und der Firma viel Geld bringen? Mikula recherchiert, alle Spuren scheinen ins Nichts zu führen, und schließlich gerät sie selbst in große Gefahr. Der andere Ich-Erzähler entpuppt sich (sehr bald, darum wird hier nicht zuviel verraten) als ein Profikiller, der sich über seine neuesten Aufträge wundert. Eigentlich ein wahnsinnig interessantes und aktuelles Thema. Außerdem eine Geschichte um eine Journalistin, wenn auch nur um eine ehemalige - das würde mich natürlich brennend interessieren. Aber die Handlung ist sehr mühsam konstruiert, und die Journalistin macht Fehler, die einfach nicht glaubwürdig sind, und so kam keine Spannung auf, obwohl ich die Lösung nicht vorausgeahnt hatte. Der Profikiller ist die deutlich interessantere Figur, aber das genügt nicht. Nicht so guter Krimi. Heidi Troi, Feuertaufe. Lorenz Lovis kündigt bei der Staatspolizei Brixen und kehrt in das Dorf zurück, in dem er aufgewachsen ist. Sein Großonkel hatte ihm auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, seinen Hof zu übernehmen, aber Lovis ist widerwillig und hat keine Ahnung. Und der Hof ist verschuldet. Aber er hat einen fitten Knecht, und eine Frau stellt ihr Pferd auf dem Hof unter und hilft dafür auch. Sie schlägt vor, dass er als Privatermittler Geld verdient. Und prompt bekommt er einen Auftrag von Baron Cavagna. Aber dann kommt der ums Leben und Lovis steht unter Verdacht. Und was sollen eigentlich die toten Uhus? Ein malerischer Hof in Südtirol - nein, glücklicherweise nicht. Das Leben als Bauer ist hart, nicht alles funktioniert öko, und ein arbeitsloser Ex-Polizist hat es nun einmal nicht leicht. Das kommt ehrlich rüber, und in der Tat, man fühlt mit Lorenz Lovis mit. Aber man fiebert nicht mit ihm. Es gibt ein paar nette Ideen, das Huhn Alma zum Beispiel, aber ein (Ex-)Polizist, der kein Smartphone hat und nicht einmal Messenger-Dienste kennt: sehr unglaubwürdig. Und der Verlauf des Krimis ist allzu vorhersehbar. Nicht gut, aber auch nicht schlecht. Romy Hausmann, Marta schläft. Nadja hat gerade die vierte Panikattake innerhalb von drei Wochen erlitten. Sie ist gestürzt und die blonde Perücke ist ihr vom Kopf gerutscht. Nun macht sie, dass sie wegkommt. Nelly hatte sich vor fünf Jahren in einen verheirateten Mann verliebt - und wurde erschlagen aufgefunden. Irgend jemand versucht immer wieder, einen Brief zu schreiben, um etwas zu erklären. - Wie in Hausmanns Erstling "Liebes Kind" spielen sich mehrere Geschichten ab, deren Zusammenhänge sich nur langsam dem Leser erschließen.
Die (gesamte!) Geschichte ist sehr gut, dieser Thriller liest sich zwar nicht so weg wie eine durchgehend erzählte Geschichte, man stockt, man überlegt, wie die Menschen und Ereignisse miteinander verknüpft sind. Spannend genug. Besonders gut finde ich aber die Personen. Selten las ich so intensiv und glaubwürdig dargestellt, wie Traumate und Träume, das Verhalten, Gesellschaft und Einsamkeit da sind und wirken. Sehr guter Krimi.
April 2020
Neue Krimis
Frank Göhre, Verdammte Liebe Amsterdam. Die Polizei ruft Schorsch Köster an: Sein Bruder Michael wurde auf einem Autobahnrastplatz tot aufgefunden, erschlagen. Eigentlich hatten die beiden seit Jahren nichts miteinander zu tun, aber Schorsch will wissen, was passiert ist und spürt dem Leben seines Bruders hinterher.Schorsch hat eine Kneipe, einen Musikschuppen in Hamburg, Michael suchte verschwundene Menschen, als letztes eine 15-Jährige. Nun macht auch Schorsch sich auf die Suche, in Amsterdam, und das wird ziemlich gefährlich. Gute Geschichte, schön düster geschrieben, unterhaltsame Dialoge in Szenesprache, viele Überraschungen. Es entspinnt sich noch eine Nebenhandlung aus der Kindheit der Brüder, noch düsterer als die Gegenwart. Und die Hauptperson ist auch kein großer Held. Toller Krimi. Mark Fahnert, Lied des Zorns. Auftakt zu einer Reihe um Wiebke Meinert, ehemalige Elitesoldatin und Schwester der Geheimagentin Saskia Meinert. Saskia hat Karriere gemacht, Wiebke einen Absturz. Dann erfährt Wiebke, dass ihre Schwester Saskia mit einer Autoexplosion ermordet wurde. Saskia hatte ihr noch eine Botschaft gesandt. Sie war einer Verschwörung auf der Spur, es geht um einen terroristischen Anschlag. Wiebke will den Mord an Saskia aufklären und den Anschlag verhindern. BND, Verfassungsschutz, Mossad, Islamisten… Syrien, Stockholm, London, Hamburg, Berlin… Ein Wirrwarr an Parteien, Orten und Menschen. Autor Mark Fahnert, seit 20 Jahren bei der Polizei, führt den Leser mit einer strikt durchgetakteten Chronologie durch das Gedränge. Dennoch sind es viele Parteien, viele Antagonisten, man verliert leicht den Überblick, falls man das Buch nicht in einem Rutsch durchliest. Ein paar Kleinigkeiten hemmen auch den Lesefluss (S. 30: So ein langer SMS-Dialog während eines Vortrags würde auffallen.) Eine Reihe um Zwillingsschwestern zwischen Liebe und Rivalität, zwischen Karriere und Absturz, ist eine Idee, die Spannung verspricht. Aber man kommt der Hauptperson Wiebke nicht nahe, sie wird weder Sympathie- noch Antipathieträger, und bleibt seltsam starr. Im Großen und Ganzen solides Thrillerhandwerk, aber nicht mehr. Michael Wallner, Shalom Berlin. Auftakt zu einer neuen Reihe um Alain Liebermann, Jude, Mitglied des (fiktiven) Mobilen Einsatzkommandos Staatsschutz, und Spezialist für Terrorbekämpfung in Berlin. Hanna Golden, Journalistin, veröffentlicht einen Artikel über die Schändung eines jüdischen Friedhofs in Berlin. Daraufhin wird sie in übelster Weise erst bedroht und dann überfallen. Liebermann übernimmt den Fall. Die Idee einer Krimireihe um einen jüdischen Staatsschutz-Ermittler ist eigentlich gut. Sie bietet Raum für spannende Geschichten um Terrorismus und für lustige und wehmütige Geschichten um eine jüdische Mischpoke. Aber der erste Band ist noch sehr konstruiert, die Lösung hat mich nicht überzeugt. Auch passen die Leute eigentlich nicht zusammen, vor allem Alain und Diana. Und warum Hanna Golden mit dem Mann, der sie vergewaltigt hatte, in eine Wohnung geht, wird auch nicht klar. Mittel bis gut. Axel Simon, Eisenblut. Dreikaiserjahr, 1888: Slevogt soll eine flache Ledermappe überbringen. Landow, adelig, lebt als versoffener Ermittler in Berlin. Orsini, einarmiger Ex-Artist, überlebt als Taschendieb. Eine flache Ledermappe verbindet sie, eine Spionin mit fast übermenschlichen Fähigkeiten ist zu aller Unglück hinter der Mappe her. Und in einem teuren Club besprechen Regierende und Industrielle den Krieg. Axel Simon beschreibt Personen, Kleidung, Gerüche und malt damit sehr lebendig das Leben vor über 130 Jahren. Er erschafft in diesem Leben Personen, viele mit unglücklichem Schicksal, die nicht verstehen, zumindest lange Zeit nicht verstehen, worum es gerade geht in ihrem Leben; vor allem Landow steht ungewollt an wichtiger Stelle und begreift lange nicht, was eigentlich hinter seinem neuen, lukrativen Rechercheauftrag steckt und was seine Familie damit zu tun hat. Aber auch als Leser wird man immer wieder an der Nase herum geführt, was manchmal die Spannung erhöht (Schuss auf Orsini, S. 33 ff), gelegentlich aber auch bloß verwirrt (Farbe, S. 296). Im großen und ganzen ein spannender Krimi, der aber ein eigentliches Thema, nämlich des militärisch-industriellen Komplexes, nur streift. Das mag Absicht sein, weil es die Spannung erhöht; Man weiß lang nicht, worum es geht. Guter Krimi, aber er bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück.
März 2020
Neue Krimis
Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo, Der freie Hund. Commissario Morello ermittelt in Venedig. Allerdings unfreiwillig - Morello kommt aus Cefalù auf Sizilien und will wieder zurück, aber er hatte korrupte Politiker verhaftet und ist nun vogelfrei, ein „freier Hund“ für die Cosa Nostra. Und weil die außerhalb Siziliens keine Amtspersonen ermordet, hat Morellos Chef ihn nach Venedig zwangsversetzt. Da sitzt er nun und hasst die Stadt, außerdem hat er als Sizilianer bei seiner Polizei dort einen schweren Stand. Dann wird der Anführer einer Bürgerinitiative gegen die Kreuzfahrtschiffe ermordet. Der war jung, schön, und stammt aus einer reichen und mächtigen Familie. Mehrere Menschen haben ein Motiv: Eifersucht, Geld, Zorn. Morello ermittelt und muss lernen, dass in Venedig ganz eigene Regeln gelten... Aber er hat eine intelligente Kollegin und eine interessante Nachbarin. Jeder kennt die Fotos mit den riesenhaften Kreuzfahrtschiffen neben den wundervollen alten Bauten in Venedig. Gute Idee, darum einen Krimi zu schreiben! Morello ist eine sympathische Figut, man fühlt mit ihm, der ausgerechnet in Venedig arbeiten muss, welch ein Glück, dass es auch da guten Espresso gibt! Und interessante Frauen! Das Buch liest sich gut, ist spannend, und eine pfiffige Journalistin ist naturgemäß eine Figur, die mir sehr gefällt. Aber was machen eigentlich die beiden Männer in den dunklen Anzügen? Guter, sehr guter Krimi. Kultur in PotsdamGerade hat das Museum Barberini geschlossen, erstmal bis zum 17. März 2020, hoffentlich kann man bald wieder hin, gerade läuft die Schau Monet. Orte, und die ist so wunderbar, dass man es eigentlich gar nicht in Worte fassen kann. Claude Monet (1840 bis 1926) malte viele Landschaften, und Orte waren für ihn von entscheidender Bedeutung: Die Landschaft war vorgegeben, aber das Licht änderte sich je nach Wetter, Jahreszeit und Tageszeit. Er suchte sich oft Landschaften oder vielmehr Topographien aus, die nur schwer umzusetzen waren. In über 100 Bildern, mit Schlüsselwerken aus allen Schaffensphasen, spürt die Ausstellung den Orten nach, die seine Malerei bestimmt haben. Einige kannte ich und war sehr berührt: Der Bahnhof St. Lazare in Paris, die Ufer der Seine... Noch bis zum 1. Juni 2020. Übrigens ist auch die Website hervorragend, und es gibt sogar eine App.
Februar 2020
Neue Krimis
Regina Nössler, die Putzhilfe. Dr. Franziska Oswald flüchtet aus dem Münsterland nach Berlin: Sie verlässt ihren Mann Johannes, ihr Haus, ihre Nachbarn und ihre Stelle an der Uni. Von nun an nennt sie sich Marie Weber, sie zieht in ein Wohnklo und bekommt eine Stelle als Putzhilfe bei Frau Mangold. Aber sie hat etwas zu verbergen, Frau Mangold hat etwas zu verbergen, und dann langweilt sich die junge Sina und fängt an, Franziska zu verfolgen. Richtig spannend! Mit Wendungen, mit denen ich nicht gerechnet hätte, und es gibt viele! Die Autorin beherrscht ihr Handwerk, und nebenbei ist es zwar leichte, aber keine seichte Unterhaltung, und es ist auch noch gut geschrieben. Toller Krimi! Marc Elsberg, Gier. Im Epilog wird geerntet, und die Erträge der Bauern sind unterschiedlich reich. Warum? Viele Jahrzehnte später: Zu wenige Menschen besitzen zu viel, die Welt ist ungerecht, eine Finanzkrise wie 2008 droht. In Berlin wird ein Gipfel veranstaltet, bei dem die Reichen und Mächtigen eine Lösung finden wollen, und um den herum Protestierer aller Seiten Chaos organisieren. Elsberg lässt den Leser in dieses Szenario eintauchen. Er verfolgt mehrere Parteien: Die Freundin oder eher Geliebte eines der Reichen und Mächtigen, ein Killerkommando, eine Polizistin. Und vor allem den jungen Krankenpfleger Jan, der zufällig Zeuge eines Unfalls wird, bei dem ein Nobelpreisträger und sein Assistent sterben. Jan aber sieht, dass es Mord ist und kein Unfall. Die Ermordeten hatten bei dem Gipfel sprechen wollen. Worüber? Jan tut sich mit dem Freund des Toten zusammen, einem Mathematiker und Spieler. Von da an werden beide verfolgt. Spannend, lehrreich, manchmal auch ein bisschen belehrend und moralisierend. In deutschen Krimis gibt es oft Erklärdialoge, hier auch, ist nicht so mein Fall. Aber da es um Mathe, Wirtschaft und Politik und Gesellschaft handelt und eine Theorie im Zentrum steht, ist es wohl unvermeidbar. Bei den Schaubildern hätte er nicht jede einzelne Ähre aufzeichnen, sondern lieber die jeweilige Anzahl hinschreiben sollen. Wäre einfacher gewesen. Trotzdem: Der Autor ist sehr einfallsreich: um eine These herum einen spannenden Krimi zu schreiben - darauf muss man erst mal kommen. Ebenso darauf, wie die Protestierenden Drohnen nutzen.
Januar 2020
Bug auf der Website?
Für das seltsame Design der ersten Seite meiner Homepage mit den drei viel zu großen Fotos untereinander bitte ich um Entschuldigung - laut Strato könnte es ein Bug sein. Ich hoffe, er wird bald gefixt.
Neue KrimisThomas Ziebula, Der rote Judas. Leipzig, Januar 1920. Paul Steiner kehrt aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück: Er hat ein Trauma, seine Frau hat einen Anderen. Aber er wird wieder in der Polizeidienst zurückberufen und als Kriminalinspektor mit einer Reihe sehr hässlicher Morde konfrontiert. Nach und nach kommt er einer unheimlichen „Operation Judas“ auf die Spur und gerät selbst in Gefahr. Spannender Krimi, interessante Themen: Kriegstraumata, Arbeitslosigkeit und Armut nach dem Ersten Weltkrieg, und die Fronten zwischen SPD, Kommunisten und Konservativen. Der Autor versetzt den Leser in die damalige Zeit, mit Worten wie Kraftdroschke oder Fedora-Hut (endlich dürfen auch Männer sich über ihre Kleidung Gedanken machen) und mit dem Aufkommen von Spurensicherung, Büroklammern und der Untersuchung von Blutgruppen. Polizeiarbeit, Geschichte und Politik spannend und klug gemischt: Sehr gut! Michael Lüders, Die Spur der Schakale. Oslo, im Winter. Hauke Ingstad liegt tot im Garten von Berit Berglund. Er war stellvertretender CEO eines norwegischen Finanzdienstleisters, sie ist Chefin einer kleinen Geheimdiensteinheit. Und sie ist Mentorin von Sophie Schelling, einer deutschen Investigativ-Journalistin, die vor der NSA nach Oslo geflohen ist. Weitere Morde geschehen, und Berglund, Schelling und Kollege Harald Nansen (Geheimpolizist pakistanischer Herkunft) versuchen herauszufinden, was dahinter steckt: Scheinbar will jemand an die Daten und das Vermögen Norwegens. Dies ist Lüders´ zweiter Krimi um Sophie Schelling. Die Handlung des Thrillers ist nicht einfach gestrickt, mit fast 400 Seiten ist er auch nicht gerade dünn. Aber die Fronten sind von Anfang an recht klar: Eine Schattenbank ist, so einer von Lüders´ Helden, ein Finanzdienstleister, der gewaltige Geldmengen bewegt, aber juristisch gesehen keine Bank ist und nicht der Bankenaufsicht unterliegt. Lunds Tod (S. 274 ff.) erinnert schwer an den von Uwe Barschel, bis hin zum Namen des Hotels, „Beau-Rivage“; die Schattenbank BlackHawk an BlackRock, und Elendilmir an Facebook. Das alles ist mir etwas zu einfach. Trotzdem solide Unterhaltung: Mittel bis gut.
Kultur in Potsdam
Bis zum 2. Februar dauer(te)n zwei besondere Ausstellungen im Museum Barberini in Potsdam. Van Gogh. Stillleben. Der Künstler selbst sah Stillleben als Experimente und Wegweiser. Er hat über 170 von ihnen gemalt, Holzschuhe, Birnen, und natürlich die berühmten Sonnenblumen. Davon gleich eine ganze Serie aus sieben Bildern, "Ikonen der Kunstgeschichte", eines in Privatbesitz, eines - das schönste, mit dunkelblauem Hintergrund - im Krieg verbrannt, und die übrigen fünf sicherlich nie alle auf einmal in einem Museum zu sehen, in Potsdam hängen immerhin all ihre Fotos und ein kurzer Text: Die funf Museen haben sich "zu einer virtuellen Ausstellung zusammengschlossen und präsentieren die Gemälde seit 2017 unter #SunflowersLive und so kann man sie dank Internet sogar von zu Hause aus bewundern, wenn auch nur virtuell. Chefkurator Michael Philipp hat diese Ausstellung mit 27 Gemälden verantwortet. Sie repräsentieren van Goghs gesamtes Werk des Künstlers "von den in dunklen Erdtönen gehaltenen Studien des Frühwerks der Jahre 1881 bis 1885 bis zu den in leuchtenden Farben gemalten Obst- und Blumenstillleben, die in den letzten Lebensjahren in Arles, Saint-Rémy und Auvers entstanden sind." Die Ausstellung gruppiert die Bilder chronologisch nach Wohnorten des Künstlers, je mit einem Einführungstext im ersten Raum und dann einem bei den dort entstandenen Bildern. Ich mochte die blühenden Kastanienzweige besonders gern, das größte seiner späteren Stillleben und besonders expressiv, entstanden Ende Mai 1890 in Auvers. Die andere Ausstellung zeigt Künstler aus der DDR, Werke aus der Sammlung des Museum Barberini - ein Schwerpunkt der Sammlung. In dieser Ausstellung kann man wichtige Themen der Kunst in der DDR und nach 1989/90 neu entdecken. Der Staat wollte die Kunst ideologisch beeinflussen, Künstler wollten autonom sein. Landschaften waren wohl harmlos ... Man konnte viel damit assoziieren und darstellen, und man konnte mit Form und Farbe experimentieren. Mir gefiel besonders von Wolfgang Mattheuer, Spätes Licht II, ein etwas trauriger Blick aus dem Fenster einer braunen Wohnung... Aaber drinnen scheinen Lichter durch den Vorhang, auf dem Tisch steht eine Vase mit Blumen und draußen scheint das Licht hinter den Bäumen durch. Also doch nicht so traurig. - Passt zum Buch, das ich gerade lese: Die Gewitterschwimmerin von Franziska Hauser, toll!
Am 22. Februar beginnt im Barberini die Ausstellung Monet, Orte.
Kultur in TübingenNoch bis zum 15. März zeigt die Kunsthalle Tübingen Tanz! Max Pechstein. Bühne, Parkett, Manege. Pechstein war ein leidenschaftlicher Tänzer und am Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte der Tanz eine überraschende Blüte, und inspirierte Kunst und Kultur, auch immer wieder Pechstein. Die Kunsthalle zeigt in Kooperation mit den Kunstsammlungen Zwickau rund 70 Arbeiten in Form einer chronologisch-thematischen Präsentation, dazu auch Tanzdarstellungen anderer Expressionisten sowie kulturhistorische Exponaten wie Fotografien, Filme und historische Kostüme. Die Bilder waren schön und interessant, aber richtig toll waren vor allem die Texte - der Katalog lohnt sich zu kaufen!
Kunst in Esslingen
Hey, das hatten wir auch, als ich klein war! Der Kunstverein Esslingen hat mit Hans Erich Slany – Das Werk in der Villa Merkel eine großartige, sehr interessante Werkschau des Industriedesigners Hans Erich Slany gezeigt. Slany war ein sehr wichtiger Produktgestalter, sicher jeder hat etwas von ihm: Den Teppichroller, die Kaffeemühle, den Locher... Die Schau ist sehr interessant, viel zu sehen, viele Erinnerungen werden wach... Und Slany schien sehr menschenfreundlich, seine Produkte sollten angenehm im Umgang sein.
Dezember 2019Neue Krimis
Jessica Barry, Freefall. Allison überlebt einen Flugzeugabsturz in den Rocky Mountains. Sie schlägt sich durch die Wildnis. Aber sie wird verfolgt und der Verfolger holt auf. Zwischen diesen Szenen werden Erinnerungen erzählt, sie denkt zurück, nach und nach versteht man, wie sie in diese Situation gekommen ist. Gleichzeitig glaubt ihre Mutter Margaret nicht, dass Allison tot ist und forscht nach - und gerät selbst in Gefahr. Die Widmung für die Mutter der Autorin passt zu dem Schluss des Krimis… Sehr spannend, liest sich sehr gut, überraschende Wendungen: Wie ein Thriller sein sollte. Thomas Meyer, Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin. Motti Wolkenbruch, orthodoxer Jude und nach einer Affäre mit einer Schickse von der Familie verstoßen, wird von einer Gruppe Juden aufgenommen. Sie verfolgen die jüdische Weltverschwörung, sind aber ein hoffnungsloser Haufen desorganisierter Loser. Bis Motti kommt und Chef wird. So wünscht man sich die jüdische Weltverschwörung! Herrlich lustiger Krimi fast ohne Tote, nur manchmal etwas nervig, wenn der Autor mit dem Holzhammer politische Korrektheit predigt. Trotzdem sehr lustig. Eva Rossmann, Heißzeit 51. Hochwasser, Klimawandel. Eine Umweltaktivistin hält auf dem Markusplatz in Venedig ein Schild hoch, das Bild läuft viral, aber die junge Frau ist am nächsten Tag tot. Die Wiener Journalistin Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krajner wollen den Mord aufklären. Es soll viele Mira Valensky-Fans geben; mir liegt zumindest dieses Buch gar nicht, ich fand es schulmeisterlich, allein die lehrreichen Dialoge, in denen der Klimaawandel erklärt wird... Mir fehlt auch Handlung. Ich habe es nur bis Seite137 geschafft. Marion Schmid, Ausgekocht. Paula Dahme ist von Australien nach Berlin zurückgekehrt, dort lebt sie in einem Altbau in der Weichselstraße und hat einen Zeitungskiosk gepachtet. Ihre Hausgemeinschaft ist so skurril, wie ihre Kunden es sind. ber dann stürzt erst eine blonde Spanierin aus dem Fenster, und dann verschwindet eine taubstumme Polin, und der Polizist scheint Paula zu verdächtigen. "Die Hofgemeinschaft hatte sich zum Kreis geschlossen, Jolande schluchzte, die Witwe sang, und der Kater war tot." (S. 22) In diesem Buch wird viel gestorben, manch Tier und Mensch scheidet dahin, und die Ich-Erzählerin ist mitten drin und wundert sich. Ein skurriles Buch, das in Berlin-Neukölln spielt und trotz einer gewissen Spröde gut lesbar ist. Die Entwicklungen sind anfangs ziemlich rätselhaft, werden dann aber um so lustiger und makaberer. Kai Bliesener, Das Brandt-Attentat. Deutschland 1969 und 2019, immer abwechselnd erzählt. Im Jahr 1969 soll ein Attentat auf Willy Brandt verübt werden. Es wird vertuscht. Im Jahr 2019 werden einer jungen Journalistin in Stuttgart anonym Hinweise zu diesem Attentat zugespielt. Menschen geraten in Gefahr. Ich habe nur bis Seite 104 gelesen. Dabei hätte mich eine Geschichte um eine Stuttgarter Journalistin natürlich brennend interessiert. sme ist eine Art Selbstverlag, man merkt deutlich das fehlende Lektorat ("Bleistifte kreisten wartend über dem Papier" S. 12, "Mariannengraben" mit Doppel-n S. 28 etc.) Und der lehrerhafte Ton gegen rechts nervt auch ("Für Emma Berg war es nicht nachvollziehbar, wie Menschen trotz der Vergangenheit des Landes, mit Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Hass auf Minderheiten, diesem Sumpf Nährboden bieten konnten." S. 32) Das weiß ich, das brauche ich nicht dauernd zu lesen. Und die Kommata sind auch falsch. Wer mal ein richtig gutes (Sach-) Buch über ein Attentat über einen Politiker lesen will, lese von Henning Sietz, Attentat auf Adenauer. Bernhard Aichner, Der Fund. Rita, Verkäuferin in einem Supermarkt, findet etwas in einem Bananenkarton und nimmt es mit nach Hause. Und es gibt Tote. Alles ist rätselhaft. Aber ein Polizist gibt nicht auf. Ach, wie ist mir die Diebin ans Herz gewachsen. Bei aller Blödheit - die man zunächst vermutet. Aber dann passiert ein verrücktes Ereignis nach dem anderen, eine Wendung nach der anderen überrascht den Leser. Sehr spannend, traurig und noch mehr lustig, und dann auch noch sehr gut geschrieben. Toller Krimi!
Kultur in Berlin
Zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls und der friedlichen Revolutio läuft im Bröhan-Museum noch bis zum 19. April 2020 die Ausstellung Stefan Moses – Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989-1990. Moses, Fotograf aus München fotografierte während der Umbruchphase von 1989/90 Menschen aus der DDR. Manche sehen froh aus., andere müde, die Fotos sind gestellt und gleichzeitig wirken sie wahrhaftig. Sehr spannend, die Fotos ebenso wie die Texte dazu. s um eine konfliktreiche Zukunft stellen sie Sympathie, Identifikation und Menschlichkeit in den Mittelpunkt. In der Sammlung Scharf-Gerstenberg entdecke ich bei jedem Besuch etwas Neues, ein Bild, oft gesehen aber nie wirklich betrachtet, eine Plastik ... man kann gar nicht oft genug rein!
Das Museum Berggruen ist immer wieder schön, interessant, inspirierend... Bis zum 1. März 2020 läuft noch Pablo Picasso x Thomas Scheibitz. Scheibitz wurde 1968 in Radeberg bei Dresden geboren und betrachtet den Kubismus als besonders radikal und prägend für die Kunst. In dieser Ausstellung werden je ungefähr 45 Werke von Picasso und Scheibitz einander gegenübergestellt. Die Motive sind unterschiedlich, aber die künstlerische Haltung ist ähnlich, man sieht formale und inhaltliche Parallelen.
Das Programm der Stuttgarter Kriminächte - März 2020 - ist online!
November 2019Neue Krimis
Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers. Madeleine Péricourt sieht sich plötzlich an der Spitze des Bankhauses Péricourt, als ihr Vater im Jahr 1927 stirbt. Sie war mädchenhaft erzogen worden und versteht nichts von Geld; ihr Ex-Mann sitzt im Gefängnis, und ihr kleiner Sohn springt aus dem Fenster. Sie hilft drei Männern: Ihrem Liebhaber André Delcourt, ihrem Onkel Charles Péricourt und dem Prokuristen Gustave Joubert. Aber das geht schief. Oder? Madeleine Péricourt wird ausgenutzt - aber wie lange? Sie führt einen äußerst fein ausgesponnen Rachefeldzug, und ob er funktioniert, wird äußerst spannend. Toller Roman. Benedikt Gollhardt, Westwall. Julia ist Polizeischülerin und hadert ein bisschen mit ihrem Vater Wolfgang, Alt-Hippie, Kiffer und krank. Plötzlich passieren ihr lauter seltsame Dinge: Sie lernt Nick kennen - und entdeckt nach der ersten gemeinsamen Nacht, dass er ein riesiges Hakenkreuz-Tattoo auf dem Rücken hat. Und auch gar nicht Nick heißt. Ein Debut: Die Sprache ist noch verbesserungsfähig: Viele Adjektive, die sich oft wiederholen (der Wald ist schwarz 41, 43), die Menschen schwitzen viel, etwas zu viel für meinen Geschmack. Aber den Westwall als Grundlage für einen Thriller zu machen, ist eine tolle Idee. Mir gefallen auch, dass die Menschen differenziert sein dürfen. Und kleine Terrorzellen sind leider ein sehr aktuelles Thema. Sehr spannend, oft überraschend. Sehr guter Thriller. R. R. Sul, Das Erbe. Wolf schreibt sein Leben für seinen Enkel auf. Als er sieben Jahre alt, war, gab seine Mutter ihm einen Helm, der ihn vor der Sonne schützen sollte, weil er die Mondscheinkrankheit habe. Der Junge vereinsamt. Ein Arzt deckt die Lüge der Mutter auf. Der Junge bleibt einsam, aber mit der Zeit wird sein Leben normaler. Er heiratet und wird Vater. Aber dann taucht ein Halbbruder wieder auf. Literatur, sehr gut geschrieben. Traurig und böse, und ich hätte den Erzähler manchmal am liebsten verprügelt, weil er so verdammt gutherzig ist. Oder naiv. Sehr guter Roman. Gerd Zahner, Keiner verliert allein. Der zweite Krimi um Mordkommissions-Mitglied Goster nach dem verfilmten "Goster": In Berlin zirkulieren Drogen, vor allem Methamphetamin. Das kennt man heute in kristallisierter Form als Chrystal Meth, im Zweiten Weltkrieg bekam es die Soldaten der Wehrmacht als Pervitin. Goster atmet bei einem Feuer versehentlich eine Dosis ein, stößt so auf die Droge, die mit ihren Konsumenten die Stadt zu verseuchen scheint, und fädelt ganz allmählich einen Fall auf, der viel komplizierter ist, als er anfangs scheint. Spannender Krimi, traurig, aber auch etwas maniriert, eine Kollegin zB. heißt immer "H.". Gut geschrieben, aber das Lektorat hätte noch etwas sorgfältiger sein müssen, "wseiter" statt "weiter" (S. 92) und ""Alles über Bitcoin. Damit zahlen die Kunden. Geld haben wir nie gesehen."" (S. 99) - nach der Dialog-Logik müsste es Goster sagen, aber der Satz stammt vom Vernommenen. Der Autor ist Jurist und beschreibt darum (?) den Gerichts-Alltag (meine Erachtens, und ich war fünf Jahre Schöffe in Berlin) sehr treffend, lakonisch und pessimistisch. Guter Krimi. Thomas Kiehl, Die Ameisenfrau. Lena Bondroit ist Ameisenforscherin. Ein Journalist spricht sie an - und wird vor ihren Augen ermordet. Sie recherchiert die Hintergründe und gerät dabei zwischen zwei Männer. Eine Organisation versucht, die Bevölkerung dahingehend zu manipulieren, dass sie Angst bekommt. Lena steht im Visier, denn die Mechanismen dieser Manipulation werden dann verständlich, wenn man sie mit dem Sozialleben von Ameisen vergleicht. Und genau dazu ist sie als einer von ganz wenigen Menschen in der Lage. Auch Kiehl ist Jurist. Spannend, gut geschrieben, aber die Idee mit der Angst und den Ameisen hätte er noch stringenter durchführen sollen. Lena ist den Männern gegenüber zu schwatzhaft, das nervt manchmal. Kleine Ungenauigkeiten: Wer an einer Uni arbeitet, der arbeitet m. E. für eine Behörde, oder? (Anders: S. 108). Und in der Fischer-Ballade von Goethe heißt es "Halb zog sie ihn, halb sank er hin." Bei Kiehl steht "nahm" statt "zog" (und die Geschlechter sind vertauscht, aber letzteres ist egal.) (S. 345.) Guter Krimi. Florian Harms, Versuchung. Detektiv Calanda, gebürtiger Schweizer und Wahl-Hamburger, wird von einem Schweizer Lebensmittelkonzert beauftragt, einen gewissen Bernhard Lieblig zu finden. Der war mit dem Flugzeug abgestürzt, scheint aber überlebt zu haben. Gleichzeitig macht August Lieblig sich auf die Suche nach seinem Vater - und stürzt auch mit dem Flugzeug ab. Nach und nach entspinnt sich eine Geschichte, die in die Kriegszeit zurückreicht, und ebenso von EU-Gesetzgebung wie von Mysterien des Orients gesteuert wird. Ich kenne einige Leute, die es nur nervt, wenn in einem Krimi andere Theman eine Rolle spielen, aber ich mag das, die Erklärungen zum Thema Aroma gefallen mir. Ein paar Tipps muss ich mir merken (Welche Musik passt zu welchem Wein? S. 232) und ich habe mir vorgenommen, Gerichte aus dem Buch nachzukochen, deren Rezepte Florian Harms auf seine Website gestellt hat. Das ist vielleicht eine gewisse Hommage an "Es muss nicht immer Kaviar sein" von - Achtung! - Johannes Mario Simmel. Aber gerade dieser Autor von Trivialliteratur macht mich Harms kritisieren: Simmels Held ist überzeugter Pazifist und zieht das viel besser durch, als der etwas farblose Calanda seine moralischen Überlegungen. Trotzdem ein Lob: sehr spannend. Sehr gutes Buch.
Kultur in Berlin
Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus“ im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart. Die Ausstellung habe ich leider auf den letzten Drücker besucht (und dann auch noch verspätet in den Blog gepackt) - sie war einfach großartig. Was ist Noldes Kunst wert, wenn er malte, um ausgereechnet den Nationalsozialisten zu gefallen, und wenn er das, was er wollte, zu malen unterließ? Auf der Website des Museums steht: "Der Expressionist Emil Nolde (1867–1956) ist der wohl berühmteste „entartete Künstler”: von keinem anderen Maler wurden während des Nationalsozialismus so viele Arbeiten beschlagnahmt und derartig prominent in der Propagandaausstellung ‚Entartete Kunst’ zur Schau gestellt. Wie passen Noldes Verfemung und sein Berufsverbot zu unserem Wissen, dass Nolde NS-Parteimitglied war und bis zum Kriegsende den Glauben an das nationalsozialistische Regime nicht verlor? Der Kunstkritiker Adolf Behne bezeichnete Nolde anlässlich seines 80. Geburtstags 1947 pointiert als „entarteter ‚Entarteter‘“. Dass Emil Nolde ein Parteimitglied war, ist seit langem bekannt. Aber was dies mit seiner Kunst zu tun hat, und wie sich die historischen Umstände des Nationalsozialismus auf sein Kunstschaffen ausgewirkt haben, ist bisher noch nie umfassend in einer Ausstellung untersucht worden." - Diese Fragestellung, diese Umstände haben mich persönlich berührt, denn mein Großvater Friedrich Heitmüller, Prediger, Evangelist und Direktor des Krankenhaus Elim, war überzeugter Nationalsozialist, Politischer Direktor, beantragte die Mitgliedschaft in der NSDAP, aber als er aus der Landeskirche austrat und eine Freikirche gründete, kam er auf eine Schwarze Liste und war ab da verfemt, erhielt Redeverbote und sollte angeblich ins KZ. Im Nachhinein stilisierte er sich als Gegner und Verfolgter, was so eben nicht der Wahrheit entspricht.
Oktober 2019Neue Krimis
Olaf Kühl, Letztes Spiel Berlin. Der Reiseleiter Konrad Mauser ist verschwunden, sein bester Freund Pawel sucht ihn, bald unterstützt von der 17-jährigen Jana. Die CIA hat ihre Hände im Spiel und ist innerlich gespalten. Ein Haufen Loser trottet durch Berlin und sucht die Wahrheit, einige um sie aufzudecken, andere um sie zu verschleiern. Nein, eigentlich bleiben die Verschleierer der Wahrheit sitzen und arbeiten im Hintegrund. - Das Buch ist nicht schlecht, aber etwas wirr, und man muss Loser-Typen mögen oder wenigstens ihnen gegenüber Geduld aufbringen. Ich fand das Buch etwas zäh und nervig, zum Beispiel die häufigen Perspektivenwechsel, und brach es erstmal ab, aber immerhin fand ich es interessant genug, um noch einmal anzufangen - und dann las ich es auch zu Ende. Mittel bis gut. Rafik Schami, Die geheime Mission des Kardinals. Damaskus, 2010. Noch ist Friede in Syrien. Aber die italienische Botschaft bekommt eine Lieferung: Ein Fass Olivenöl, darin die Leiche eines Kardinals. Kommissar Barudi, einsam und kurz vor der Pensionierung, soll den Fall aufklären, und sein Kollege Mancini aus Rom wird ihm zur Seite gestellt. Die beiden werden Freunde und geraten bei der Recherche in Gefahr. Eigentlich kein richtiger Krimi, sondern eher ein Gesellschaftsroman, verkleidet als Krimi. Schami beschreibt die Arbeit der Polizei, die im ständigen Kleinkrieg mit dem Geheimdienst scheint. Man fängt an, Syrien zu lieben, man gerät ob der Vetternwirtschaft in Verzweiflung, man freut sich über die Tricks der Anständigen. Schami beschreibt Land und Leute manchmal ein bisschen umständlich, aber so warmherzig, dass man das Buch gar nicht mehr zur Seite legen mag, es fesselt durch seine Menschlichkeit. Sehr gutes Buch.
Harry Bingham, Fiona: Das tiefste Grab. Ermittlerin Fiona langweilt sich - ewig keine neue Leiche. Aber dann: Eine Archäologin, enthauptet und drei Speere in der Brust. Und das ist nur der Anfang einer Reihe seltsamer Morde, die alle auf irgendeine Art und Weise auf König Artus weisen. Damit nicht genug: Schließlich wird auch noch sein Schwert Excalibur im Darknet angeboten. Liest sich spannend; und die Besonderheit der Reihe um Fiona, nämlich die Einbettung in Sagen, Legenden oder auch tatsächliche historische Hintergründe, das macht Spaß. Guter Krimi. Edward Snowden: Permanent Record. Eigentlich, nein: definitiv kein Krimi, sondern eine Autobiographie ooder ein Memoir, aber wahnsinnig spannend. Snowden beschreibt, wie er Computerspezialist und als solcher Geheimnisträger bei NSA und CIA wurde. Er fand heraus, dass die US-Regierung plante, alle digitale Korrespondenz zu verfolgen und zu speichern. Schließlich deckt er das auf und musste fliehen. Beeindruckender Report. Tolles Buch.
Kultur in Berlin
Sowieso immer wieder großartig: Die Alte Nationalgalerie in Berlin. Gerade besonders toll: Die aktuelle Ausstellung "Kampf um Sichtbarkeit: Künstlerinnen der Nationalgalerie vor 1919". Vor genau 100 Jahren konnten die ersten Frauen ihr reguläres Kunststudium an der Berliner Kunstakademie aufnehmen. Das ist derAnlass für diese Ausstellung. Sie zeigt 83 Werke von 33 Malerinnen und 10 Bildhauerinnen, die es in die Sammlung der Nationalgalerie geschafft haben. Alle sehenswert! Und die Begleittexte sind lesenswert. Die Frauen fanden ganz unterschiedliche Wege zur Anerkennung. So gelang es Vilma Parlaghy, Kaiser Wilhelm II als Förderer zu gewinnen. Dorothea Therbusch wiederum wurde an der Pariser Académie Royale zunächst abgelehnt: Ihr eingereichtes Bild sei so gut, es könne nicht von einer Frau stammen. Sie schaffte es dennoch nach Paris - ebenso wie an die Akademie der bildenden Künste in Wien, wo sie als erste Frau überhaupt ihr Studium aufnahm. Hut ab! |