Ulrike Heitmüller
Politikwissenschaftlerin, Theologin, Journalistin


BLOG



September 2024


Auftritt Schweiz! Büchersalon 

Am 2. September lud die Botschafterin der Schweiz in Deutschland Livia Leu gemeinsam mit dem Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zum "Auftritt-Schweiz"-Büchersalon in ihre Berliner Residenz. Schweizer Verlage präsentierten ihre Herbst-Programme aus den Programmbereichen Belletristik, Sachbuch, politisches Buch sowie dem Kinder- und Jugendbuch: AT Verlag / Atlantis / Der gesunde Menschenversand / Diogenes / Dörlemann / Edition Bücherlese / Edition Königstuhl / Edition Moderne / Geparden Verlag / gta / Helvetiq / Ink Press / Kampa Verlag / Kommode Verlag / Limmat Verlag / Nagel & Kimche / NordSüd Verlag / Rotpunktverlag / Scheidegger & Spiess / Schwabe Verlag / Zytglogge Verlag / Unionsverlag / Verlage der Lesestoff-Gruppe.

Außerdem wurden drei Bücher präsentiert: das Kinderbuch "Julian und Birke" von Lorenz Langenegger (Atlantis), "oder?"» von Judith Keller (Der gesunde Menschenversand) sowie "Klimatopf" von Franziska Stöckli (AT Verlag).

Die Schweiz hat einen sehr gelungenen Auftritt hingelegt; versorgt wurden die Besucher nach Rezepten aus dem Kochbuch Klimatopf (sehr gut); "Julian und Birke" habe ich gleich gelesen und "oder?" werde ich mir noch besorgen, der hintergründige Humor der Autorin und ihre feine Beobachtungsgabe haben mich überzeugt.

Und die Residenz der Schweizer Botschafterin hat mich wirklich begeistert, allein das Gebäude war den Besuch wert. Man darf hoffen, dass diese Veranstaltung auch weiterhin dort stattfindet!


Neue Krimis


Thomas Knüwer: Das Haus, in dem Gudelia stirbt. 2024: Eine schwere Unwetterfront tobt über Deutschland. Die Bewohner von Gudelias Dorf werden evakuiert. Nur die alte Gudelia versteckt sich in ihrem Haus. 1984: Gudelias Mann Heinz kommt spät in der Nacht betrunken nach Hause. Gudelia schreckt hoch und merkt: Ihr Sohn ist noch nicht zuhause. Sie macht sich auf die Suche. 1998: Gudelias Mann ist verzweifelt und trinkt nur noch. Sie sagt, sie will ihn von Schuld und Schulden befreien, dafür soll er ihr das Haus überschreiben.

Thomas Knüwer hat in seinem grandiosen Erstling (?) mit Gudelia eine sehr ambivalente Figur erschaffen, ein Musterbeispiel katholischer Bigotterie, eine Mischung aus Weichheit und unglaublicher Härte. Gute Sprache: "Betrunkenes Lügen  ist niedlich. Wie ein dreibeiniger Hund. Irgendwie süß, vor allem aber traurig." (22) Gudelia geht durch mehrere Höllen: Wegen ihres Sohnes. Dann wegen ihres Mannes, denn die Ehe mit einem Alkoholiker ist die Hölle, selbst wenn er nicht gewalttätig wird. Aber ihre Chuzpe und die, nun ja, hinterfotzige Art ihres Glaubens geben ihr die Kraft. Knüwer folgt seiner Protagonistin, man folgt ihren Gedanken, und man hat Mitgefühl - trotz allem.

Toll.


Karina Urbach: Das Haus am Gordon Place. Professor Hunt will in die USA einreisen, wird aber noch am Flugplatz in New York festgenommen. In seiner Arrestzelle bekommt er Besuch von Emma Spencer. Und die weiß viel über ihn. Unter anderem überrascht sie ihn mit der Nachricht, dass in seiner Wohnung eine Leiche gefunden wurde. Hunt ist Historiker, und Spencer will zusammen mit ihm herausfinden, wer warum von wem ermordet wurde. Seine Neugier wird geweckt und ihre Recherche führt sie in die Nachkriegszeit in Wien, in das frühere Leben von Hunts früherer Freundin und in ihre Kreise, in eine Welt von Vertrauen und Verrat. Und führt sie auch in die Geschichte von Hunts Wohnung, die nämlich früher der MI6-Agentin Daphne Parson gehört hat.

Urbach erzählt in zwei Zeiten und Orten: Im Jahr 2024 geschieht in London ein Mord, Hunt und Spencer  versuchen, ihn aufzuklären. Im Jahr 1948 arbeiten britische Agenten in einem Abhörtunnel unter dem geteilten Wien und versuchen, in den sowjetischen Sektor zu gelangen. Ach, und einmal geht es noch ins Jahr 1990, aber erst am Schluss. Die Schlüsselfiguren sind Professor Hunt und Daphne Parson, die der authentischen MI6-Agentin Daphne Park (1921-2010), später Baroness Park of Monmouth, nachempfunden ist und die Urbach bei einer wissenschaftlichen Konferenz über Nachrichtendienste kennengelernt hat. Urbach erzählt spannend aus der Gegenwart und der Vergangenheit, man fiebert mit; und die Verbindung der Personen über ein altes Haus ist wirklich genial.

Sehr gut.


Jakob Nolte: Die Frau mit den vier Armen. Eine Kommissarin findet eine Leiche. Ein junger Mann, wie drapiert, im Park am Ufer der Ihme. Aitzinger übernimmt den Fall zusammen mit ihrem Kollegen Ilia Schuster; sie recherchieren offline und online, in der Oper und einer ollen Kneipe. Nichts passt zum anderen, nur - es stellt sich heraus, dss mehrere Todesfälle zueinander passen.

Das Buch wirkt wie der Teil einer Krimiserie um die Kommissarin Rita Aitzinger (Verweis auf einen älteren Fall), aber Nolte führt den Leser an der Nase herum. Das tut er nicht nur damit: Immer wieder  liest man Szenen etwa einer Polizeipressekonferenz (116ff), Beschreibungen wie das des Polizeigebäudes (25f), Unterhaltungen der Polizisten untereinander, die fast noch schräge, aber eigentlich absurd sind; Nolte macht sich sehr sanft über alles und jeden lustig; vom Yoga (auch wenn die Kommissarin es macht, 9f) bis zum Gendern (27f) und, wie gesagt, am meisten über den Leser. Mit der Sprache ("die Musik, die über eine Bluetooth-Box lief, die aussah wie eine aufgeschnittene Melone und in einer Holzschale für Obst und Gemüse lag, stimmte Rita wohlgesinnt" (32)), mit der Handlung (die Kommissarin zieht ständig Schlussfolgerungen, die korrekt sind, aber für die sie gar keine Begründung hat). Und, o je, "Seevetal" kommt vor (19), da bin ich groß geworden (nicht gut). Nolte ist vielleicht mal etwas, aber nur ein bisschen, arrogant (bei F-Dur weinen (105)??? F-Dur ist KEINE traurige Tonart, das ist aber Insiderwissen), aber vor allem ist er sehr unterhaltend. Selten hat es so viel Spaß gemacht, und war auch noch so spannend, an der Nase herumgeführt zu werden.

Sehr gut.


Michaela Kastel: Verirrt. "Sie" ist Fee oder Felizitas. Sie schnappt sich ihre 9jährige Tochter und flüchtet mit ihr vor ihrem Mann zu ihrer Mutter. Zu der sie aber schon viele Jahre keinen Kontakt mehr hatte. Die Mutter lebt in einer einsamen Hütte im Wald und ist im nächsten Ort als Käuterfrau bekannt und beliebt. Fee aber bekommt bald Alpträume, oder sind es Backflashes und Erinnerungen? - Ein Monster mit einem Schürhaken, Geräusche in der Wand, eine Höhle ... Dann taucht ein Mann auf, er lebt im Forsthaus - oder in einer selbstgezimmerten Hütte?

Kastel breitet die Handlung aus wechselnden Perspektiven aus: Meistens erzählt "Sie", manchmal auch "er", "es" oder "wir" - und die wechselnden Perspektiven, die man nicht gleich einer Person zuordnen kann, und die man vielleicht sogar falsch zuordnet, geben der Ganzen einen spannenden Dreh. Außerdem zweifelt man gelegentlich an der Zuverlässigkeit der Haupterzählerin Felizitas. Sie und ihre Tochter bemerken Dinge, bei denen man sich fragt, ob sie real sind oder Träume. Der Plot ist spannend, aber nicht wirklich ganz glaubwürdig, erstens würde man in der heutigen Zeit erwarten, dass Felizitas nicht gerade zu dieser Mutter, sondern in ein Frauenhaus flüchtet - wenn man aber  so "argumentierte", dass sie wegen ihrer Mutterbeziehung auf ihren Mann hereinfallen konnte, wäre das glaubwürdig; aber diese Linie ist nicht herausgearbeitet. Außerdem ein paar Kleinigkeiten: Warum hat die Szene S. 20f keine Folgen? Der Aufenthalt im Haus der Mutter ist auch etwas zäh; man ahnt recht bald, was da los ist. Eine Kürzung um 50 bis 100 Seiten hätte dem Buch gut getan. Zwar ist das Buch nicht so spannend und so originell wie "Unsterblich" von derselben Autorin, dennoch ist es spannend.

Ganz gut.


Jochen Brunow: Die Chinesin. Ex-Polizist Gerhard Beckmann lebt auf Sardinien und hat Rückenschmerzen. Die Chinesin Xia ist eine der Tagelöhnerinnen, die am Strand ihre Dienste anbieten: offensichtlich eine Spezialistin für Akupressur. Und sie rettet Beckmann das Leben. Er will sich bedanken, sucht sie und wird Zeuge eines brutalen Überfalls, geht der Sache nach und findet ein kaum zu durchdringendes Netzwerk aus Menschenhandel, Drogenhandel (197), vielleicht auch Wirtschaftsspionage und politischem Lobbyismus ... Mussolini soll Sardinien seinen "nicht zu versenkenden Flugzeugtäger im Mittelmeer" genannt haben (198): Die Insel hat strategisches Gewicht bei einer Auseinandersetzung - und bei einer langsamen, fast unsichtbaren wachsenden Infiltrierung und Einflussnahme durch China, wie ein britischer Geheimdienstler den widerwilligen Beckmann zu überzeugen versucht. Allerdings ist dieser Geheimdienstler ein richtiger Widerling, so versucht er Beckmann, seit wenigen Jahren trocken, zum Trinken zu überreden (262) und Beckmann fragt sich, ob er nicht selbst in irgendwelche Strategiespielchen hineingezogen werden soll (200).

Interessantes Thema: Der wachsende Einfluss Chinas im Globalen Süden und Westen; Jochen Brunow erzählt es mit einem Krimi, der auf Sardinien und in Berlin spielt. Schnelle Lösungen bietet er nicht, nicht mal eine schnelle Auflösung; der Leser muss ich damit abfinden, dass nicht alle Fragen beantwortet werden, aber Brunow lässt ihn vieles erahnen. Interessnte Einzelheiten: Das Dong Xuan Center in Lichtenberg begegnet mir nun schon das zweite Mal in einem Krimi - vielleicht sollte man das mal besichtigen? Einige Hintergrundinformationen über Triaden. Nur wenig zu mäkeln: Rütteln Rote Milane (169) - oder tun das nur Falken und Bussarde? Die Szenen S. 201ff und 254ff kommen aus heiterem Himmel und sind weder wirklich glaubwürdig noch notwendig für die Handlung. Und Brunow nennt viele Orte beim Namen, bis zum Hamburger Nobelitaliener Cuneo´s - nur die "Buchhandlung seines Vertrauens" (279) nicht: jammerschade! Im Großen und Ganzen sehr spannend, besonders die erste Hälfte, danach fällt es etwas ab.

Ganz gut.



August 2024


Neue Krimis


Friedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel. Viola Ahorn engagiert den Privatdetektiv Tabor Süden, weil ihr Mann verschwunden ist. Er war ein Säufer, pumpte seine Saufkumpanen um Geld an, wollte aus seinem unrentablen Kiosk ein Café machen - und dann ist er plötzlich weg. Sie war ihm in einer Art Hassliebe verbunden und verschweigt dem Detektiv ein paar Details; zur Polizei will sie auf keinen Fall. Tabor Süden recherchiert; trinkt mit den Saufkumpanen, befragt die Ehefrau. Die flüchtet sich manchmal zu einer guten Freundin, und diese schleppt sie schließlich zur Polizei. Dann nimmt der "Vermisstenfall" plötzlich eine ganz andere Wendung. Außerdem taucht bei einem der Saufkumpane ein Halbbruder mit eigenen Plänen auf.

Ani lässt den Leser seinem Serienprotagonisten folgen. Der melancholische Ex-Polizist, der zweifelnde Detektiv, der hartnäckige Mensch lässt sich auf seine Mitmenschen ein, versucht sie zu verstehen, und scheitert doch immer wieder an seiner eigenen Introvertiertheit. Und am Schluss zweifelt auch der Leser.

Sehr gut.


Thorsten Schleif: Richter sterben besser. Richter Siggi Buckmann wird fast von einem dunklen SUV überfahren und fast von einem herabstürzenden Blumenkübel erschlagen und fast erschossen. Kürzlich hatte er auf ebenso unkonventionelle wie illegale (und endgültige) Art und Weise dafür gesorgt, dass ein Bösewicht ihm nichts mehr tun kann. Aber da gibt es noch mehr Gangster: Muss er die nun auch verstummen lassen? Und ist seine neue Freundin, die Journalistin Robin, in Gefahr?

Ein Krimi, in dem eine kluge Journalistin auftaucht, ist natürlich etwas Feines. Auch sonst gefällt mir dieses Buch: Ein sympathischer Richter, der jenseits der Grenze der Legalität agiert, ist schon einmal originell. Kleinkram: Schleif meint sicher einen "Antiquitätenhändler", nicht "Antiquar" (72). Ansonsten wirkt das Buch auf mich juristisch exakt, der Richter dagegen schön unvollkommen - seine Rolle bei der Hochzeit seiner Ex-Frau, seine Interpretation der Anschläge: ein bisschen ein Loser. Dann aber wieder nicht, wenn er glaubt, sich wehren zu müssen.

Gut bis sehr gut.


Nikolas Kuhl und Stefan Sandrock: Das Dickicht. Ein Mädchen verschwindet, der Vater erhält eine Lösegeldforderung. Vor knapp 20 Jahren war ein Junge verschwunden - und gestorben. Der Täter nahm sich das Leben und der alte Hauptermittler ging kurz darauf in den Ruhestand; wenig später starb auch er. Damals hatte Juha Korhonen als junger Polizist den Hauptermittler begleitet, nun ist Korhonen gealtert und wird vom jungen Lucas Adisa, den er "Lux" nennt, begleitet. Bei ihren Recherchen beschäftigen sie sich wieder mit dem alten Fall, denn es gibt Parallelen. Und dabei entdecken sie Unstimmigkeiten in den alten Akten.

Interessante Konstellation der Ermittler: Erst war Korhonen, finnischer Herkunft, der Ausländer; nun ist er der Inländer und Lux der Ausländer. Kuhl und Sandrock arbeiten geschickt damit, es ist Teil des Buches, gibt zu denken, nervt aber nicht. Das vorweg. Die Geschichte ist spannend, nicht ganz unkompliziert - "verworren" wäre zu viel gesagt - es geht um alte Männer, alte Schuld, und um das, was verborgen bleiben muss.

Gut.


Christoph Stoll: Waldesdunkel. Justus Hauser ist im Forsthaus aufgewachsen. Jetzt ist er 50 Jahre alt und Waldbesitzer. In den Sommerferien zieht er sich ins alte Forsthaus zurück, in dem noch seine Mutter lebt; dort genießt er die Stille des Waldes. Dann aber wird ein Mann ermordet. Dann ein zweiter Mann. Nix mehr mit Ruhe, stattdessen taucht auch noch eine sehr attraktive Kommissarin auf.

Wieder einiges vorweg, was strenggenommen nichts mit der Qualität des Buches als Krimi zu tun hat: Erstens die dement werdende Mutter. Es fällt auf, dass es in Krimis immer mehr Menschen mit Demenz gibt, auch bei "Das Dickicht" wird eine alte Frau dement. Das spiegelt die gesellschaftlichen Realitäten wider und es tut gut, dass Autoren dafür Worte finden. Zweitens: Die Verpflichtungen eines Waldbesitzers, was auch gesellschaftliche Realitäten widergibt, die in diesem Fall so ganz anders sind, als man sich das gemeinhin vorstellt. Und nun zum Inhalt: Justus Hauser ist ein sympathisch-verschrobener Mensch - wie er als Kunstlehrer mit einer Horde Kinder umgeht, weiß ich nicht, aber der Wald ist seine, nun ja, Heimat, er sieht mehr als andere Menschen, und gemeinsam mit der Kommissarin findet er auch die Lösung - und, vor allem findet er diese gemeinsam mit seiner Mutter, sie finden das Drama hinter den Morden.

Gut.


Martin Krüger: Wer Angst sät. Brandenburg, ein Dorf zwischen lauter Roggenfeldern. Max, 13 Jahre, verschwindet. Tagelang ist er nicht auffindbar. Dann ist er plötzlich wieder da, verschmiert mit Teer und ziemlich verwirrt.  Kurz darauf verschwindet ein junges Mädchen. Und ihre Mutter wird ermordet. Kriminalkommissarin Ella Berger ist von Berlin wieder in das Dorf gezogen, um sich um ihren dement werdenden Vater zu kümmern und muss ermitteln, aber die Dorfbewohner scheinen irgend etwas zu verbergen. Und was hat die alte Sage der Roggenmuhme damit zu tun, die Kinder stiehlt und als Wechselbälger zurückbringt? Berger recherchiert zusammen mit der Profilerin Aya Nakamura und dem Privatermittler Atticus Byrd.

Interessanter Plot, aber nicht gut ausgeführt. Kleinigkeiten: "Sie schlafen zu wenig …` … ´Das tun die anderen auch nicht´". (54) - Das "nicht" ist falsch. Versammeln sich wirklich "Krähen, Spatzen, Amseln" im Herbst auf den Stromleitungen? (64) Ich kenne das vor allem von Schwalben. Also Zugvögeln. In Deutschland gibt es weniger Profiler; eher wendet man hier die Operative Fallanalyse an; Nakamura wirkt nicht glaubwürdig. Die Frauen sind leicht mal etwas dusselig und müssen dann im letzten Moment von einem Mann gerettet werden (155, 351 ff). Die Verkleidung des letzteren ist nicht logisch - wie kam der darauf? Die unerklärlichen Dinge zwischen Himmel und Erde passen nicht ins Buch, immer wieder wird eine auf Wissenschaft basierende Erklärung versucht, aber irgendwie überzeugt weder das eine noch das andere. Wie es ausgeht, ahnt man recht früh.

Nicht gut.


Juli 2024


Neue Krimis


Marc-Uwe Kling: Views. Yasira arbeitet fürs BKA und bekommt einen richtig besch… Fall auf den Tisch: Ein Video geht viral, in dem vier Schwarze eine 16-jährige Weiße vergewaltigen. Die Jugendliche ist seit ein paar Tagen verschwunden, die Polizei findet weder sie noch die Männer, Yasira bekommt Druck von ihrem Chef und der Presse. Und dann beginnen Rechtsextremisten, sich zu organisieren, gegen die Polizei zu arbeiten, Selbstjustiz zu üben; und Yasira beginnt, sich Sorgen um ihr Tochter zu machen.

Kling erzählt mitreißend, humorvoll und spannend eine übelste Spirale der Gewalt; eine Dystopie. Man fragt sich, ob tatsächlich so wenig gegen Rechtsextremismus getan wird, ob KI tatsächlich schon so viel kann. Und man fürchtet, dass dieser Thriller gar nicht einmal so unwahrscheinlich ist. Ein Whodunit, und der letzte Dreh, so ekelhaft er ist, erinnert an den Beginn von Kill Bill, und ich schwanke zwischen einerseits Dankbarkeit dafür, dass Kling der Versuchung von Voyeurismus widerstanden hat, dafür, dass einer Frau nach solchen Erlebnissen Kraft zum Weitermachen "zugestanden" wird und andererseits Ekel darüber, dass sexualisierte Gewalt eben doch vorkommt - aber die ist eben ein leider probates Mittel vieler Männer, Frauen zu unterdrücken; nachzulesen bei Christina Clemm und Susan Brownmiller undundund. Dennoch: verstörend, spannend, und, ja, humorvoll. Weil eben Yasira klug und humorvoll ist.

Toll.


Wolf Harlander: Partikel. Bei einer schicken Hochzeitsfeier werden Menschen vergiftet. Einige erkranken, einige sterben. In Marseille läuft ein Frachtschiff Richtung Nigeria aus und nur der Kapitän scheint zu wissen, woraus die Ladung besteht. Ein Mann, kürzlich verwitwet, bangt um das Leben seiner kleinen Tochter. Eine Journalistin profiliert sich in der Redaktion eines Start-Ups, erhält zwei unmoralische Angebote und will ihren Idealen treu bleiben; aber auch sie hat Angst um das Leben des kleinen Mädchens, ihre Nichte. Dann gerät sie selbst in Gefahr und es dauert eine Zeit, bis sie merkt, warum. Die BND-Mitarbeiter Carius und Winkler folgen der Spur des Plastiks und Carius folgt wie üblich auch seiner eigenen Agenda mit der Recherche nach dem Todesumständen seiner Eltern. Für meinen Geschmack hinterlässt er dabei ein paar digitale Spuren zu viel.

Das Thema ist wichtig und ich nehme Harlander ab, dass es auch ihm persönlich wichtig ist. Er erzählt - ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach spannend! - von der allgegenwärtigen Umweltverschmutzung mit winzigen Plastikpartikeln. Zwar stört mich auch in diesem Buch ein bisschen, dass er erstens Gefühle nicht richtig erzählen kann: Das Drama um das krebskranke Kleinkind, die Ängste des gebeutelten Vaters und der Tante bleiben merkwürdig blass; Harlander ist besser mit Fakten und Spannung. Und zweitens tritt die handwerkliche Arbeitsweise manchmal allzu offen zutage: Er führt Menschen kurz ein, die dann sterben; so geht er sicher, dass man mitfühlt. Und die Journalistin Melissa ist natürlich jung und idealistisch. (Übrigens arbeitet sie (oder Harlander) wohl nicht immer ganz genau: S. 90f spricht ihr Interviewpartner von "etwa fünf Gramm"; sie notiert aber (96) "bis zu fünf Gramm". Das hätte ein Lektor merken sollen, auch wenn es nicht schlimm ist.) - Solche Kniffe sind erlaubt, natürlich, und notwendig, aber es kommt immer ein bisschen zu sehr heraus, dass es eben handwerkliche Kniffe sind, um das Buch spannend zu machen. Aber egal, es IST einfach spannend, und das über 600 Seiten, eine Leistung. Ich habe es sehr gern gelesen und nach dem fiesen Cliffhanger am Schluss bin ich noch neugieriger als nach den beiden ersten Thrillern (Systemfehler (s.u. Juni 2022)und Schmelzpunkt (s.u. September 2021)) um die BND-Leute Nelson Carius und Diana Winkler, wie es weitergeht.

Sehr gut.


Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers. Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern, Anfang der 1990er. Hauptkommissar Groth hat seine Tochter verloren und einen Fall verbockt. Er wird von Hamburg in seine Heimatstadt Wechtershagen in Mecklenburg-Vorpommern geschickt: Aufbauhelfer Ost, Kollegen schulen. Ein etwas abgerissener Mann besucht ihn und sagt, er werde verfolgt. Groth nimmt ihn nicht ernst und kurz darauf ist der Mann tot, ertrunken in einem See. Groth soll den Fall zu den Akten legen, recherchiert weiter, lernt eine Kellnerin eines Cafés am See kennen und stößt auf einen elf Jahre alten Mordfall. Regine wurde mit 17 schwanger, verpasste das Abi, berappelte sich und arbeitete im Kempinski in Berlin. Dann kündigt sie und fängt als Kellnerin in ihrer Heimatstadt an, in Wechtershagen. Die Perspektiven des Kommissars und der Kellnerin führen durch die Ereignisse und Erinnerungen.

Susanne Tägder hatte für kürzere Texte schon Preise bekommen; hiermit legt sie ihren ersten Kriminalroman vor. Die Autorin dankt am Schluss der Journalistin Renate Meinhof, die vor über 20 Jahren eine Reportage  in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hatte, über einen Mann, der zu Unrecht eines Morde verdächtigt wurde und daraus nicht mehr herauskam, nicht einmal, als sich später seine Unschuld herausstellte. Tägder nimmt das in ihrem Krimi auf, sie erzählt von alter Schuld, vom Ausweichen, von den Folgen von Folter und falschen Beschuldigungen. Das Buch ist spannend, man folgt Groth bei seinen Ermittlungen und leidet mit ihm, weil sich sein Hamburger Versagen natürlich herumgesprochen hat. Man folgt Regine, rätselt, was sie im Schilde führt, und bangt.

Gut bis sehr gut.


Norbert Horst: Lost Places. Ein originelles Team, die Staatsanwältin Camilla Lopez, der Kriminalhauptkommissar Deniz Müller und der Journalist Alexander Rahn. Alle Mitte, Ende 30, befreundet seit der Schulzeit, Singles, leben im Ruhrgebiet, jeder mit eigenem Zugang zu den Fällen - oder ist es ein Fall? Ein Obdachloser wird tot aufgefunden. Eine wohlhabende alte Frau ist gestorben - aber war es ein natürlicher Tod? Drei Leichen sind in einem ehemaligen Krankenhaus eingemauert. Worum es geht und was dahintersteckt, kommt erst ganz allmählich heraus. Die Recherche ist spannend, man ahnt von vornherein die Gefahr, in der Rosemarie Wachowiak schwebt - und ist glücklich über die Hartnäckigkeit der Polizisten und die gute Zusammenarbeit unter den Kollegen.

Ex-Kriminalhauptkommissar Norbert Horst hat mit diesem Buch eine vielversprechende Reihe um das Team aus Staatsanwältin, Polizist und Journalist begonnen. Man hofft auf Authentizität bei einem Autor, der selber Polizist war. Beim Journalismus allerdings bekommt er es nicht immer ganz hin: Dass ein Journalist seine Quelle, so ekelhaft sie auch sei, in die Falle lockt und den Behörden ans Messer liefert, ist nicht sehr wahrscheinlich, hoffe ich zumindest. Spätestens nach dieser Volte ist Rahn für mich keine sympathische Figur mehr. Gleichzeitig ist schwer verständlich, dass er nach der Nachricht einer anderen Quelle NICHT die Polizei benachrichtigt hat (und dass die nicht gleich reagierte, als er es dann endlich doch tat.) Gut dagegen die Charakterisierung des Polizisten mit türkischem Aussehen und dem Nachnamen "Müller" - die beiden Polizisten mit türkischen Wurzen, denen der Autor am Schluss dankt, haben sich diesen Dank redlich verdient: Witzig, ohne erhobenen Zeigefinger, und manchmal bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Der letzte Dreh um den Nazi, der nicht aufgedeckt wird, wäre vielleicht gar nicht notwendig gewesen - der ist auch so ekelhaft "genug". Dennoch: Ich bin gespannt auf weitere Fälle.

Gut.


Veit Heinichen: Beifang. Triest, fünf Uhr in der Früh. Kommissar Proteo Laurenti schnappt sich seine Harpune und geht fischen. Erst fängt er eine Meerrabe und dann - eine Leiche. Als Beifang besonders unangenehm, denn eigentlich soll er ein einigen Wochen pensioniert werden. Nun bekommt er erstmal einen Haufen Arbeit auf den Tisch - denn wer wurde hier ermordet, warum und von wem?

Autor Veit Heinichen lebt selber seit über einem Vierteljahrhundert in Triest. "Triest ist eine Schnittstelle Europas, der Ort, in dem sich die drei großen europäischen Kulturen begegnen: die romanische, die slawische und die germanische", schreibt er auf seiner (lange nicht aktualisierten) Website. Diese Schnittstellen-Stadt ist die heimliche Hauptperson dieses Buches, Commissario Laurenti hat alle Hände voll zu tun, wenn er die Vetternwirtschaft durchschauen will, die mit dem Mord zu tun hat - oder auch nicht. Seine eigenen Hände bleiben auch nicht ganz sauber, in Deutschland würde so ein Krimi nicht spielen können. Heinichen tut sehr emanzipiert, so ist, war die Tote eine ausgezeichnete Skipperin, Laurentis Frau eine erfolgreiche Maklerin, und die Triestiner Frauen werden als  sehr selbstbewusst gelobt (59 u.ö.). Aber Laurenti wird mit Nachnamen genannt, die Frauen mit Vornamen. Außerdem "lacht" ständig jemand einen Satz, stattdessen sollte es heißen, jemand "sagt" etwas und lacht. Oder so. Und der durch die beiden Landrover verursachte Unfall hat scheinbar keine Konsequenzen; sollte er aber - so ist es unlogisch. Trotzdem ist das Buch nicht schlecht und leidlich spannend.

Ganz gut.



Juni 2024


Kunst und Kultur in Hamburg

Noch bis zum 15. Juli läuft im Altonaer Museum Hamburg die Ausstellung „Glauben und glauben lassen. Eine Ausstellung über Freiheiten und Grenzen“.

Glaubensfreiheit? Die ist in der Bundesrepublik Deutschland ein Grundrecht. In unserem Grundgesetz heißt es in Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

Die Bundesrepublik mit ihrem Grundgesetz gibt es aber noch nicht so sehr lange. Und vorher sah es mit der Glaubensfreiheit nicht überall gut aus. In Altona durften schon seit 1601 Mennoniten, Reformierte, Juden und Katholiken ihren Glauben offen leben; im lutherischen Hamburg dagegen sah es anders aus. Die Ausstellung zeigt Dekrete und Pamphlete, Faksimiles und Fotos, Interviews, QR-Codes und Texttafeln, die diese Geschichte(n) erzählen und erklären.

In Altona existierten dank der toleranten Landesherren die unterschiedlichen Religionen friedlich nebeneinander; sie waren sichtbar, ihre Anhänger bauten Gotteshäuser, und feierten Feste und Gottesdienste. Viele Vertreter der lutherischen Staatsreligion dagegen lehnten die Duldung religiöser Minderheiten ab, lutherische Pastoren hielten Hasspredigten; immer wieder wurden im 17. Jahrhundert in Altona Katholiken, Mennoniten und Juden angegriffen: So wird berichtet, dass im Jahr 1963 60 Reiter einen katholischen Gottesdienst in Altona überfielen und mehrere Gläubige umbrachten. Damit nicht genug: Am darauffolgenden Tag fiel „Gesindel“ ein und zerstörte, was übriggeblieben war.

Die deutsche Geschichte mit den Religionen ist eine wechselhafte: Im Jahr 1919 gewährte die Weimarer Reichsverfassung Religionsfreiheit und trennte Kirche und Staat. Ab 1933 wurde die Religionsfreiheit wieder eingeschränkt. Ab 1945 schlossen sich wieder Gläubige zusammen.

Verfolgung aus religiösen Gründen ist eine sehr alte Fluchtursache und ist seit 1951 in der Genfer Flüchtlingskonvention als Fluchtgrund benannt. „Neue“ Religionen kamen nach Altona mit der Arbeitsmigration ab 1955, mit Boatpeople nach 1975, Kontingentflüchtlingen ab 1991, Katholiken aus den neuen EU-Ländern ab 2004, und aktuell aus anderen Ländern und Gebieten.

Die Sonderausstellung, so die Ausstellungsmacher, „spannt einen Bogen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart und zeigt, dass die Geschichte der Glaubensfreiheit eine Geschichte über Freiheiten und Grenzen ist.“ Sie hoffen auf Austausch über die Bedeutung von Glaubensfreiheit und „darüber, wie eine vielfältige Gesellschaft in gegenseitigem Respekt zusammenleben kann.“

Das kann - und sollte - gelingen. Die Ausstellung ist lehrreich – und interessant.

Neue Krimis


Vera Buck: Das Baumhaus. Im Prolog erzählt ein Kind vom Schwimmen in der rauhen See. Dann erzählen abwechselnd Rosa, Henrik und seine Frau Nora, und Marla ihre Geschichte. Rosa will herausfinden, wie Kadaver die Blattfarbe der bei ihnen wachsenden Pflanzen beeinflusst, und versehentlich gräbt sie dabei eine Kinderleiche aus. Henrik und Nora verreisen mit ihrem gemeinsamen Sohn Fynn nach Schweden, ins Häuschen von Henriks verstorbenen Großvater, wo sie aber keine Idylle, sondern den Horror finden. Und Marla hat den Horror erlebt.

Wie schon in ihrem Krimindebut "Wolfskinder" (siehe unten, März 2023) lässt Vera Buck auch in "Das Baumhaus" mehrere Protagonisten berichten, was sie erleben. Ein Kind verschwindet, eine Kinderleiche taucht auf, und seltsame Figuren scheinen Gefahr zu bringen, aber man kann sie nicht recht fassen, wie eine Hexe, die ein kleiner Junge vor dem Fenster gesehen haben will. Nach und nach stellt sich heraus, dass alle etwas zu verbergen haben. Die Menschen sind sehr unterschiedlich: Rosa mit Zügen eines Asperger-Syndroms (sie aber wirkt am normalsten, wahrscheinlich ist sie der Liebling der Autorin; mein Liebling wurde sie sehr schnell, und die Szene 212ff ist richtig schön warmherzig-komisch), die pragmatische Norah, der sensible Autor Henrik. Manchmal (z.B. S. 172) merkt man, dass die Autorin einen an der Nase herumgeführt hat, dann wieder (96) kommt eine gute Erklärung.

Guter, sehr guter Thriller!


Sia Piontek: Die Sehenden und die Toten. Die Ermittlerin Carla Seidel ist mit ihrer 17jährigen Tochter Lana von Hamburg ins Wendland gezogen. Geflüchtet, müsste man eigentlich sagen: Ihr Exmann wurde gefährlich, sie verschwand. Aber nun scheint sich während ihrer Abwesenheit jemand in ihrem Haus zu schaffen zu machen, und sie bekommt Angst um ihre Tochter. Die wiederum ist sehr sensibel, menschenscheu, und erzählt mit ihren 17 Jahren der Mutter natürlich nicht mehr alles, was sie so denkt. Oder gar tut. Dann muss Seidel den Mord an einem Mann im Alter ihrer Tochter aufklären. Und das bleibt nicht der einzige Mord.

Sia Piontek ist das Pseudonym einer Autorin, das vorliegende Buch ist aber ihr erster Krimi und gleichzeitig der Auftakt einer Krimireihe um die "Wendland-Ermittlerin" Carla Seidel. Der esoterische Kram um "Human Design" und "Reflektoren" hat ein bisschen genervt; ich mag Esoterik nicht in Krimis, zumindest hier passt es nicht, man hätte Lanas Fähigkeiten auch mit besonderer Sensibilität erklären können, wie es auf S. 42 ja auch geschieht - teilweise. Ich fand es auch kaum nachvollziehbar, dass die Ermittlerin der Tochter Gefahren verschweigt. Und vor allem, dass sie zuhause Fotos herumliegen lässt (45) und mit ihrer Tochter so oft über den Fall spricht; auch Glaw (s.u.) erfand eine recht schwatzhafte Kommissarin. Das ist handwerklich verständlich, auf diese Weise wird der Leser durch Dialoge informiert, was ein wirkungsvoller Kunstgriff ist, aber die Figuren macht es unglaubwürdig, wenn der Autor das nicht wenigstens problematisiert. Ein paar Musiktipps waren interessant: Glass Animals (105), Outer Vision (264), Peter McPoland/Digital Silence (406). Insgesamt spannend, ich habe den Krimi gern gelesen und bin gespannt auf den nächsten Wendland-Fall.

Gut.


Mascha Vassena: Schatten über Monte Carasso. Der dritte Fall für Moira Rusconi: Ihr Vater Ambrogio muss zur Kur und er überredet seine Tochter, ihn zu begleiten. Aber statt dass sie sich in einer schicken Wellnessklinik im Tessin erholen, geraten sie in einen Kriminalfall: Eine Mitpatientin umgarnt Ambrogio, eine Mitpatientin verschwindet, dafür taucht der attraktive Rechtsmediziner Luca auf.

In diesem Buch fließt der Wein in Strömen, kein Wunder, dass Ambrogio zur Kur muss. Ein harmloser Sommerkrimi, leicht zu lesen. Ein paar typische Frauenthemen (Moiras Freundin Chiara, Inspektorin, hat sich die Haare zu einem kinnlangen Bob schneiden lassen, um im Job ernst genommen zu werden (84); mit demselben Ziel lässt sie sich coachen). An anderen Stellen wirkt die Polizei- und auch die Pressearbeit unglaubwürdig (108, 119 ff). Gut, naja, nicht "gut", eher "respektabel", wie das Schicksal von Angela ernst genommen und ihre Entscheidung respektiert wird (343 u.ö.) 

Insgesamt ganz gut.


Thomas Michael Glaw: Huldrychs Ende. Huldrych Librorius feiert ein großes Fest auf seinem Schloss Iringsburg bei München, mit Fackeln, livrierten Dienern, Schickeria, und den wichtigen Menschen des Literaturbetriebes: Der Verleger und Buchhändler hat seine 250. Buchhandlung eröffnet. Lang kann er den Ruhm nicht genießen, denn er wird ermordet. Die Kriminaloberkommissarin Jana Vecera recherchiert, erfährt ein bisschen über Blogger (41) und Buchpreisbindung (43) und bekommt auch sonst recht viel zu tun, denn dieser Mord bleibt nicht der einzige.

Das Buch soll eine Kriminalsatire sein, aber ihm fehlt jegliche Finesse. Das fängt schon bei den Namen an, die völlig übertrieben sind: Huldrych, Casper Kurt Casper, Bildric, Hexenstaller und die Pseudonyme Theophilus von Laberheim, Plaudrian, Liberschwafel. Witzig immerhin die Episode um den postkolonialen Dramatiker (61) und eine Veganerin, die der Polizei auf die Sprünge hilft (68). Aber lässt sich eine Polizistin wirklich Informationen über die Datenkrake WhatsApp schicken? (48). Und ein Buchblogger/NZZ-Literaturkritiker, der obendrein ein hervorragender Gastwirt ist, das ist ja wirklich eine wunderbare Idee, aber man fragt sich doch, ob eine Polizistin ihm wirklich so viel erzählen sollte bzw. würde. Nicht spannend, aber ganz nett zu lesen.

Geht so.


Linus Geschke: Wenn sie lügt. Elisabeth, die Mutter von Gorans Jugendliebe Norah, bittet Goran, nach langer Abwesenheit ins gemeinsame Heimatdorf Waldesroda zu kommen: Ihre Tochter Norah bekommt Briefe, die sie ängstigen. Die Briefe scheinen von Norahs Ex-Freund zu stammen, der - nachdem er zwei Menschen ermordet hatte - ertrunken war. Goran und Norah gehörten zu einer Clique, sie wuchsen gemeinsam auf, erlebten erste Verliebtheiten, bis zu den Morden, die aus Norah einen einsamen Menschen machten, weil sie dadurch zur "Ex des Killers" wurde.

Geschke erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven von Goran, Norah und einem "Er", dem man bald Böses unterstellt. Ist er der angeblich ertrunkene Killer? Man vermutet es, weil Norah diese geheimnisvollen Briefe erhält, mit Details, die eigentlich bloß ihr Ex gekannt haben sollte. Vielleicht ist er es, vielleicht nicht: Ich habe die Lektüre auf Seite 118 abgebrochen. Zu sehr hat mich der schlechte Stil genervt. "Jede weitere Enttäuschung hatte in ihrer Seele Wunden geschlagen und ihr Urteilsvermögen infrage gestellt." (47) "Obwohl er vier Jahre älter war als sie, übte er sich in Zurückhaltung, was gewisse Dinge anging." (53) Sie "konnte ihre guten Freundinnen an zwei Fingern abzählen." (70) Jemand, der sich durch so etwas nicht gestört fühlt, kann das Buch aber durchaus spannend finden. Ich aber fand an diesem Thriller eigentlich nur die kurzen Sachtexte interessant: je nur ein paar Sätze mit Statistischem zu Morden, Obduktionen etc.

Nicht gut.



Kunst und Kultur in Hannover

Eigentlich ging ich bloß ins Landesmuseum, weil dort die Caféteria schon offen war. Zehn Uhr vormittags, nach der Zugfahrt hatte ich schon wieder Hunger, naja zumindest Appetit, und das Café im Sprengel Museum sollte erst um elf oder zwölf Uhr öffnen, und auf dem Weg vom Bahnhof zum Sprengel kam ich halt am Landesmuseum vorbei. Die Caféteria lockte – auch dieser Besuch lohnte sich – und dann das Landesmuseum! „Landesmuseum“ klingt ja erst mal langweilig, aber es ist wirklich großartig.

ich werde noch etwas“ ist eine Ausstellung über Paula Modersohn-Becker, und sie wurde glücklicherweise verlängert, noch bis zum 20. Oktober 2024 kann man sie besuchen.

Sie war und ist wichtig. Ich zitiere die Museums-Website: „Paula Modersohn-Becker ist eine Pionierin der deutschen Moderne. Die Malerin gehört nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Zeit um 1900. Sie war die erste deutsche Expressionistin – noch vor der Gründung der Dresdner Brücke 1905 und dem Münchener Blauen Reiter 1908. Sozial- und emanzipationsgeschichtlich nimmt sie eine herausragende Stellung und für ihr Geschlecht vorbildliche Position ein.“

Derzeit verwahrt das Landesmuseum 39 Gemälde von ihr, die weltweit größte Sammlung außerhalb Bremens. Klar, das Künstlerdorf Worpswede, wo sie lebte und arbeitete, liegt bei Bremen, dort hat man naturgemäß mehr.
Im Sommer und Herbst 2024 werden mehrere Paula Modersohn-Becker-Retrospektiven in den USA gezeigt: Erst in der Neuen Galerie New York, dann im Art Institute Chicago; fünf Gemälde aus der Hannoverschen Ausstellung reisen in die USA, in Hannover sieht man die Leerstelles, etwas schade, aber das ist wohl einfach der Preis für die Verlängerung der Ausstellung.

Schon als Sechsjährige bekam sie Zeichenunterricht, mit 20 begann sie ihr Studium an der Mal- und Zeichenschule des Vereins Berliner Künstlerinnen und Künstler, mit 23 stellte sie in der Kunsthalle Bremen aus – und wurde von der Presse verrissen. Später reiste sie insgesamt viermal nach Paris, studierte, und entdeckte Künstler wie Cézanne und Matisse. Dann mietete sie ein Atelier in Worpswede. Mit 25 Jahren heiratete sie den Künstler Otto Modersohn. Später verließ sie ihn, aber er bezahlte weiter ihre Ausbildung. Dann kehrte sie zu ihm zurück, bekam ein Kind – und starb mit 31 Jahren im Kindbett.

Bis dahin schuf sie wunderbare Bilder in einer erstaunlichen Vielfalt von Themen. Landschaftsbilder, Stillleben, und - ihre Spezialität - Darstellungen von Frauen und Kindern. In der Hannoverschen Ausstellung werden die Bilder wirklich gut erklärt und ins Leben der Künstlerin eingeordnet.

Diese Ausstellung ist aber noch längst nicht alles, das Landesmuseum hat eine große Sammlung, ich habe Aquarien und Terrarien bewundert und gelernt, dass Schollen (lecker Maischollen, muss ich nächstes Jahr dran denken!) als junge Fische beginnen, mit der linken Körperseite nach unten zu schwimmen, allmählich wandert das linke Auge auf die rechte Seite, auch das Maul verschiebt sich ein Stück. Erwachsene Schollen graben sich ein bisschen in den Meeresboden ein, nur die Augen gucken raus, und bedecken ihre rechte obere Seite mit Sand oder Kies, sie passen ihre Eigenfarbe der Umgebung an - fast unsichtbar, diese Chamäleons der Meere! Man kann einen neuen Hecht betrachten (ist im Mai eingezogen), und richtig viel über Wasser und Land, Tiere und Pflanzen und Geographie lernen.

Nix wie hin!


Mai 2024


Neue Krimis


Lucie Flebbe: Bad Business - Spiel mit dem Tod. Mieke Jentsch, stellvertretende Klinikverantwortliche, will Karriere machen. Sie entwirft ein Marketingkonzept, um ihre Kliniken auszulasten und finanziell profitabel zu machen. Da stirbt plötzlich ihr direkter Vorgesetzter. Sie soll nachrücken, wird zu einem pferdegestützten Coaching geschickt und als Chefin soll sie die Kliniken an einen Medizinkonzern verkaufen. Nur stellt sie fest, dass das mit den Pferden und dem Coach irgendwie ganz anders ist als erwartet. Sie überlebt mehrere Anschläge und beginnt sich zu fragen, wieso und woran ihr Vorgänger eigentlich gestorben ist. Parallel dazu versucht die attraktive Ocean mit Billes Hilfe, trotz Trauma zu leben, und die geflüchtete Marva will in Deutschland ankommen.

Ich brauchte ein paar von den (kurzen) Kapiteln, um mich mit den Personen und ihren Handlungssträngen zurechtzufinden. Flebbe erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven, man ahnt die Dramen hinter den Menschen und ihren Handlungen, und allmählich schält sich die ganze Geschichte aus Gewalt und Bürokratie, Bestechung und Rentenversicherung hinter den vielen Handlungssträngen heraus. Überraschend spannend!

Sehr gut.


Ingo Bott: Pirlo (3) - Gefährlicher Freispruch. Anton Pirlo, noch völlig fertig von der eiskalten Dusche im letzten Prozess, spaziert nachts durch Düsseldorf-Pempelfort. Da sieht er, wie ein riesiges Corona-Testzentrum lichterloh brennt. Er ruft die Feuerwehr - und bald ist er mehr in den Brand verstrickt, als ihm lieb ist: Beschuldigt wird nämlich das Mitglied eines Clans - und der behauptet nicht nur steif und fest seine Unschuld, sondern verlangt auch noch von Pirlo, dass der ihn verteidigt. Mit, naja, gutem Grund.

Wieder ein starker Bott. Pirlo, vom Namen her die Hauptperson, ist chaotisch wie immer. Sophie Mahler lernt als Anwältin mehr und mehr, sie wird immer besser - und immer wichtiger im Buch. Pirlos Familie bringt ihn wieder einmal in eine besch...eidene Lage, hilft ihm aber auch. Und natürlich steht auch diesmal hinter dem Brand etwas ganz anderes. Ein paar kleine Fehler haben sich eingeschlichen, wie bei wohl jedem neuen Buch: So war Ahmid sicherlich nicht die "Geisel" der Altstadt (222), sondern die Geißel. Und hinter "Spruchrichter" fehlt ein Komma (486). Aber das sind Nebensächlichkeiten. Schön dagegen Botts Seitenhieb auf eine "Katastrophenentscheidung" des Bundesgerichtshofes in puncto Bestechlichkeit von Abgeordneten (258ff. - es folgt ein durchaus berechtigter Seitenhieb auf die Presse.) Man lernt etwas über die Taktik von Alkoholikern (327) und über Krafttraining, obwohl Ahmid sicherlich mehr als dreißig Kilo (337) stemmen dürfte. Und wie immer lernt man viel über Strafrecht. Die kurzen witzigen und etwas rotzigen Nebensätze sind ein bisschen viel, aber gut.

Gut bis sehr gut.


Sybille Ruge: 9mm Cut. Eine Privatermittlerin, die sich für ihren neuen Fall Evelina Klein nennt, fängt sich einen Tripper ein, verprügelt einen Bösewicht und recherchiert zu einer NGO namens Interni. Vor deren Bürotür liegt ein Kopf in einer Plastiktüte und der Geschäftsführer wird erschossen. Hauptmäzen Wellinghofen hatte die Stiftung eigentlich für seinen eigenen guten Ruf unterstützt, fürchtet nun das Gegenteil und hat Klein engagiert. Die quartiert sich in Zürich ein, zieht ein Kostüm an und macht sich an die Arbeit.

Privatermittlerin Eve entdeckt kaum etwas, und warum sie tagelang bei der Familie wohnt, zu der sie ermitteln soll, wird kaum klar; die Kinder bleiben blass, weil sich ihr Handeln so oft wiederholt; die Männer sind auch langweilig. Dies Buch hat dasselbe Manko wie der neue Grisham: Es passiert zu wenig. Grisham gleicht das Manko dadurch aus, dass "Die Entführung" im Grunde trotz mehrerer Toter ein Wohlfühl-Krimi ist oder zumindest Aspekte zum Wohlfühlen hat; Ruge durch ihren schnodderigen Ton und weil die Ermittlerin so eine ungewöhnliche Type ist. So liest man die Bücher gern, aber nicht sehr gern. 

Gut.


I. L. Callis: Doch das Messer sieht man nicht. Berlin, 1927. Anais Maar, junge Journalistin bei einem Boulevardblatt, wird aus der Kulturredaktion strafversetzt und muss nun Polizeiberichterstattung machen. Mehrere Prostituierte werden ermordet, Maar berichtet, ihre Artikel werden beachtet, aber sie gerät darüber in Gefahr. Auch, weil Rassisten sie als schwarze Frau bedrohen, und weil sie heimlich in einer recht übel beleumdeten Gegend Boxen trainiert. Maar ist privilegiert aufgewachsen und lernt Josefine kennen. Die verdient sich ein Zubrot als Gelegenheitsdiebin und -prostituierte. Und sie hat Informationen für Maar.

Die Autorin I. L. Callis stellt ihre Figuren in die unterschiedlichsten Milieus des Berlin der Weimarer Zeit. Die Chancen sind ungerecht verteilt - man bewundert Josefine für ihre Chuzpe bei ihren "Aufstiegsversuchen" und Anais für ihre Zähigkeit, mit der sie ihre Leidenschaften, Boxen und Journalismus, verfolgt. Wobei sie das Glück hat, von Anfang an einen Trainer zu haben, der ihr Talent erkennt und sie fördert. Die Autorin lässt ihre Figuren die Vorurteile der Umwelt spüren - so etwa hält sich Josephine Baker, die schwarze Tänzerin (und spätere Widerstandskämpferin) gerade in Berlin auf, und immer wieder wird Anais Maar mit ihr verwechselt, Schwarze sehen doch alle gleich aus, oder? Und Josefine klaut die Kleidung reicher Frauen, um als Eine der ihren angesehen zu werden - und wohlhabende Freier zu ergattern. Wenn Maar durch ihre Artikel in Gefahr gerät, wirkt das auf mich etwas naiv (102f u.ö.), und ein Boxer tänzelt nicht mit "angewinkelten" Beinen (331), sondern er geht ein wenig in die Knie, verlagert seinen Schwerpunkt tiefer o.ä. Aber das alles ist eher Kleinkram. Insgesamt ein spannender Krimi vor dem düsteren Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus.

Gut.


Marc Voltenauer: Die Nacht des Blutadlers. Andreas Auer, Kriminalpolizist in der Schweiz, reist nach Gotland. Dort ist er aufgewachsen und nun will er seiner Vergangenheit nachforschen. Er leidet unter Alpträumen und vermutet, dass die einen realen Hintergrund haben. Und tatsächlich stößt er auf einen Cold Case aus dem Jahr 1979: Damals wurde eine sechsköpfige Familie wie in einem Wikingerritual misshandelt und ermordet. Man munkelte von einer Gruppe, einem "Wikingerclan", aber niemand will Genaueres sagen.

Marc Voltenauer schreibt in drei, manchmal vier Zeitebenen: 1944, Ende der 1970er, irgendein aktueller Juni, und drei Jahre vorher. Vor drei Jahren wurde Andreas´ Lebensgefährte schwer verletzt. Jetzt reist Andreas nach Gotland. Ende der 1970er gründete sich der Wikingerclan und die Familie wurde ermordet, und im Jahr 1944 entstanden Verbindungen zwischen einigen Beteiligten. Die Jetztzeit und die späten 1970er sind wichtig für die Handlung, die Episode von vor drei Jahren nur, wenn man die ganze Reihe lesen will (Der Blutadler ist Band 3 der Andreas-Auer-Serie, Band 1 heißt "Das Licht in dir ist Dunkelheit" und Band 2 "Wer hat Heidi getötet?"), ähnliches gilt wohl auch für die Ereignisse aus dem Jahr 1944. Der Plot ist eigentlich raffiniert, aber ich fand das Ganze etwas wirr und umständlich erzählt, vor allem, was Kleinigkeiten betrifft. Zum Beispiel erklärt Voltenauer sehr viel, was mir aber auch schon bei anderen Schweizer Autoren aufgefallen ist, und was hier manchmal etws billig wirkt: "Linda sank in sich zusammen. Tief in ihrem Innern hatte sie diese Ähnlichkeit vermutlich längst erkannt, aber ihr Gehirn hatte die Verbindung nicht zugelassen, weil die Situation zu unwahrscheinlich war. Sie fing an zu weinen und stieß einen Urschrei aus, der aus ihrem Innern kam." (154).  "Scham hatte sich seiner bemächtigt. [...] Nackt vor den Polizisten zu stehen war sehr erniedrigend gewesen. Am liebsten hätte er seine Not herausgeschrien." (249) Manchmal stören kleine Widersprüche den Lesefluss ("Der Mann mit dem autoritären Gesichtsausdruck machte eine verdrießliche Miene." - Was denn nun: autoritär oder verderießlich? 436), Annas Verhalten S. 267 ist wirklich daneben, und einige Kapitel sind einfach überflüssig (z.B. Kapitel 127).(Aus dem Französischen übersetzt, 2019.)

Geht so.


Matthias A. K. Zimmermann und Kristina Schippling: Intoxikation. Dies ist der erste Band einer Romanreihe, für die der Verlag die ganz große Werbetrommel rührt, mit Animationsfilm und allem Drum und Dran. Kara, erfolgreiche Künstlerin in Berlin, probiert verschiedene Drogen aus und tötet versehentlich ihren Ex-Freund. Die Beseitigung der Leiche stellt sich als nicht so einfach heraus: Sie löst sie in Natronlauge auf, das stinkt, und damit das nicht so auffällt, leiht sie sich einen blühenden Titanwurz aus, eine Pflanze, die selber fürchterlich stinkt und den Leichengeruch sozusagen über-stinken soll.

Ein guter Plot, viele witzige Szenen - etwa die vielen Besucher in Karas Atelier (54ff) - aber grottenschlecht geschrieben: Nervige Adjektive: "Sie schwitzte und fror gleichzeitig, wenn das überhaupt möglich war. Ängstlich ..." (54). Logische Fehler: Kara schreit (24) und verbeißt sich wenig später wegen der neugierigen Nachbarschaft das Schreien (34). Sehr unwahrscheinliche Szenen: Ein Mann steigt in Karas Atelier auf eine zugedeckte Badewanne. Sie will ihn da weghaben: "Geistesgegenwärtig packte sie ihn an den Beinen und stellte ihn auf dem Boden ab." (57) Das würde allenfalls Pippi Langstrumpf fertigbringen. Letztlich weiß ich nicht einmal, ob die Komik beim Besucheransturm im Atelier wirklich beabsichtigt ist. Ich habe die Lektüre nach Seite 69 aufgegeben. Jemand, den schlechter Stil nicht stört, kann vielleicht Spaß am Buch haben.

Nervig.


März / April 2024


Kunst in Wien


Prinz Eugen (1663 - 1736) hatte es schön. Die Sommer verbrachte er im Belvedere, die Winter in seinem Winterpalais, dem „Stadtpalais“, wo ihm etwa ein Kaffeezimmer (im 17. Jahrhundert kam die Kaffeekultur durch kolonialen Handel nach Europa) und daran anschließend ein Spielzimmer zur Verfügung standen. Im Oberen Belvedere repräsentierte er im „Marmorsaal“, den man fast noch im Originalzustand betrachten kann, er ist riesig. Hier sollten später, am 15. Mai 1945, die Außenminister und Hochkommissäre der vier Alliierten und der österreichische Außenminister den österreichischen Staatsvertrag unterzeichnen.

Eugen scheint verehrt zu werden, auf eine mir fremde Art. So befinden sich im Belvedere auch große Zeittafeln zum Prinzen und zum Belvedere, auf der unter dem Jahr 1683, da war er 20 Jahre alt, steht: „Feuertaufe Prinz Eugens am 12. September in der Schlacht am Kahlenberg gegen die Osmanen.“ Was für ein schreckliches Wort: „Feuertaufe“! Eine Taufe ist etwas anderes… 

Die Dauerausstellung Schau! Die Sammlung Belvedere von Cranach bis EXPORT fragt, wie Künstler in ihrer Zeit leben und lebten, wie eine Epoche ihre Kunst prägte. In jedem Sammlungsbereich haben die Kuratoren Selbstporträts ausgewählt und hervorgehoben. Sie zeigen, wie Künstler sich sahen und wie sie gesehen wurden, und wie sich dies Bild vom Mittelalter bis in die 1970er-Jahre wandelte.

So etwa ging im späten 18. Jahrhundert eine ständisch absolutistisch organisierte Gesellschaft zum Bürgertum über; gleichzeitig verlor die Katholische Kirche an Einfluss, und Wissenschaft und Technik gewannen an Bedeutung.

So wurde das dekorative Stillleben im 19. Jahrhundert immer mehr nach botanischen Gesichtspunkten geordnet. Zum Beispiel – Lieblingsbild! - von Johann Knapp „Huldigung an Jacquin (´Jacquins Denkmal`)“ mit der Texttafel, die man unbedingt lesen sollte: Eine Fülle von Pflanzen und wenigen Tieren (zum Beispiel ein Äffchen und ein Gelbhaubenkakadu), aber sorgsam aufgebaut, denn Knapp hat die Vielfalt der Botanik dargestellt, die Carl von Linné (1707-78) zum ersten Mal systematisch geordnet hat, indem er sie in 24 Klassen eingeteilt hat. Der übrigens bewacht das Ganze von seiner Urne aus, die rechts in einer Nische steht. Auf so eine Idee muss man erstmal kommen. Über der Büste des Wiener Botanikers Nikolaus Joseph von Jacquin sind eine Jacquina mucronata und eine Linnaea borealis (letzteres heißt auf Deutsch Moosglöckchen – für J.m. habe ich keine deutsche Bezeichnung gefunden) miteinander verschlungen – diese beiden Pflanzen wurden nach den beiden „Helden“ dieses Bildes benannt.

Lieblingsstücke: Die Charakterköpfe von Franz Xaver Messerschmidt: Der schuf zwischen 1771 und 1783 (Spätbarock) rund 60 Portraitbüsten mit Grimassen. Einige realistisch, andere „deutlich verfremdet und bis ins Groteske verzerrt“, steht im Text dazu. Völlig untypisch für die Zeit. Eigentlich möchte man stundenlang davorstehen und die Fratzen nachahmen.

Sonstiges: Napoleon reitet auf dem Bild von Jacques Louis David ein Pferd, in Wirklichkeit ritt er einen Maulesel (Kreuzung von Eselstute und Pferdehengst, mit kurzen Ohren und Quastenschwanz. Maultiere dagegen sind eine Kreuzung aus Pferdestute und Eselhengst mit langen Ohren und Pferdeschweif. Oder so.).

Ferdinand Georg Waldmüller malte mit „Erschöpfte Kraft“ (1854) ein trauriges Bild: ein schlafender Säugling und die davor zusammengebrochene, wahrscheinlich alleinerziehende Mutter, man bemerkt sie erst auf den zweiten Blick auf dem dunklen Boden der Kammer.

Und noch so viel mehr: Die berühmten Klimt-Gemälde. Bilder der Secession als Ort des Neubeginns, ein Künstlerbund unter Klimt. Bilder, die Wiens Entwicklung zur Großstadt widerspiegeln. Avantgarde. Beckmann. Der Art Club nach 1945 (Sommer und Winter von Anton Lehmden!)

So nebenbei: Ich habe nach unten geschaut und einen wunderschönen Ammonit und einen ebenso schönen Belemnit in einer der Fußbodenplatten im Oberen Belvedere entdeckt. Gehörten in keine Ausstellung, gefielen mir aber ausnehmend gut. Ebenso der Kaiserschmarrn im Schlosscafé.

Fürs Belvedere sollte man sich sehr viel Zeit reservieren, es lohnt sich.


Eine großartige Überraschung für mich war das Heeresgeschichtliche Museum mit seinem schönen Motto: „Kriege gehören ins Museum!“ Es befindet sich im ältesten Museumsbau der Stadt, einem imposanten Bauwerk aus den Jahren 1850 bis 1856. Es zeigt die Geschichte der Habsburgermonarchie vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1918 und die Geschichte Österreichs nach dem Zerfall der Monarchie bis zum Jahr 1945.

Ein eigener Raum ist der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajewo gewidmet. Man kann das Auto mit Einschussloch betrachten, die Uniformjacke und das Sterbebett. O je, so genau wollte ich das eigentlich gar nicht sehen.

Auf den ersten Blick zumindest angenehmer anzuschauen, und einfacher zu verdauen, waren die Uniformen. Interessant: Soldaten müssen sich möglichst frei bewegen können, aber anders als heute standen ihnen früher keine elastischen Stoffe wie etwa Jersey oder Gemische mit Elasthan zur Verfügung. Also mussten die Schnitte für Bewegungsfreiheit sorgen. Gleichzeitig durfte die Kleidung nicht zu weit sein, damit sie sich nicht mit den Waffen verhedderte.

Die Uniformen von damals hatten ähnliche Aufgaben wie die Kostüme für die Städterin von heute, die mit einer Tasche auf dem Fahrrad unterwegs ist. Die notwendige Schnitttechnik kann man in diesem Museum gut studieren. Die Jacken hochgeschlossen am Hals, Zweinahtärmel, die der natürlichen Biegung des Armes folgen, und vor allem: Armkugeln in kleinen Armlöchern. Die Hosen mit hoher Taille, sodass man sich die Nieren nicht verkühlt und an den Beinen schmal geschnitten, so dass sie sich damals nicht in den Sporen und heute nicht in den Fahrradspeichen verheddern, und gegebenenfalls Stulpen, die den Knöchel wärmen, wenn die Hosenbeine in der Bewegung, also beim Reiten auf dem Schlachtross – oder, in meinem Fall dem Stahlross - hochrutschen.


In der Albertina hängt eine Fülle toller Bilder von Monet, Ernst, Schiele und allen anderen, die man kennt und liebt oder verabscheut. Pointilismus, Fauvismus, Impressionismus, Surrealismus. Ich könnte Tage hier verbringen. Auffallend in diesem Museum: Die leicht verständlichen Texte. Keine Bildtafeln mit Geschwafel voller Fremdwörter, sondern wunderbare Erklärungen, dank derer man die Bilder noch viel lieber betrachtet.

Lieblingsbild: „Der Schimmel ´Gazelle`“ von Henri de Toulouse-Lautrec. Toulouse-Lautrec hatte sich als Teenager aufgrund einer Erbkrankheit komplizierte Knochenbrücke zugezogen, die zu einem langen Krankenlager und letztlich dazu führten, dass seine Beine verkrüppelt blieben. Während seines Krankenlagers begann der Junge zu zeichnen. Sein Vater war leidenschaftlicher Jäger und Reiter, und der Tiermaler René Princeteau wurde sein Lehrer; so zeichnete und malte der Junge anfangs vor allem Hunde und Pferde. „Gazelle“ gehörte zum Gestüt der Familie von Toulouse-Lautrecs Mutter, und als der 15-Jährige seine Sommerferien auf Schloss le Bosc verbringt, malt er ihn.

Anderes Lieblingsbild: „Mädchen mit Schallplatte“ von Karl Hofer.

Oder „Gespenster auf dem Baum“ von Franz Sedlacek.

Lieblingsskulptur: „Unter den Brücken von Paris“ von Max Ernst. Ein Wesen, man weiß nicht recht: ein Mensch?, ein Frosch? Jedenfalls ein glubschäugiges Wesen mit einem Lächeln.

Die Bilder von Albrecht Dürer in der Grafiksammlung (der Hase!) werden leider (und verständlicherweise) nur als Faksimiles gezeigt. Trotzdem toll.

Nur noch bis zum 28. April läuft die Ausstellung: Joel Sternfeld, American Prospects

Sternfeld war ein sehr wichtiger Vertreter der Fotografengruppe „New Color Photography“, die ab den 1970er Jahren Farbe als Stilmittel für künstlerische Fotografie einsetzte. Zwischen 1978 und 1986 produzierte Sternfeld die Serie „American Prospects“. Für seine Aufnahmen recherchierte er passende Plätze; nicht einfach, denn er arbeitete mit einer sperrigen Großformatkamera. Die sehr großen Bilder in leuchtenden Farben sind also sorgfältig komponiert, aber sie wirken wie Schnappschüsse eines Alltags. Und dieser Alltag ist trist und von Armut, schlechter Ernährung und Klassenunterschieden geprägt, die Natur ist durch den Menschen geformt: zu todlangweiligen Vorgärten, Wüsteneien oder Schrotthaufen.

Noch bis zum 14. Juli läuft die Roy Lichtenstein-Retrospektive mit mehr als 90 Gemälden, Skulpturen und Grafiken. Lichtenstein und Andy Warhol waren die beiden wichtigsten Begründer der Pop-Art. Von Warhol kennt man die Bildergruppe mit Marilyn Monroe, von Lichtenstein die comicartigen Figuren aus Punkten.

Roy Lichtenstein ist für seine klischeehaften Blondinen, Kriegshelden und eben den Comic-Figuren mit Sprechblasen bekannt. Mit knalligen, leuchtenden Farben, klaren Linien und „Ben-Day-Punkten“, welche die billige Drucktechnik der Comics imitierten, malte er ab den 1060er Jahren große Bilder in Cartoon-Ästhetik. Damit prägte er die amerikanische Kunstszene.

Indem er die Bilder aus ihrem Kontext gerissen hat, zeigt er, wie hohl die Schönheit der Menschen in vielen dieser Comics war. Und nicht nur der Menschen: Er schuf auch Stillleben – zum Beispiel mit einem geradezu unwahrscheinlich rot glänzenden Apfel vor einer Orange und einer farblosen Vase mit farblosen Blumen. Später, ab 1970, macht er auch Bilder im Comicstil, aber nicht mit Sujets aus Comics, sondern eigenen. Zum Beispiel der „Studie für Spiegelungen auf ´Haar`“, eine Blondine, deren Gesicht durch einen Spiegel längs geteilt ist. Keine Ahnung, warum mich das so fasziniert.

Nee! Schon das zweite Mal, dass ich ein Buch lese, in dem ein Museum eine wichtige Rolle spielt, dass ich besucht habe. Erst der Krimi, in dem das Weimarer Goethemuseum in Flammen aufgeht (Tibor Rode, Der Wald, Dezember 2023). Und nun Steinfests Sprung ins Leere (März / April 2024), in dem das Kunsthistorische Museum Wien eine wichtige Rolle spielt: In diesem bewacht Steinfests Hauptfigur Klara Ingold Gemälde und jeden Mittag sieht sie dort Georg Salzer, den sie darum insgeheim den „Mittagsmann“ nennt. Der stellt sich immer vor das Bild „Der große Wald“ von Jacob van Ruisdael. Und dort erkennt er eines Tages eine Person, die zwischen zwei Stämmen hervorlugt, links im Dunkel, und den Betrachter betrachtet. – Klara Ingold entdeckt diese Person irgendwann auch beziehungsweise wird von ihr entdeckt. (Nur ich habe sie nicht finden können.)
Dies Bild aus dem Jahr 1682 befindet sich in Saal XII und man kann es in Ruhe betrachten, denn ein Vermeer (Die Malkunst, um 1666/68) hängt gegenüber, und die meisten Leute stehen nun einmal davor. Beim van Ruisdael sehe ich eigentlich nicht einen, sondern zwei Wälder: rechts ein lichter, links ein düsterer. Dazwischen ein Weg, davor ein Bach. Und links eben im düsteren Wald die Person, die sich von ausgesuchten Betrachtern sehen lässt. Manchmal.

Unterschiedliche Museen schützen ihre Bilder auf unterschiedliche Art und Weise vor allzu nahetretenden Zuschauern. Das KHM schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Es hat vor den Bildern dezente Barrieren in Oberschenkelhöhe angebracht, auf der die Beschilderung anmontiert ist. Mit der Schrift nach oben, so dass sie angenehm zu lesen ist. In anderen Museen muss man sich bücken und viele ältere Leute können die Beschriftung ohne Lupe oder zumindest Lesebrille kaum entziffern. (Auf der Beschilderung vor dem van Ruisdael im KHM steht übrigens, dass das Bild um 1655 bis 1660 entstand.)

Egal: Es ist ein tolles Bild. Und nicht das einzige Bemerkenswerte. Anthonis van Dyck malte 1618/20 die Kopfstudie einer emporblickenden Frau, die verblüffend an Brigitte Hobmeier (Schnee) erinnert. Ich schauderte angesichts mehrerer Bilder von Judith mit Holofernes´ Kopf. Betrachtete mehrere Dürer. Cranach. Hieronymus Bosch. Martin Schongauer (verwandt mit L. A. Schongauer aus „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ von Bodo Kirchhoff?). Bruegel. Tizian. Velàzquez. Und so weiter.

Unbedingt anschauen: Die Automaten in der Kunstkammer, kleine Maschinen aus dem 17. Jahrhundert: Globen. Uhren. Ein Schiff, das über den Tisch fahren kann, dabei bewegt sich die Besatzung zur Musik und Kanonen feuern eine Salve ab. In einem kurzen Film werden einige Automaten in der Bewegung gezeigt – großartig! Eine Kutsche, deren Pferde sich bewegen. – Einst Spielzeug für reiche Adlige, heute zur Betrachtung für alle Museumsbesucher.


Auf dem hauseigenen Flyer wird die Kaiserliche Schatzkammer als „die bedeutendste Schatzkammer der Welt“ bezeichnet und im ältesten Teil der Hofburg kann man zwei Kaiserkronen betrachten:

Die Kaiser Rudolfs II wurde später zur österreichischen Kaiserkrone.  Sie ist wunderschön, mit Gold und langen Reihen von Perlen, mit Diamanten, einem großen Rubin und einem sehr großen Saphir.

Die zweite Kaiserkrone in der Schatzkammer ist die Reichskrone mit Stirnkreuz und Kronbügel. Sie, Krönungsmantel und Heilige Lanze sind „der wichtigste Kronschatz des europäischen Mittelalters“. Die Reichskrone ist aus Gold, Email, Perlen und Edelsteinen und war jahrhundertelang Krönungsinsignie der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Derzeit wird sie in einem großen Forschungsprojekt untersucht.

Der Krönungsmantel wurde von Philipp von Stubenrauch entworfen und von Johann Fitz gestickt, Goldstickerei in Sprengtechnik auf Samt; dazu Pailletten, Goldborten, Hermelin und Seidentaft.

Und noch viel mehr Schätze - hindurchschlendern, betrachten und genießen!


Neue Krimis - die ersten des Jahres 2024

für die Stuttgarter Kriminächte im März 2025


Heinrich Steinfest, Sprung ins Leere. Ein seltsamer Zufall, dass ich dieses Buch während eines Aufenthaltes in Wien lese. Und das Kunsthistorische Museum besuche, in dem Klara Ingold arbeitet. Welche die Hauptperson in diesem Buch ist. Fast ein Steinfest´sches Zusammentreffen: seltsam, vielleicht ein bisschen übernatürlich oder science-fiction-haft, vielleicht auch nur zufällig. Aber irgendwie passend. Klara also liebt und bewacht Gemälde, und dann entdeckt sie in der Hinterlassenschaft ihrer Großmutter ein Foto. Diese Großmutter war 68 Jahre zuvor einfach verschwunden und auf diesem Foto findet Klara einen vagen Hinweis, wohin, vielleicht. Sie macht sich auf die Reise, findet eine Spur nach der anderen, und begegnet: einem Mittagsmann, einer Frau, deren Mutter gleichzeitig mit Klaras Großmutter verschwunden war, einem Magier, der sie davor warnt, an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort  sich aufzuhalten, einem engelsgleichen Sumoringer, und Takashi Ito, einem real existierenden Regisseur.

Steinfest hat einen Roman vorgelegt, der gegen alle Regeln spannend ist. Eigentlich könnte er das nicht sein, denn der Autor kommt, wie immer, mit einem melancholischen Buch vom Hundertsten ins Tausendste, und den letzten Dreh, der allem seinen Sinn gibt, zeigt er erst sehr spät. Aber trotzdem. Man folgt Klara Ingold von hier nach dort, genießt klug-absurde Unterhaltungen wie die mit Peter Berger (S. 82ff.), hofft und bangt mit ihr und anderen. Steinfest hat ein weiches Herz für seine Figuren. Man verliebt sich in sie. Und ich verließ dieses Buch mit dem Bedürfnis nach einem schwarzen Hosenanzug mit einem taillierten Oberteil und oben engen, unten aber weiten Hosenbeinen. Wie Klara ihn so gern trägt.

Toll!

Till Raether, Sturmkehre. Adam Danowski geht es schlecht: Der Ermittler hat etwas getan, womit ihn sein Chef nun erpresst. Er ist dauerhaft so zurückgezogen und ungenießbar, dass seine Frau ihn verlassen will. Auch seine Freunde leiden unter den Folgen seiner Tat und haben ihn satt. Dabei hat seine Abteilung, genauer: Danowski selber - endlich einen lange gesuchten Serienmörder gefasst. Aber nun kommt sein Chef an und verlangt, dass er dem Mörder einen weiteren Mord in die Schuhe schiebt - eine vor Jahren verschwundene Frau -, damit er diesen Fall als aufgeklärten Cold Case verbuchen kann und endlich Polizeipräsident wird. Danowskis einzige Chance: Er muss die Frau finden. Möglichst lebendig. Und das stellt sich als ziemlich gefährlich heraus.

Danowski ist eine Figur, mit der man sich, obwohl sie so anders ist, gut identifizieren kann: Sein Gewissen plagt ihn wegen einer Tat, obwohl er wahrscheinlich wieder so handeln würde, aber er hatte eben nicht die Konsequenzen bedacht. Es stellt sich auch heraus, dass er nicht der einzige ist, der einen Fehler gemacht hat - der Fehler einer anderen Person, nie als solcher aufgedeckt, nicht einmal bemerkt, hatte noch viel schlimmere Folgen. Und wenn er die Konsequenzen seines Handelns tatsächlich einmal bedenken will, scheitert er auch: "Danowski fand, dass auf sein Gewissen wieder einmal kein Verlass war, jedenfalls in dem Sinne, dass es nicht besonders auskunftsfreudig war." (37)  Raethers Stil passt gut zu seiner Hauptfigur, auch der Stil ist schön skurril, etwa die Aufzählungen auf den ersten Seiten - sowas hätte Raether gern durchhalten und auch später ab und zu bringen können. Und diese klasse Sätze: "Plön ist schön, noch schöner ist es ohne die Plöner." (25) Aber das Beste am Buch: Es geht zwar um Danowskis Befindlichkeit, aber das nimmt nicht überhand. Vor allem geht es um die Suche nach einer verschwundenen Frau. Und diese Suche ist auch richtig spannend.

Toll!

Frauke Buchholz, Skalpjagd. Fast wäre er verbrannt bei seinem letzten Fall. Jetzt reichts: Der kanadische Profiler Ted Garner will den Polizeidienst quittieren und Psychotherapeut werden. Er besucht einen internationalen Therapeuten-Kongress, lernt eine hippiemäßige Traumatherapeutin (die einen Vortrag über Trauma hält und dabei über Peter Levine spricht - den gibt´s tatsächlich - aber sie spricht nur über Erstarrung als mögliche Traumafolge: Kampf oder Flucht gibt´s jedoch auch) kennen und sie schleppt ihn  mit zu einer Peyote-Zeremonie. Als er in der Wildnis aus einem Drogenrausch erwacht, hält er ein blutverschmiertes Messer in der Hand und neben ihm liegt die Therapeutin, erstochen - und skalpiert. Garner fürchtet, unter Mordverdacht zu geraten und fängt an, selber zu ermitteln.

Buchholz erzählt einige seltene Male aus der Perspekive des unbekannten Mörders, mal aus Garners Perspektive, mal aus derjenigen der Ermittler - in der Stimme von Frank Lombardi, der ein Alkoholproblem hat und immer wieder von seiner fähigen Kollegin Nora Jackson auf die Beine gebracht wird. All die guten Polizisten essen oder trinken zu viel, sind einsam oder sonstwie seelisch lädiert. Der Thriller ist spannend, auch wenn nicht ganz nachvollziehbar ist, warum Garner sich auf so eine Zeremonie einlässt und Drogen nimmt. Buchholz nimmt in ihrem Krimis immer wieder das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner auf; einmal ging es um die Förderung von Erdöl, was die Landschaft und das Leben der Bewohner zerstört, diesmal ist sie diskreter, was dem Buch mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Die Menschen sind ihr nicht gleichgültig: In diesem Buch spielen spirituelle oder religiöse Zeremonien, Kult- und Kunstgegenstände und ihr Missbrauch durch Weiße eine wichtige Rolle (155-168), eine tragende Rolle, wenn man die Peyote-Zeremonie eingangs bedenkt. Das Ganze ist stimmig, auch wenn der alte weise indigene Mann ein gewisses Klischee bedient und seine übersinnlichen Fähigkeiten (168) nicht so richtig passen. Totzdem ein sehr spannendes Buch.

Sehr gut.

Bernhard Kegel, Gras. "Wer achtet in unserer hektischen Stadt schon auf ein paar Grashalme." (31) Die Biologiestudentin Natalie achtet darauf: Die Halme sind hellgrün, leuchten ein bisschen, und sie breiten sich aus. Von Wilmersdorf aus über ganz Berlin. Das Gras zerstört alles, was man kennt und mag, und einiges andere auch. Es zieht Folgen nach sich, etwa riesige Schwärme winziger Insekten, an denen man ersticken kann, wenn man zu viele einatmet. Bis dato war Natalie geplagt von Prüfungsangst und ihrem etwas lahmen Lover, nun wacht sie auf und erforscht das Gras. Sie nennt es Invicta, ihre Professorin wird auf sie aufmerksam und schwankt, ob sie Natalie als Rivalin betrachten oder nicht lieber fördern sollte. Die Gras-Plage stellt die Menschen vor neue Herausforderungen: Anfangs setzen sich Laien-Naturschützer dafür ein, später wird die Bevölkerung evakuiert. Die soziale Ordnung verfällt, und ausgerechnet ein besonders widerlicher Mitbewohner aus Natalies Haus, ein rechter Prepper, wird der Anführer einer bewaffneten Räuberbande.

Berhard Kegel ist ein alter weißer(?) Mann und er kann sich verdammt gut in eine junge Frau hineinversetzen. Er schreibt aus der Sicht von Natalie, die ein bisschen verschroben ist, anfangs mit Prüfungsangst in den Tag hinein lebt und dann ihr Leben der Erforschung dieses Grases widmet und dabei, nun ja, über sich selbst hinaus wächst. Der ein kleines Menschen- und ein großes Mammutkind zuläuft und die sich auch noch um diese anhänglichen, niedlichen, bockigen Lebewesen kümmert. Und die Invicta mit dem Staunen des Wissenschaftlers betrachtet, das erst einmal unvoreingenommen ist: So genießt sie den Sternenhimmel, weil mangels Menschen auch die Lichtverschmutzung abnahm - "dank" Invicta (351). Man fühlt und bangt mit ihr, lernt nebenher einiges über Biologie und beginnt, sich über Bio-Hacker Sorgen zu machen - dass der Autor Biologe ist, merkt man - im positiven Sinne!

Sehr gut.

Lea Stein, Alte Schuld. Hamburg, 1948, kurz vor der Währungsreform. Eine Frau kommt zur Schutzpolizistin Ida Rabe und sagt, sie sei misshandelt worden. Rabes Kollegen sagen, diese Frau tauche öfter auf, sie glauben ihr nicht. Rabe lässte das aber keine Ruhe. Verdächtig ist ein Brite mit engen Kontakten zur Hamburger Polizei - und plötzlich ist er tot, ermordet, und es sieht nach einem giftigen Kampfstoff aus. Ida Rabe soll nicht ermitteln, aber sie tut es trotzdem. Und das wird gefährlich.

"Alte Schuld" ist Ida Rabes zweiter Fall. Ich lese die Bücher besonders gern, weil ich in Hamburg geboren bin, wie schon meine Eltern. Und die hatten damals die Währungsreform hautnah miterlebt: Erst besaßen alle Menschen haufenweise (wertloses) Geld und es gab nichts zu essen, dann plötzlich besaß man fast kein Geld mehr (man bekam 40 Mark) und die Schaufenster hingen voll mit Wurst und anderen lang vermissten Köstlichkeiten. Stein bringt einem die Armut von damals sehr nahe: Rabe teilt sich ein Zimmer zur Miete, ihre Schuhe sind kaputt, sie hat ständig Hunger. Als der nette Gerichtsmediziner Ares Ida eine Dattel und ihre Kollegin Vera eine Olive probieren lässt, sind beide sehr überrascht vom Geschmack. Solche Kleinigkeiten machen die Bücher spannend. Man glaubt zu spüren, was das Leben damals mit sich brachte. Und fühlt mit Ida Rabe mit, wenn sie ihre alte Bekannte aus der Unterwelt, die "Bunkerkönigin" Marlise, zu Recherchen trifft und verzweifelt herauszufinden versucht, wohin ein Kind verschwunden sein könnte. Keine hohe Literatur, aber schön zu lesen.

Gut.

Thi Linh Nguyen und Alexander Oetker, Das Dunkel aller Tage. Berliner Osten. Hinten im Ho-Chi-Center wurde Crystal Meth gekocht, einer der Köche kippt etwas in den Topf, rennt davon, und die ganze Halle 15 fliegt in die Luft. Das Center war das Lebenswerk von Duc, dem Bruder der Polizistin Linh Schmidt. Er wird als Drahtzieher festgenommen. Sie glaubt an seine Unschuld. Ihr Mann Adam Schmidt zweifelt, ist aber arbeitsunfähig - psychische Probleme. SEK-Leiter Rabenstein täte nichts lieber, als Adam aus dem Job zu kicken - und wird auf den Fall angesetzt. Aber Adam will seiner Frau helfen.

Eine schwierige Gemengelage, spannend, aber doch etwas überladen: Ein paar Probleme zuviel. Die Nachbarin etwa hätte es nicht gebraucht, und die Auflösung dieser Geschehnisse ist handwerklich nicht wirklich überzeugend erzählt, es wirkt hölzern. Dennoch: viele gute Ideen, so etwa wird ein Geschäftsmodell mit Crystal Meth gut erklärt (S. 38ff - ob es funktioniert, weiß ich natürlich nicht). Besonderer Hinweis: Während Frauen in Krimis lange Zeit als gleichsam unbesiegbar erscheinen durften, begegnete ich in den letzten Jahren auch Frauenfiguren, die bei einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Mann verlieren, was auch ausdrücklich thematisiert wird. Hier (207), auch zB in der Auftaktfolge der Krimiserie "Über die Grenze" (TV, 2017). Das ist einerseits (meist) realistisch, andererseits voyeuristisch.

Gut.

John Grisham, Die Entführung. Wer kennt "Die Firma" nicht - das Buch (1991), mit dem John Grisham berühmt wurde, und das mit Gene Hackmann, Tom Cruise und Jeanne Tripplehorn verfilmt wurde (1993)?! "Die Entführung" ist die Fortsetzung und spielt 15 Jahre später. Der junge Anwalt Mitch McDeere und seine Frau Abby waren mit einigen gestohlenen Millionen aus Memphis geflüchtet, nachdem Mitch mithilfe des FBI entdeckt hatte, dass seine Kanzlei, die "Firma", für die Mafia tätig war und Anwälte, die ausssteigen wollten, ermorden ließ. 15 Jahre später lebt das Paar in Manhatten, arbeiten - er wieder als Anwalt, sie als Lektorin - hat Zwillingssöhne und führt ein ganz normales Leben. Dann aber reist er nach Libyen, um ein Bauprojekt zu überprüfen, und dort wird jemand entführt. Die Lösegeldforderung ist absurd hoch und Mitch McDeere setzt alle Hebel in Bewegung, um das Geld zusammenzubekommen. Dabei wird er beobachtet - und seine Familie auch.

Auf Grisham ist immer Verlass: Der Mann versteht sein Handwerk. Er schreibt Krimis, die meistens superspannend sind, seine Leute haben zwar Probleme, sind aber im Grunde attraktiv und gesund, und obwohl Alkoholismus durchaus problematisiert wird, vertragen sie ziemlich viel. Sie sind fit und in Form, aber der Leser wird nicht mit langweiligen Einzelheiten langweiliger Fitnessprogramme genervt. Bei aller Spannung sind es Wohlfühlbücher. (Mein Lieblingsbuch von Grisham: "Das Manuskript" - schafft verlässlich gute Laune!) Außerdem zeigt Grisham Verständnis für die "kleinen Leute", die vom System gequält werden, etwa durch überteuerte Studienkredite, unseriöse Ausbildungsstätten - oder die Todesstrafe (wie hier, obwohl eigentlich nicht klar wird, was die Episode im Buch zu suchen hat.) Auch die Entführung ist wieder so ein sehr gutes Gute-Laune-Buch: Mitch verzichtet zwei- bis dreimal pro Woche aufs Mittagessen und geht stattdessen trainieren; die Familie genießt dennoch gutes Essen, weil Abby Kochbücher betreut und die dankbaren Autoren dafür in ihrer Küche kochen. Das wünscht man sich. Es ist abgehoben, aber nicht so sehr, dass man sich nicht mehr identifizieren könnte. Die Entführung wirbelt dann alles durcheinander. Dann aber bleibt es zwar spannend, aber nicht so wie gewohnt - spannend ist dies Buch vor allem für Menschen, die sich für internationale (Schwarz-)Geldströme interessieren. Man folgt Reisen, Gesprächen und Telefonaten; ein Hinweis auf "Die Firma" bei einer Reise in ein Steuerparadies hätte weiterverfolgt werden sollen; es gibt auch Tote, aber dennoch ist die Handlung etwas dünn: Es passiert nicht wirklich viel; da hätte man kürzen können. Dennoch:

Gut.

Max Annas, Berlin, Siegesallee. Berlin, März 1914. Vier Menschen, ein Plan: Joseph Ayang (Sohn eines Kameruner Kolonialbeamten, will Theologie studieren), Friedrich Smith (im "Reich" geborener Sohn eines schwarzen Afrikaners), Ernst (wurde von seinem "Herrn" aus Deutsch-Südwest-Afrika mitgenommen), also drei Schwarze, die teils in Afrika unter übelster Gewalt durch Weiße gelitten hatten und nun in Berlin unter ständigen Demütigungen durch Weiße leiden, von kleinen Fiesheiten bis hin zur Arroganz gegenüber kolonialisierten Schwarzen, und als vierte Florentine von Baum (Fabrikantentochter, die für Frauen die gleichen Rechte wie für Männer will). Erst ermorden die Männer in Belin Soldaten. Damit wollen sie die Verbrechen in den Kolonien rächen. Aber nichts ändert sich. Dann, zu viert, planen sie: Der Kaiser soll sterben.

Annas lässt die Handlung ganz langsam beginnen. Eine Begegnung von Joseph Ayang und Friedrich Smith in Berlin: Ayang sieht, wie ein Busfahrer Smith nicht mitnimmt. Erst allmählich begreift man, dass der Busfahrer sich herausgenommen hat, Smith zu demütigen, weil er Schwarze verachtet. Ayang und Smith schließen Bekanntschaft, Ernst und Florentine kommen dazu und ein Viererkreis entsteht. Dann entsteht der Plan wahrscheinlich auch - aber das weiß ich nicht, denn ich habe auf Seite 95 die Lektüre abgebrochen. Annas hat sich verdient gemacht mit Krimis um wahre Fälle, in denen er immer wieder auf gesellschaftliche Misstände aufmerksam gemacht hat. Ds ist wohl auch hier der Fal, so soll wohl Smiths Verachtung für Brahms ("Gassenhauer") zeigen, dass Schwarze Weiße in deren eigenen Kategorien (Musik als europäische "Hochkultur") schlagen können - aber das ist eine Holzhammer-Methode und nervt, und dann bringt Annas das auch noch zweimal (S. 23, 24). Seine Sprache ist manchmal billig und unfreiwillig komisch (von Baum wird "vom Bedürfnis gequält, etwas zu tun" und beschließt, sich einen Kaffee machen zu lassen (36)). Die Mörder fühlen zu wenig, man merkt nichts von Nervosität oder Angst, Schwitzen, Zittern, Hass oder Wut, der Leser wird weder überrascht noch vorbereitet, einzig eine Aktion von Ernst (81 u.ö.) zeigt, dass der gefährlich werden könnte. Ayangs Erinnerungen an die Exekutionen in Afrika wären wichtig, weil entsetzlich, und ein Motiv für Rache, aber über sie wird geradezu langweilig geschrieben. Wie junge Frauen aus wirtschaftlichen Gründen verheiratet werden, bleibt als feministischer Antrieb hohl (84ff). Die Morde bzw. die Gründe dafür werden zwar historisch nachvollziehbar. Aber nur historisch. Das Buch wirkt, als hätte Annas mal was über Kolonialismus und die Unterdrückung von Frauen schreiben wollen, aber ohne mit dem Herzen dabei zu sein. Schwer vorstellbar, dass dies seine Motive waren - die anderen Bücher, die ich von ihm kenne, sind wirklich gut. Dies nicht.

Nicht gut.


Februar 2024


Neue Krimis - die letzten des Jahres 2023

für die Stuttgarter Kriminächte 2024


Anne Freytag, Mind Gap. Deutschland, im Jahr 2033. Es ist so praktisch und (fast) jeder hat ihn: Der NINK, ein Chip, den man sich implantieren lässt und der das menschliche Gehirn direkt mit dem Internet verbindet. Aber diese technische Errungenschaft kann wie jede andere auch missbraucht werden. Manche Menschen verweigern den NINK und werden scheel angeguckt (so wie heutzutage die Menschen, die ein Smartphone verweigern). Silvie Mankowitz hat keinen NINK, sie ist Journalistin, und eines Tages erhält sie einen Anruf von ihrem Bruder, einem Elitesoldaten - den sie seit zwei Jahren tot glaubt. Natürlich geht Mankowitz der Sache nach, natürlich wird es gefährlich für sie - und dann sieht sie sich plötzlich einer Übermacht gegenüber, die sie sich nie und nimmer hätte vorstellen können.

Dies Buch von Anne Freytag ist meine dritte Lektüre innerhalb weniger Monate, die letztlich zu der Frage nach dem Sinn des freien Willens führt. Manche Figuren haben einen freien Willen, wissen damit umzugehen und wollen ihn behalten. Andere denken das bloß, haben ihn aber gar nicht. Und wieder haben ihn, wissen aber nichts damit anzufangen oder wollen ihn nicht. Und was ist mit der Technik, die uns heute schon umgibt, und die zur Überwachung missbraucht werden kann? Große Fragen, glücklicherweise ohne erhobenen Zeigefinger. Stattdessen ein klug komponierter Thriller voller Überraschungen, mit viel Technik, die aber nur soweit nötig erklärt wird. Macht Spaß und gibt Stoff zum Nachdenken (wenn man will).

Sehr gut.


Marc Raabe, der Morgen. Eine junge Journalistin entdeckt eine weibliche Leiche. Auf der steht mit Blut geschrieben die Privatadresse des Bundeskanzlers. Dieser verlangt, dass der berühmt-berüchtigte Ermittler Artur Mayer auf den Fall angesetzt wird, und der wiederum trifft auf die kluge Kommissar-Anwärterin Nele Tschaikowski. Dann taucht eine weitere Leiche auf.

Ein bisschen hoch gegriffen, gleich ein Bundeskanzler im Visier. Ein Minister hätte es auch getan. So hat man das Gefühl, es soll ein politischer Roman sein, was er aber nicht ist. Auch die "Berliner Morgenpost" gibt es tatsächlich - eine Phantasie-Zeitung hätte ich besser gefunden. Dazu Kleinigkeiten: Ein Messerstecher, der das Messer von einer Hand in die andere wechselt, ist kein Angeber, sondern wahrscheinlich erfahren und gefährlich (233). Faken würde ich eher auf englische Art konjugieren, also nicht gefakt, sondern gefaked (427). Und die Geschichte ist ziemlich konstruiert. Andererseits ist der Handlungsverlauf vielfach überraschend, die verschiedenen Zeitebenen sind spannend, und die beiden Ermittler nicht unsympathisch. Also: ein Thriller, den ich gern gelesen habe.

Gut. - Lesung bei den Kriminächten: Sonnabend 16. März


Marc Elsberg, Celsius. Über dem chinesischen Luftraum erscheint ein Geschwader riesiger schwarzer Flugobjekte: massiver Rumpf ohne sichtbares Cockpit, sechs Flügel, größere Spannweite als die eines A 380. Aber sie greifen Taiwan nicht an und auch nicht den Rest der Welt - jedenfalls nicht konventionell: Sondern sie verändern das Klima. Und damit auch die Welt. Andere Nationen antworten, aber kann sich der globale Norden seiner Vormachtstellung noch sicher sein?

Spannender Thriller, viele überraschende Wendungen. Dennoch wirkt das Buch auf mich irgendwie kalt, zwar handwerklich sehr gut, aber ohne Herzblut. Warum, weiß ich eigentlich nicht, denn Elsberg nimmt sich mit dem Klimawandel und der Benachteiligung des globalen Südens gegenüber dem Norden wichtiger Themenkomplexe an. Dazu einiger Kleinkram: Die Szenerie S. 545 ist sehr unwahrscheinlich, denn im Süden gibt es einen viel höheren Anteil an jungen Menschen. Immer wieder schildert Elsberg kleinen Szenen, in denen Menschen, denen er sogar Namen gibt, plötzlich sterben. Sie tauchen im Buch nur auf, um getötet zu werden (z.B. Kap. 109). Auch die Loser sterben alle. So bleibt man bei den Hauptpersonen, aber es wirkt, als hätte der Autor diese Nebenfiguren bloß erfunfen, um Spannung zu erzeugen. Szenen wir der Schuhplattler im Süden (S. 581f) sollen spiegeln, wie heutzutage im globalen Norden die Kultur des globalen Südens folkloristisch gezeigt und damit herabgewürdigt wird, eigentlich ein gutes Bild, aber es fühlt sich nicht richtig an, zumindest nicht für mich. Dennoch ein, wie gesagt, handwerklich sehr guter, rasanter Thriller, und Elsberg führt den Leser immer wieder an der Nase herum. (S. 289 u.ö.)

Gut. Lesung bei den Kriminächten: Lesung Sonnabend 23. März (ausverkauft).

Kunst in Hamburg


Noch bis zum 1. April zeigen die Hamburger Deichtorhallen die Ausstellung „Dix und die Gegenwart"

Die verblüffte mich zunächst einmal mit einem Bezug auf die Vergangenheit. Der normale Museumsgänger ohne besondere künstlerische Vorbildung, also ich, kennt natürlich von Caspar David Friedrich den „Wanderer über dem Nebelmeer“ und die anderen Bilder, die „man“ eben kennt. Aber nicht die Landschaftsbilder. Die gerade in einer großartigen Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zu bewundern sind. (Die berühmten Bilder von CDF hängen natürlich auch da.) Und dann geht man nach der CDF-Schau in der Kunsthalle in die OD-Schau in den Deichtorhallen, sieht Dix´ Landschaftsbilder, und die erinnern – mich zumindest - SEHR an die Friedrichs.
Das aber nur nebenbei, denn das ist in den Deichtorhallen nicht Thema: Dort geht es schließlich nicht um Dix´ Vorgänger oder Vorbilder, sondern um ihn und diejenigen, die er beeinflusst hat. „Dix und die Gegenwart“ zeigt par excellence, wie Dix die Kunst bis in die Gegenwart beeinflusst hat und sie noch beeinflusst.
Sie hat zwei Schwerpunkte: Sein nur vermeintlich unpolitisches Werk zur NS-Zeit und seine künstlerische Rezeption.

Dix ist vor allem durch seine bösen, zugespitzten, bizarren Gesellschaftsbilder aus der Weimarer Zeit bekannt, in denen er das weit verbreitete soziale Elend überdeutlich zeigte und so anprangerte. Im Nationalsozialismus dann wurden er und seine Werke durch die Ausstellung „Entartete Kunst“ diffamiert, und die „zuvor frappierenden Gesellschaftsbilder transformierten nach 1933 in teils subversive, teils subtile Formen der Zeitkritik. Anstelle von Kriegsszenarien und soziokritischen Milieus traten primär Landschaftsdarstellungen, Auftrags-Porträts und ab 1937 christlich-allegorische Motive.“ Aber, so die These der Kuratorin Ina Jessen, die darüber auch promoviert wurde, Dix´ Werk aus der NS-Zeit war nur „vermeintlich“ unpolitisch, nur eben sei seine Bildsprache weit weniger offensiv gesellschaftskritisch gewesen. Das Schaffen aus diesem Zeitraum sei weniger erforscht worden, und in dieser Ausstellung sollten nun Landschaften, Porträts und christliche Sujets im Kontext seiner Zeit erfasst werden. Dazu würde der Maler, sein Werk und sein beruflicher Werdegang in den künstlerischen und politischen Kontext der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Zeit kurz nach Kriegsende gestellt. Beim zweiten Schwerpunkt der Ausstellung geht es um „die künstlerische Rezeption von Otto Dix in Hinsicht auf Sujets, politische Ikonographie, Stil, Technik und Genre.“ Dix´ Werken werden Werke von etwa 50 zeitgenössischen Künstlern gegenübergestellt.


Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt noch bis zum 28. April "Kairos", die mit über 230 Werken bisher größte Einzelausstellung mit Werken von Margit Jäschke. Jäschke (Halle/Saale) schafft Gegenstände, man kann sie sehen als Schmuck, Installation, Malerei und Skulptur, und man kann es nicht immer von einander trennen. Lieblingsstück: "The golden thread", 2018, Halsschmuck, Gold / Silber feinvergoldet /Kunststoff, Collection Marion Fulk (USA), Collection Markau (DE).

Diese Ausstellung  war schon in Leipzig, Pforzheim und München. Sie beginnt eine Ausstellungsreihe „Contemporary Craft“, die jährlich begleitend zur MK&G messe präsentiert wird. Sie stellt die Arbeit in- und ausländischer Künstler und Kunsthandwerker vor. Die Reihe soll den "Stellenwert des Kunsthandwerks im zeitgenössischen Diskurs" erhöhen und die "traditionellen Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk" zu überwinden. Gute Idee!


Kunst in Karlsruhe


Wieder einmal die art KARLSRUHE, die in diesem Jahr vom 22. bis zum 25. Februar stattfand.

In den vier Hallen stellten rund 175 Galerien, Museen, Verbände und Vereine, Bildungseinrichtungen und Verlage die Werke unterschiedlicher Künstler aus. Diese Messe konzentriert sich auf neue Kunst und hat die Hallen – aber nicht ganz streng – nach Themenbereichen aufgeteilt. So findet man in der Halle 1 die „Klassische Moderne“, also die Kunst aus dem vergangenen Jahrhundert mit Stilrichtungen wie Expressionismus, Kubismus, Surrealismus oder Konstruktivismus, in der Halle 2 die „Kunst nach 1945“ mit Stilpluralismus, Futurismus, Fluxus und Pop Art, in der Halle 4 (dm-arena) „Gegenwartskunst“, also zeitgenössische Kunst, und „Skulptur“. Außerdem „paper square“ mit Papierarbeiten aus vier Galerien, Neueinstiege mit 25 statt 50 Quadratmetern pro Stand.

Lieblingsstücke: „Waldkauz“ von Matthias Garff aus Aluschüssel, Kochtopf, Spülbürsten … Dieser Künstler schafft aus den unterschiedlichsten Materialien Tierfiguren, ein bisschen skurril, sehr humorvoll - und immer wiedererkennbar, selbst eine 2,5 Meter große Kohlmeise oder der riesige Kranich. Dann die „Extinction Series“ von Mark Dion und Bob Braine mit Bildern ausgestorbener Tiere wie dem Dodo oder der Wandertaube. Von Stefan Bircheneder die kleinen halb verrosteten Metallschließfächer mit dreckigem Geschirr und anderem Zeugs, täuschend echt Öl und Acryl auf Leinwand. Von Anne Carnein die Skulptur aus Stoff, Garn und Draht von Pilzen, „A Story of Becoming“. Scheinbar kein Paper Square, sondern in Halle 1: Aus der Galerie Stefano Forni, leider ohne Angabe des Künstlers, ein wunderbares, überraschendes Relief aus lauter Notizblöcken, die Kurven formen.

Immer wieder doof: Bilder mit nackten oder halbnackten Frauen vor Autos, die bloß aufreizen sollen.

Die nächste art KARLSRUHE findet vom 20. bis zum 23. Februar 2025 statt. Vormerken!


Januar 2024


Neues Buch, noch ein Nicht-Krimi: Bodo Kirchhoff, Seit er sein Leben mit einem Tier teilt. Italien, kurz vor Mariä Himmelfahrt, dem höchsten Feiertag. Es ist heiß. Louis Arthur Schongauer lebt oberhalb des Gardasees in einem alten Steinhaus mit seiner Hündin Ascha und einem Revolver. Früher spielte er in Hollywood Nebenrollen als Nazi, jetzt ist er einsam und wartet auf seinen 75. Geburtstag. Da bleibt eine junge Reisebloggerin mit ihrem Wohnmobil in seiner steilen Zufahrt hängen. Keine Handwerker zu Hand, kurz vor dem Feiertag, also wird sie erstmal bleiben müssen. Für den darauffolgenden Tag erwartet Schongauer eine Autorin, die ein Portrait über ihn schreiben will. Zwei Frauen, die da hängen bleiben, ihn in seinem Alleinsein stören, irgendwie fürchtet er sie. Geichzeitig genießt er das sanfte Chaos, das sie verbreiten. Allerdings fangen sie an, private Dinge zu erfragen und in seinen Wunden zu stochern. Vor allem die Autorin ist dabei sehr treffsicher und penetrant. Und dann taucht auch noch die Mutter der Bloggerin auf.

Kirchhoff, ein alter weißer Mann, schreibt über einen alten weißen Mann, und man kann nicht anders, als diesen Schongauer zu mögen, ein bisschen widerwillig, aber naja, so ist es eben. Der Mann ist einsam, will es eigentlich nicht sein, aber mit Menschen will er eigentlich auch nicht sein. Vor fünf Jahren ertrank seine Partnerin Magda vor seinen Augen, und er merkte es erst gar nicht. Sie war Tierfotografin und unmittelbar vorher hatte sie noch ein totes Pferd fotografiert, das genau dort ertrunken war. Dieses letzte Foto hängt nun riesengroß aufgezogen in Schongauers Haus. Einmal denkt er: "Magda, das kann sie [die Autorin, die Schongauer interviewen will] sich eigentlich denken, war kein Bund fürs Leben, sondern für das Vorankommen von Magdas Arbeit als Fotografin." (179). Wie kann Schongauer so brutal ehrlich gegenüber sich selbst sein! Wessen Herz macht sowas mit. Und tatsächlich, sein Herz ist nicht fit, er hat schon einen Stent, ist kurzatmig, und immer wieder ist er sich dessen bewusst, dass er etwas "noch" kann: Sein Boot flottmachen zum Beispiel. Man fragt sich, wo das hinführt, und eines Tages ruft der eifersüchtige Ehemann der Autorin an. Der ist Kardiologe, seine Frau überlässt das Telefon Schongauer - und dann folgt das geilste Telefonat, das ich je gelesen habe (288ff). Ab da erwartet man eigentlich das Ende, Schongauer auch, und er handelt entsprechend. Aber an seinem Geburtstag erlebt er eine Überraschung, und, ja, wie geht es nun weiter?

Tolles Buch!


Großes Lob an die Kollegen von CORRECTIV für ihren ebenso wichtigen wie schockierenden Artikel "Geheimplan gegen Deutschland"! (Beachtenswert: Das "gegen" im Titel ...) Lobenswert sind nicht nur die Recherche und der Artikel, sondern auch das Drumherum, also die knappe Beschreibung des "Making-Of" und den Liveticker über die Folgen der Recherche. Sehr gut, dass Ihr das an die Öffentlichkeit gebracht habt - Glückwunsch!


Ausnahmsweise ein Nicht-Krimi, stattdessen ein Sachbuch: Rainer Moritz, Das Buch zum Buch. "Was Sie schon immer über Bücher wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten" - Rainer Moritz (oder ein Verlagsmitarbeiter. Jedenfalls derjenige, der den Text für die hintere Umschlagseite, der heutzutage auch unter "Klappentext" fällt (S. 101) geschrieben hat.) wandelt einen Satz von Woody Allen um. Tja, vieles hätte man vielleicht zu fragen gewagt - wenn man bloß wüsste, wen! Wer kann solche Fragen beantworten: Was ist ein Fräuleinwunder? Sind Eselsohren abzulehnen? (Ja!) Was sind Nackenbeißer? (Trivialzeugs mit Sex.) ... Also: Wen fragen? Wer hat Ahnung von Büchern und all dem Drumherum? Antwort: Der Autor von "Das Buch zum Buch". Rainer Moritz ist der Chef des Hamburger Literaturhauses und hat Ahnung. Er schreibt kurzweilige Kapitel zu 65 alphabetisch geordneten Stichwörtern, und er erklärt auch einiges mehr als bloß diese Stichwörter. So erfährt man bei der Lektüre des Kapitels zum Stichwort "Bücherentsorgung", dass allein in Deutschland jedes Jahr rund 90.000 Bücher erscheinen. Bei so einer Zahl kann einem schon schwindelig werden - vor allem, weil, so Moritz, erstens viele von ihnen schlecht sind und zweitens immer weniger gelesen wird. Außerdem kritisiert Moritz aktuelle Trends (?) wie Sensibles Lesen, dekliniert den Autor (im Singular), und schreibt auch ein paar Zeilen zur "Autofiktion", die zu denken geben. Eine besserwisserische Fußnote kann ich mir nicht verkneifen: Moritz zitiert seine Top Ten der schlechtesten Klappentexte (er nennte es seine persönliche Hitliste), und die Nummer Eins hat der zu "Mittwoch" von Wolf Wondratschek inne: "[...] Wir laufen in zu engen Schuhen." Zur Lösung dieses Problems zitiert Moritz den Tübinger Orthopäden und Fußspezialisten Dr. Norbert Becker (der war übrigens auch mein Arzt, leider ist er inzwischen in Rente, ein echter Verlust für Sportler!), der einen Zentimeter Zugabe vor den Zehen empfiehlt. Tja - das ist der Rat, um nicht zu enge, sondern zu kurze Schuhe zu vermeiden. Aber egal, Moritz hat mit feiner (Selbst-)Ironie einen lesenswerten, ja, Ratgeber verfasst. Macht Spaß und ist informativ. Kurz: Lohnt sich!


Dezember 2023


Neue Krimis


Monika Geier, Antoniusfeuer. Kriminalkommissarin Bettina Boll ist mit den Kindern ihrer verstorbenen Schwester in ein altes Haus in der Pfalz gezogen. Es ist das Haus ihrer ungeliebten Tante, und die hatte eine Leiche im Keller. Eigentlich arbeitet Bettina Boll bloß halbtags, aber nun soll sie einen Tod im Jugendgefängnis untersuchen, einem verschwundenen Sozialarbeiter aufspüren, bemalte Marienbilder entschlüsseln, und sich mit Drogen und Dämonen beschäftigen. Zu viel, und vor allem: total skurril.

Ich habe schon eine ganze Reihe Krimis gelesen, in denen Religion eine Rolle spielte; die meisten waren langweilig oder schlichtweg dumm, weil die Autoren keine Ahnung hatten. Geier dagegen hat Ahnung - am Schluss dankt sie allen Schwestern des St. Franziskus-Gymnasiums in Kaiserslautern, die ihre katholische Bildung begründet haben - und der Krimi ist richtig toll: Die Handlung ist verrückt - so etwa geht es auch um Dämonen und ihre Austreibung, also Exorzismen - aber glaubwürdig. Die Menschen sind vielschichtig, die Handlung schlägt immer wieder überraschende Volten. Ein großes Lesevergnügen!

Toll.

Tibor Rode, Der Wald. Im Jahr 2023 erhalten überall auf der Erde Tausende Menschen Post: Päckchen, kaum größer als ein Briefumschlag, leicht, und darin unbekannte rote Samen. Viele Empfänger säen die Samen aus - und dann nimmt das Unheil seinen Lauf: Eine Planze einer bis dahin unbekannte Spezies wächst heran und zerstört alles um sich herum: Menschen, Tiere, andere Pflanzen. Der Biologe Marcus Holland und die Botanikerin Waverly Park versuchen herauszufinden, woher diese Päckchen kommen. Sie ermitteln unheilige Allianzen, geraten selber in Gefahr - und entdecken eine monströse Gefahr für die gesamte Menschheit.

Ein Science Fiction-hafter Thriller, der im Jahr 2023 spielt - das muss man erst mal wagen! Aber Rode schafft das durchaus glaubwürdig. Sein Buch erinnert ein bisschen an den alten Bestseller "Der Schwarm": Eine Spezies scheint plötzlich der Menschheit entgegenzustehen. Rode schreibt spannend, aus der Sicht verschiedener Protagonisten und Antagonisten, und er verflicht mehrere Zeitebenen. Das ist nicht einfach, aber ihm ist es gelungen: Ich habe das Buch an einem Tag durchgelesen. Wenige kleine Fehler, z.B. kann man auch aus roten Trauben Weißwein keltern (https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-verstehen/haetten-sies-gewusst/pflanzenbau/weisswein-aus-roten-trauben-geht-das), anders als Rode suggerieren lässt (131). Haare bindet man zu einem Pferdeschwanz; zu einem Zopf werden sie geflochten (135, 164). Aber sowas kann man vernachlässigen. Tragisch, dass das Goethe-Museum in Weimar in Flammen aufgegangen ist (224) - wie gut, dass ich vorher noch dort war ;-)

Sehr gut.

Max Bentow, Engelsmädchen. Das Buch beginnt mit einem Mord, erzählt aus der Sicht des Mörders. Es fährt fort mit einer Begegnung in einem Club, die für eine Profilerin mit Ohnmacht und Ungewissheit endet. Dann nimmt sich eine Jugendliche das Leben - und direkt vorher nennt sie den Namen eines seit vielen Jahren vermissten Mädchens. Der Berliner Kommissar Nils Trojan und die Kriminalpsychologin Carlotta Weiss versuchen, den Todesfall aufzuklären. Dann sterben noch mehr Menschen und Trojan und Weiss stellen fest, dass sie einem Serienmörder auf der Spur sind.

Sicher sind auch Polizisten manchmal unprofessionell, aber einiges im Verhalten von Carlotta ist unglaubwürdig unprofessionell: Dass sie ihre Waffe mit in den Club nimmt etwa, dass sie ein Beweismittel verbrennt oder dass sie unbewaffnet eine Verfolgung aufnimmt. Und warum schrieb der Mann, der sie im Club belästigte, ihr seine Handynummer auf den Arm? Feministische Kritik: Der Polizist hat einen Nachnamen, die Polizistin nur einen Vornamen. Außerdem rettet er ihr gleich zweimal das Leben. Feministisches Lob: Sie kann gut schießen - und hacken. Der "Verlust" der Jungfräulichkeit (S.33) ist umstritten, da stehe ich aber eher beim Autor. Kurz: Ein Thriller ohne großen Anspruch, aber ein spannender und netter Zeitvertreib.

Gut.

Christine Brand, Todesstrich. Das Buch beginnt mit einem Mord, erzählt aus der Sicht des Opfers, einer Prostituierten. Dann geht es um die Lebenden: Lisa Kunz ist die neue Leiterin des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern, und sie hat einen Mann, der richtig gut kocht - leider kann sie wegen ihrer vielen Überstunden oft nicht mit ihm zusammen essen. Renate Berger war drogensüchtig gewesen, war clean geworden mit Mann und Kind, aber dann fiel sie zurück. Bruno Bärtschi lebt mit seiner Mutter auf einem Bauernhof - alle acht Geschwister sind fort und seine Mutter weiß nicht recht, was mit ihm anzufangen ist. Die Autorin erzählt die Geschichten der drei Menschen, die zu einer Geschichte wird. Dann verschwindet noch eine Prostituierte.

Das Buch war schon im Jahr 2009 erschienen; Atlantis hat nun eine grundlegend überarbeitete Neuausgabe herausgebracht. Todesstrich ist "inspiriert" durch ein tatsächlich geschehenes Verbrechen. Die Geschichte ist spannend, die Autorin schreibt hinreichend gut, manchmal wäre etwas Zurückhaltung angebracht: "Niedergeschlagen fuhr er mit dem Bus nach Hause. Er fühlte sich, als hätte sich eine schwere Last auf seine Schultern gelegt, Steine, die ihn niederdrückten und Schatten warfen auf sein Herz." (175) Für meinen Geschmack zu dick aufgetragen. Kein großer Wurf mit Anspruch, aber insgesamt ein recht spannender Krimi.

Ganz gut.


November 2023


Neue Krimis

Matthias Wittekindt, Fünf Frauen. Manz´ Enkel Matti wird konfirmiert. Im Gottesdienst trägt er das Gedicht "Wer bin ich?" von Dietrich Bonhoeffer vor. Das erinnert Manz an einen Fall vor 40 Jahren: Im Frühsommer 1983 wurde die Leiche eines Pfarrers in einer Neuköllner Altbauwohnung entdeckt. Und obwohl alle Hausbewohner versicherten, eine gute Beziehung zu ihm gehabt zu haben, dauerte es eine ganze Woche, bis die Polizei gerufen wurde. Und Manz bekam immer mehr das Gefühl, dass die Menschen im Haus nicht das waren, was sie zu sein vorgaben.

Wittekindt legt mit "Fünf Frauen" den vierten Band um Kriminaldirektor a.D. Manz vor. Wieder kommen bei einem Ereignis im Hier und Jetzt alte Erinnerungen an einen Fall hoch. Wittekindt bleibt ganz nah an Manz, an seiner damaligen Arbeit, seiner Familie, wie sie damals war, und der Familie, wie sie jetzt ist. Mit gemeinsamen Erinnerungen -  aber auch Erinnerungen, die Manz und seine Frau eben nicht teilen, etwa was das Verhalten ihrer früheren Vorgesetzten betrifft. Er schreibt lakonisch, auch düster, man spürt beim Lesen Manz´ Älterwerden, Altsein, vielleicht ist es das düsterste Buch der Reihe bisher, und doch liest man es gern, es ist spannend und lässt einen nicht los.

Toll.

Andreas Pflüger, Wie Sterben geht. 1979 bis 1983, ungefähr. Nina Winter arbeitet beim BND am Schreibtisch und langweilt sich ein bisschen. Rem Kukura, Deckname Pilger, TOP-Agent des BND beim KGB, will nur weiter spionieren, wenn Winter als seine Führungsoffizierin nach Russland kommt. Für Winter eine großartige Chance, sie lernt in Windeseile Verfolgung und das Abschütteln von Verfolgern, den Gebrauch von toten Briefkästen etc. Sie geht nach Moskau, arbeitet dort fast vier Jahre lang, erfolgreich. Dann soll Schluss sein und Pilger gegen den Sohn eines Politbüromitgliedes ausgetauscht werden. Und da fliegt die Glienicker Brücke in die Luft, mitsamt Winter und Pilger.

Pflüger hat wieder einen sehr spannendenThriller vorgelegt, der sich richtig gut liest. Er ist nicht ganz unkompliziert, immer wieder schlägt die Handlung neue Volten, und die Agenten verstehen die gegnerischen Bemerkungen meist etwas schneller als der Leser. Und Nina Winter ist eine kluge und starke Heldin, völlig übertrieben, aber wen stört das? Eben ein weiblicher James Bond. Wie seine Heldin Jenny Aaron in der Trilogie Endgültig/Niemals/Geblendet - die hier übrigens angekündigt wird. Aber, und das ist immer ein bisschen mein "Aber" bei Pflügers Büchern, er macht seinen Helden das Töten etwas zu einfach: Bei James Bond ist es entweder direkte Notwehr oder ironisch übertrieben, bei Andres Pflügers Heldinnen wirkt es mir etwas zu sehr gerechtfertigt. Dennoch:

Sehr gut!

Roger Graf, Ticket für die Ewigkeit und Tödliche Gewissheit: Dies sind die Bände 2 und 3 der Reihe um Philip Maloney, und sie sind die beiden ersten Fälle um Maloney und Jasmin Weber. (Der erste Band um Maloney, "Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney", geht teilweise auf die gleichnamige Hörspielserie zurück (seit 1989 sonntags in den Schweizer Radios DRS3 und SDR3) und ist auch als Taschenbuch erschienen.) Jetzt bringt der Atlantisverlag, der zum Kampaverlag gehört, fünf Bücher neu heraus. Diese beiden waren zuerst in den Jahren 1994 bzw. 1995 im Verlag Ricco Bilder in Zürich erschienen. Das war der Hintergrund; jetzt zur Handlung: Privatdetektiv Philip Maloney bekommt eine neue Nachbarin, Jasmin Weber, Detektivin, sie sagt, sie sei spezialisiert auf vermisste Personen. Er hat nichts, sie hat zwei Fälle - eine Frau erhält seltsame Postkarten und vermutet als Absender ihren Vater, den sie aber nie kennengelernt hat; ein Journalist ist verschwunden - und gibt ihm einen ab, den er widerwillig annimmt und nun ständig über Leichen quasi stolpert und sich mit einem etwas dussligen und faulen Polizisten herumärgert. Im nächsten Band findet Maloney einen Erhängten - der aber angeblich schon seit zehn Jahren tot ist.

Graf schreibt Krimis, die zwischen klassisch und skurril oszillieren. Es geht um Mittel fürs ewige Leben und um Erpressung, um zur Macht zu gelangen; die Geschichen sind absurd genug für eine Persiflage aufs Krimigenre, aber glaubwürdig genug, um spannend zu sein. Außerdem hat Graf einen richtig guten Stil, Maloney ist herrlich lakonisch: "Ein Langhaariger humpelte auf zwei Krücken über die Straße und stieß laute Verwünschungen aus. Und zwei Straßen weiter sang die Heilsarmee von einem anderen Langhaarigen." (Ticket: 76) "Ich drehte mich mitten in einem der Sätze um und ging. Hinter mir hörte ich ihn weiterreden; er war es sich [sic!] gewohnt, dass ihm niemand zuhörte." (Ticket: 164) Ab und an ist Graf verblüffend aktuell (Seminar über Rassismus in uns, Ticket: 21; Epidemien, Ticket: 101). Nur wenige kleinere Fehler (Schwarzdrosseln muss man nicht auf einem Hügel beobachten, die sind Kulturfolger und häufig, Ticket: 187; Tränen "purzeln" nicht, Gewissheit: 134). Die Lektüre lohnt sich!

Gut bis sehr gut.

Constanze Scheib, Mord im Dreivierteltakt. Wien, 1973: Ehepaar/Zweckgemeinschaft Ehrenstein besucht den Philharmonikerball. Dort begegnet Herr Ehrenstein einem Herrn Hall, und diese Begegnung verläuft so merkwürdig, dass "gnä´ Frau" Ehrenstein neugierig wird. Sie macht sich auf, dem Herrn hinterherzuspionieren, und weil der ein kleines Theater leitet, lässt sie sich als Mäzenin einspannen. Es stellt sich heraus, dass der Star des Theaters, eine ehemalige Primadonna, erpresst wird. Frau Ehrenstein ermittelt - und ihr Dienstmädchen Marie, ihre heimliche Vertraute, hilft ihr.

Es ist nicht schlecht geschrieben, aber auch nicht gut. Immer wieder ein paar Adjektive zu viel, z.B.: "Der junge Mann nickte eifrig, die Primadonna ging von der Bühne, und die Schauspieler atmeten lautstark durch." (47) Nicht einfach, so ein Krimi in den "höheren Kreisen": Wenn "gnä´ Frau" und ihr Dienstmädchen sich gut verstehen, dann fragt man sich, ob Standesunterschiede verharmlost werden, dabei waren solche Allianzen wahrscheinlich gar nicht so selten. Anders herum wirken Maries Vorträge in Soziologie, etwa betreffend die ärmliche Nachbarschaft des Theaters: "Ah, gehn´S, Frau Ehrenstein. Des san keine daherg´laufenen Verbrecher da drauß´n, des san junge Leut, die in den maroden Häusern wohnen, wo sonst kaner mehr leben mag. Die tun kanem was." (92) auf mich dick aufgetragen. Ein Wohlfühlkrimi, ja, aber ist er ehrlich mit seiner ironischen  und liebevollen Sozialkritik? Vielleicht ja, aber dann habe ich das Gefühl, man will mich erziehen. Abgebrochen S. 94. - Allerdings gehöre ich scheinbar zu einer Minderheit; die Krimiserie um "Gnä´ Frau ermittelt" ist durchaus erfolgreich.

Nicht mein Geschmack.

Kerstin Ruhkieck, Meine Lüge ist Deine Wahrheit. Elena, Teresa und Miriam sind miteinander verbunden, und ein gemeinsam verbrachter Sommer war das Ende ihrer Freundschaft - offensichtlich aber auch der Anfang einer anders gearteten Verbindung. Die drei haben mehr oder minder erfolgreich versucht, diesen Sommer zu vergessen, aber plötzlich, Jahre später, bekommen sie seltsame Briefe, werden bei Anschlägen verletzt, treffen sich wieder und müssen ihre Erinnerungen ausgraben.

Ein interessanter Plot, und Kerstin Ruhkieck legt ihn mit den Kapiteln aus wechselnden Perspektiven interessant an. Dennoch nicht gut. Es fängt mit der Grammatik an: "Er beugte sich über sie, seine Erektion deutete anklagend in ihre Richtung, nannte sie Schlampe und Hure." Seit wann kann eine Erektion sprechen? (31) Nicht nur solche Sexszenen, sondern auch zu viele Adjektive lassen den Text billig wirken: " Er [...] vervollständigte seine geordnete Erscheinung, indem er ihn [den Gürtel] mit falscher Gelassenheit durch die Laschen seiner Jeans zog." Was ist falsche Gelassenheit? (35) Der Satz auf S. 90 unten ist unvollständig. Bilder sind schief ("Teresa verschmolz mit dem dunklen Wohnzimmer, wurde zu einer von der Glut des Feuers skizzierten Statue ...") Hätte da nicht mal ein Lektor lesen können? Das Ganze ist auch etwas wirr, ich fand nicht rein; zwar hätte mich interessiert, was in dem Sommer passiert ist, aber das Buch hat mich zu sehr genervt. "In Deinen Augen der Tod" von derselben Autorin war ein sehr guter Thriller (Rezension August 2022), ich hoffe, Ruhkiecks nächstes Buch wird wieder so gut - vielleicht hat sie sich bei diesem hier bloß zu sehr beeilt. Gelesen bis S. 134.

Langweilig.

Maren Lassander, Kreuzschmerzen. Maren Lassander ist das Pseudonym einer Schweizer Autorin und "Kreuzschmerzen" ist ihr Krimidebut. Protagonistin L. scheint Archäologie zu studieren und der zweite Protagonist Jorne war mal Bergführer. Gemeinsam stahlen sie lange Zeit Reliquien aus Kirchen, nun werden sie von der Polizei gesucht und haben sich zurückgezogen. Da meldet sich nochmal ihr alter Auftraggeber und will, dass sie ein Brustkreuz der Tempelritter stehlen, das sich in einer sehr abgelegenen Krypta in einem Hochtal befinden soll.

L. hat sehr schlechte Erfahrungen mit Kirchenleuten gemacht und nun soll man ihre Beschimpfungen lesen. Die sind weder lustig noch aufregend. Wer so etwas in gut lesen möchte, versuche es bei Jenny Hval (Gott hassen) oder Lucas Rijneveld (Was man sät). Auch die Vorbereitung auf den Raub sind einfach nicht spannend. Gelesen bis S. 182.

Langweilig.


Kunst in Stuttgart

Noch bis einschließlich Sonntag den 5. November zeigt das Kunstmuseum Stuttgart „Wolfgang Laib. The Beginning of Something Else.

Laib ist kein Künstler im herkömmlichen Sinne, also kein Maler und als Bildhauer auch sehr ungewöhnlich.

Die Ausstellung beginnt im dritten Obergeschoss. Dieses besteht, neben dem Treppenhaus natürlich, aus einer einzigen großen Halle, in der Laib ein „Reisfeld“ installiert hat: lauter Häuflein aus Reis bilden lange Reihen, dazwischen stehen zwei Treppen und ein Zikkurat. Im Verlauf der Ausstellung zeigt er einen gelben Teppich aus Blütenstaub von Kiefern. So etwas habe ich noch nie gesehen. Man darf sich nicht allzusehr nähern, aber man kann das Werk vom Nebenraum betrachten oder, der ungewöhnlichen Architektur des Kunstmuseums sei Dank, von oben. In einem anderen Raum stehen Häuschen aus Bienenwachs – ein unbeschreiblicher Duft. Im Untergeschoss kann man einen "Wachsraum" aufsuchen, eine dauerhafte Installation im Museum, dabei handelt es sich um einen bedrückend engen Gang in einer Konstruktion aus Holz und Bienenwachs. In Stuttgart steht eine von weltweil sieben derartigen Installationen.

„Sein Denken und Schaffen stellt seit Ende der 1970er-Jahre Fragen an unser Sein und Handeln als Teil fragiler Lebensräume und könnte darin nicht aktueller sein“, so die Ausstellungsmacher.

Ich fand keinen rechten Zugang. Die Erklärung zu einem Bild von Dix z.B. kann ein Aha-Erlebnis ein und ich habe das Gefühl, ich habe etwas verstanden; ich bekomme außerdem Respekt vor dem Künstler, der die Grauen der Zwischenkriegszeit gezeigt hat. Lese ich Erläuterungen zum Werk von Wolfgang Laib, übrigens ein promovierter Mediziner, denke ich „na und?“ und würde lieber einen Sachtext über Umweltschutz lesen. Aber wahrscheinlich gehöre ich damit zu einer Minderheit; vielfach scheint Laibs Kunst aufrüttelnd zu wirken und zu bewegen. So nahm er schon an der Biennale in Venedig und zweimal an der Documenta teil.

Also, wer das mag oder neugierig ist: Nix wie hin; am Sonntag um 11 Uhr wird noch einmal der "Milchstein" - eine besonders bekannte Installation von Laib „befüllt“ – Mitarbeiter des Museums gießen Milch auf eine weiße Marmorplatte, dann sollen sich die Materialien vorübergehend verbinden.


Neue Krimis


Regina Nössler, Kellerassel. Die Protagonistin dieses Buches, Isabel Kepler, kennt man aus "Katzbach" (Dezember 2021). Die Ereignisse aus "Kellerassel" finden danach statt, beziehen sich teilweise darauf, sind aber auch allein verständlich. Kepler ist noch genau so chaotisch, aber nicht mehr ganz so arm, weil sie Geld erpresst hatte. Das reicht nicht mehr lange und nun will sie die Erpressung wiederholen. Stattdessen wird sie bedroht. Sie arbeitet in einem Impfzentrum, ebenso wie Oliver, der ihr nachsteigt und extrem nervt. Außerdem lernt sie zufällig Antonia kennen, die kürzlich nach Berlin gezogen ist, und die auf überraschende Weise mit ihrem Lover verbunden ist. Der Sommer ist heiß und die Leute werden aggressiv.

Kellerassel ist ein herrlich skurriler Thriller von Regina Nössler. Mal weiß man mehr, mal weniger als die Protagonistin, mal mehr und mal weniger als Oliver, und Nössler führt ihre Leser andauernd an der Nase herum - und das macht Spaß.

Sehr gut.

Frank Göhre, Harter Fall. Hamburg und Jamaika, Ende der 1970er Jahre: Eine Dänin trampt nach Flensburg. Ein junges Mädchen wird in Hamburg tot aufgefunden. Drei junge Männer reisen nach Jamaika. Eine junge Frau beginnt eine Affäre mit einer Kiez-Größe. Terroristen der RAF werden gesucht. Alles hängt irgendwie zusammen, allmählich entwirrt sich ein Knoten nach dem anderen, und am Schluss auch das Rätsel um die Tote. Wie so oft bei Göhre kommt vieles anders als man denkt, und die Menschen werden desillusioniert, meistens auf die harte Tour.

Frank Göhre ist immer für Überraschungen gut. Inhaltlich, in Prinzip auch formal - auch wenn er für seine Stakkato-Sätze bekannt ist - und diesmal, ganz neu, für den Aufbau: Er wechselt immer zwischen der Handlung des Buches und der Handlung des Filmes "The harder they come"; einzelne Szenen daraus stellt er manchen Kapiteln als eine Art Prolog voran. Ich konnte das Buch nicht einfach so nebenbei lesen, erstens muss man den Film (den ich nicht kenne) im Hinterkopf behalten, zweitens folgt Göhre in seinen kurzen Kapiteln immer wechselnd vier, fünf Gruppen von Protagonisten. Manchmal übertreibt er etwas, vor allem bei einer oder zwei Kampfszenen bin ich hängen geblieben. (Wer schlägt mit der Rückhand???, S.20. Und der Vermieter müsste, um strampeln zu können, eigentlich erst zu Boden gehen, S.54.) Ein Erlebnis der besonderen Art war schließlich die Lektüre der Predigt (72f), die erinnert mich an die Botschaften meines Großvaters. Insgesamt:

Sehr gut.

Zoe Beck, Memoria. Deutschland, ein Sommer in naher Zukunft: Eine einigermaßen dystopische Welt mit Bränden, großen Unterschieden zwischen Armen (von denen es sehr viele gibt) und Reichen, aber immer noch mit Kaufhäusern und Musik. Harriet, Anfang 30, früher eine angehende Konzertpianistin, jetzt eine arme Frau, rettet eine ältere Frau vor einem Feuer. Harriet kennt sie nicht, aber die Frau scheint sie zu kennen. Dies Erlebnis lässt nach und nach Erinnerungen auftauchen, die nicht mit Harriets anderen Erinnerungen über ihr Leben zusammenpassen. Sie weiß nicht mehr, was sie erlebt hat und was sie nicht erlebt hat, und vor allem: was sie erlebt hat, ohne sich daran zu erinnern. Sie fängt an, nachzuforschen - und muss plötzlich um ihr Leben fürchten.

Zoe Beck hat wieder einen spannenden und intelligenten Thriller geschrieben, der in naher Zukunft spielt. Und sie hat wieder  ein Thema aufgegriffen, das in Deutschland in den Nullerjahren in die Medien kam (z.B. hier und etwas später hier) und mich seitdem beschäftigt, es ist unheimlich. Erinnerungen sind nicht nur notorisch unzuverlässig, sondern Beck zwingt zum Nachdenken über die Frage: Wem gehört eine Erinnerung?! Man fühlt mit Harriet mit.

Sehr gut.

Eberhard Michaely: Frau Helbing und der Casanova aus Winterhude. Frau Helbing hat von ihrer Freundin Heide einen Wassergymnastik-Schnupperkurs zu Weihnachten bekommen. Der macht ihr Spaß, nur der einzige Mann im Kurs, Herr Hoyer aus Winterhude, ist ein nerviger Gockel. Erst baggert er die ehemalige Schauspielerin Olga Suditzky an und als nächstes Ingeborg Kappel, mit der Frau Helbing sich gerade anzufreunden begann. Aber dann wird Frau Suditzky tot aufgefunden - ermordet! Frau Helbing macht sich an die Aufklärung, obwohl die ermittelnden Polizisten nicht mehr mit "Amateurdetektivinnen" reden dürfen - Dienstanweisung (oder so).

Einer der seltenen Wohlfühlkrimis, der mir wirklich gut gefällt (und sicher nicht nur, weil ich in Hamburg geboren bin). Ich mag, dass Frau Helbing und Heide Freundinnen sind, obwohl sie so unterschiedlich sind, und obwohl Heide auch ziemlich reich/gebildet/arrogant ist. Und die etwas altmodische, verschmitzte und liebenswerte Frau Helbing ist lebenstüchtig (die Szene mit dem Lammbraten geht zu Herzen) und entdeckt in jedem Band etwas neues Kulturelles in Hamburg, nach unter anderem Musik und Kunst ist es jetzt das Theater, allerdings gefällt ihr das Stück von Peter Handke nicht (es würde mir, glaube ich, auch nicht gefallen). Kurz: Ich liebe diese Krimis sehr - und im nächsten hätte ich gern wieder etwas mehr Interaktion mit Heide und vor allem Herrn Aydin.

Gut bis sehr gut.

Susan Kreller, Salzruh. Ein paar Urlaubsgäste treffen sich scheinbar zufällig in einer heruntergekommenen Pension in der Altmark. Unvermittelt teilt die Wirtin ihnen mit, dass sie die Pension nicht verlassen dürfen. Zu ihrer eigenen Sicherheit, sagt sie. Aber wovor sie sicher sein sollen, worin die Gefahr besteht, das sagt sie nicht. Durch die Fenster betrachten die Urlauber den Wald und ein altes Schloss, früher ein beliebtes FDGB-Erholungsheim.

Das Setting verspricht ein interessantes Kammerspiel, und die Autorin belässt es nicht dabei, sondern sie hat eine Reihe skurriler Charaktere erschaffen und sie schreibt wirklich intelligent. Leider konnte ich mit dem Buch nichts anfangen, diese Menschen, die sich nicht raustrauen (wahrscheinlich hängt es mit ihrer Vergangenheit zusammen), haben mich einfach nur genervt. Abgebrochen auf Seite 158.

Geschmacksfrage, daher: wahrscheinlich sehr gut.

Marcel Huwyler, Frau Morgenstern und der Abgrund. Die pensionierte Grundschullehrerin Violetta Morgenstern und der Ex-Söldner Miguel Schlunegger sind erfolgreiche Profikiller und richtig nett, manchmal jedenfalls. Und natürlich nur, wenn es dem jeweiligen Auftrag nicht schadet. Gerade haben sie einen eigentlich auch ganz netten Menschen ermordet, als sie ihrerseits einen Mord aufklären sollen: Ein Enthüllungsjournalist mit, nun ja, nicht ganz astreinem Ruf wurde erschossen, und eine Kollegin von ihm glaubt nicht, dass es ein bloßer Raubüberfall war. Violetta und Miguel recherchieren - und kommen einer furchbaren Geschichte auf die Spur, die sich 86 Jahre vorher zugetragen hat. Liegt da des Rätsels Lösung?

Ein ungewöhnliche Krimi einer offensichtlich erfolgreichen Reihe: Frau Morgenstern und der Abgrund ist schon der fünfte Fall für die alte Dame. Das Buch liest sich in der Tat gut. Huwyler hat originelle Ideen, von der Gangster-WG selbst (herrlich banal: S. 79) über ihre Unterkunft bis zu den vielen Wortspielen. Ein bisschen zu meckern: Zum Beispiel scheint die Wundversorgung mit Sekundenkleber tatsächlich zu funktionieren, aber die Anleitung auf S. 38 liest sich, als sollte man ihn auf die Wundfläche selbst tun, ich fand online aber den Hinweis, dass man gerade das NICHT tun sollte. In der Szene um S. 120 sind Violetta und Miguel etwas zu offen mit ihrer Selbstauskunft. Sowas, halt Kleinkram. Keine große Literatur (weder die psychologische Tiefe von Patricia Highsmith bei Tom Ripley, noch eine wirkliche Reflektion des eigenen Tuns: Die Überlegungen beim ersten Mord sind etwas platt, auch keine Satire wie etwa in "Achtsam Morden"). Aber nett zu lesen.

Ganz gut.

Sascha Michael Campi, Demaskiert. Bern, zur Corona-Zeit. Alina Leipold feiert mit ihrer besten Freundin ihren 18. Geburtstag und verschwindet nach einem Streit. Matteo Meier ist schweizweit bekannt, weil er gegen Coronamaßnahmen der Regierung auftritt. Der ehemalige Kriminalbeamte Walter Lehmann und die Witwe Lisi Badou eröfffnen ein Detektivbüro und suchen erst nach einer Katze, dann nach Alina. Alles hängt zusammen, aber wie und warum?

Ein mittelspannendes und nicht besonders gut geschriebenes Buch. Etwa so eine Sexszene "… sie schauten sich sehnsüchtig und innig in die Augen, die Lippen zogen sich gegenseitig an, beinahe schon magnetisch, bis sie sich berührten, sie sich öffneten und so ihren Zungen den Weg zum Zungentango ebneten" (62) ist platt. Daneben ist viel unlogisch: "`Du musste dir abgewöhnen [da fehlt ein Komma] allen zu versprechen, dass wir die Vermissten zurückbringen ...`" (72) - Die Angesprochene hatte ein derartiges Versprechen zum ersten Mal gegeben, hatte es sich also gar nicht angewöhnt. Und die Katze hatte die vier Mäuse entweder gefressen, ODER man fand deren "Leichen" (79). Ich hätte zwar gern gewusst, wie die Geschichte ausgeht, aber sooo spannend war es nicht und solche Schlampereien ärgern mich, darum habe ich auf S. 100 aufgegeben.

Nicht gut.

Benjamin Stückelberger, Asche zu Asche und Auf der Kanzel. Autor Benjamin Stückelberger war jahrelang Pfarrer in der Schweiz. Protagonist Roger Gabathuler hat zwölf Jahre lang bei der Kantonspolizei Zürich Frauenhandel und Organisierte Kriminalität bekämpft. Nach einem Einsatz mit mehreren Toten hat er den Polizeidienst quittiert, er studierte Theologie und tritt nun seine erste Pfarrstelle an (Auf der Kanzel). Kaum angekommen, muss er feststellen, dass sein Pfarrhaus vermietet ist an Asylbewerber -  die er als russische Mafiosi, üble Gestalten im Frauen- und Drogenhandel wiedererkennt. Er versucht, sich des Problems zu entledigen (so salopp kommt es tatsächlich herüber), aber dann kommt ein Killerkommando, das ihm an den Kragen will. Im nächsten Band (Asche zu Asche) beerdigt er eine Frau und muss danach erfahren, dass sie keinesfalls eines natürlichen Todes gestorben ist. Und bald muss er versuchen, zwei Zwangsprostituierte zu retten. Neben all dem hat er Ärger mit Familie und Freundin aber er hat auch Sex und geht spazieren. Und bringt Leute um - aber nur böse Leute. Er wirkt dabei aber weder zerrissen noch cool, sondern unglaubwürdig und nichtssagend.

Es hätte so eine feine Serie werden können, vielleicht ein moderner Pater Brown, aber die beiden einzigen Stellen, die ich in puncto Kirche/Glaube/Religion lustig bzw. interessant fand, waren die Beschreibung einer quälend langatmigen Sitzung der Kirchenverantwortlichen mit ihrer Diskussion über die Vorzüge und Nachteile von Baby-Klavier, Spinett etc., und die Beschreibung des Glaubensinhaltes der christlichen Religion, nämlich der Glaube an den Gekreuzigten, ein Skandal: In anderen Religionen wird die Allmacht Gottes beschworen, nur im Christentum eben der leidende Gott (Kanzel, 85). Aber bei Stückelberger geht es um Sozialdarwinismus, genauer Religionsdarwinismus: Dies nämlich sei ein entscheidender Vorteil im Überlebenskampf der Religionen, im "religiösen Survival of the Fittest". Von einer inneren Wahreit des Christentums, vom Glauben ist hier nicht die Rede und da ist man wirklich froh, dass der Autor nach 15 Jahren den Pfarrberuf aufgegeben hat und nun Musicals und Krimis schreibt (die man zum Glück nicht hören bzw. lesen muss). Unerhört platt auch der ganze Rest: Etwa (Asche, 65f), wie der Pfarrer anhand der Krebserkrankung einer Frau den Reichtum des Pfarrberufes beschreibt - sicherlich gibt es im Umgang mit Todkranken viel zu lernen, aber es geht um die Kranke, nicht um den Pfarrer. Die ganze Zeit vermittelt Stückelberger einen Egoismus und eine Egozentrik, die schwer erträglich ist, und die er auch nicht glaubwürdig problematisiert, weder, indem er den Pfarrer als komplexe Persönlichkeit erzählt (manche Autoren legen solche Protagonisten als Alkoholiker an), noch in seiner eigenen Rolle als allwissender Autor. Die Bücher sind eitel.

Gar nicht gut.



Oktober 2023


Kunst in Berlin

Nur noch bis zum 22. Oktober 2023: Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann in der Alten Nationalgalerie.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fanden immer mehr Künstler die akademischen Strukturen überholt und einige besonders Fortschrittliche und Mutige gründeten Secessionen als Abspaltungen von traditionellen Künstlervereinigungen. Sie bereiteten den Weg für die moderne Kunst.

Die wichtigsten Secessionen im deutschsprachigen Raum waren München (1892), Wien (1897) und Berlin (1899). Die jeweils prägenden Künstler mit ihren Stilen waren Franz von Stuck mit seinem Symbolismus (München), Gustav Klimt mit seinem Jugendstil (Wien) und Max Liebermann mit seinem Impressionismus (Berlin); allerdings standen die Secessionen generell für viele unterschiedliche künstlerische Positionen, Stile und Richtungen.

Nur in der Berliner Secession waren von Anfang an Frauen dabei: etwa Dora Hitz, Sabine Lepsius und später Käthe Kollwitz. Von letzterer wird ein Selbstbildnis gezeigt: ein flächiges Gesicht, es ist ebenmäßig, aber der Ausdruck „schön“ passt nicht. Nicht, weil sie hässlich gewesen wäre, im Gegenteil, aber so ein Wort verbietet sich angesichts der Genauigkeit, mit der sie sich zeigt, sie sieht das Leben wie es ist, und sie sieht es hoffnungslos. So wirkt das Bild auf mich.

Die Alte Nationalgalerie will beiden Aspekten - den drei prägenden Künstlern ebenso wie der Vielfalt der Stile - gerecht werden. Sie stellt die drei Secessionen mit ihren „Stars“ aber eben auch insgesamt mehr als 80 Künstler mit über 200 Gemälden, Skulpturen und Grafiken einander gegenüber, dazu Gäste wie Ferdinand Hodler, Edvard Munch und Auguste Rodin.

Ferner zeigt sie Themenräume wie „Ablehnung und Aufbruch“ (München lehnte z.B. Salome von Corinth ab, aber in Berlin wurde es ein Erfolg), „Kinderwelten“ (Kinderportraits wurden vor allem für Künstlerinnen eine gute Erwerbsgrundlage) oder „Secession als Marke“ (Secession galt bald als Gütesiegel für fortschrittliche Kunst, und das forcierten die Secessionisten mit Werbekampagnen, Signets etc., so entwarf Thomas Heine ein Plakat mit einer Frau im Tüllrock, die einen etwas widerwilligen Berliner Bären küsst).

Lieblingsbilder: Die Sünde von Franz von Stuck (sehr bekannt, aber richtig toll und fies, mit der Schlange, die der Frau über die rechte Schulter guckt. Eva mal nicht dusselig, sondern bewusst erotisch). Judith Holofernes von Gustav Klimt (auch sehr bekannt, und sie guckt den Betrachter mit einem Blick an, der sagt, „ach, Ihr Armen, Unwissenden“, und auf den zweiten oder dritten Blick sieht man dann auch noch Holofernes´ Kopf rechts unten). Und Heinrich Eduard Linde-Walther, Der Maler Gutmann mit Kind (ungewöhnlich, dass Männer Gefühle so zeigten).

Tolle Ausstellung - Nix wie hin!

Passende Lektüre zur Ausstellung: Elisabeth Sandmann, Der gestohlene Klimt. Wie sich Maria Altmann die Goldene Adele zurückholte.


September 2023


Neue Krimis

Maiken Nielsen, Die Frau, die es nicht mehr gibt. 1977: Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader werden begraben und ein Mädchen schließt sich der RAF an. Sie nennt sich Christiane Gärtringen - und ist plötzlich verschwunden. 1984/85: Die junge Hamburger Fotografin Alex trampt in den Lubéron und schließt sich einer Gruppe von Straßenkünstlern an. Der französische General René Audran wird ermordet. Gegenwart: Alex, inzwischen Kamerafrau in Hamburg, kehrt in den Lubéron zurück und begegnet ihrer alten Freundin Mado wieder. Und die entpuppt sich als jemand anderes.

Die Autorin wurde selber in Hamburg geboren, reiste per Anhalter und landete im Lubéron-Gebirge. Wie Alex. So liest sich das auch, man glaubt ihr jedes Wort. Man folgt Alex in den 1980ern, wie sie in Mado eine Freundin findet, die plötzlich verschwindet, wie sie sich in den Seiltänzer Loic verliebt, wie sie immer wieder fotografiert, wie sie Prominente sieht und Menschen, die sich verstecken wollen, wie sie im Sommer schwitzt und im Winter friert. Und man fühlt mit ihr, wenn sie in der Gegenwart der alten Freundin plötzlich gegenübersitzt und diese wieder nur nach und nach mit der Sprache rauswill. Was ist Freundschaft, wer ist ein Mensch wirklich, und wie war es damals mit der zweiten Generation der RAF?

Sehr guter, toller Kriminalroman.

Jochen Rausch, Im toten Winkel. Mit diesem Band beginnt eine neue Krimiserie, die "Grenzland-Reihe". Die Ermittlerin Marta Milutinovic hat München nach einem schrecklichen Schicksalsschlag und einem schlimmen Fehler verlassen. Nun leitet sie die örtliche Polizeidienststelle in Schwarzbach, eine Kleinstadt im ehemaligen Grenzgebiet zwischen BRD, DDR und CSSR. Eigentlich könnte sie sich zurücklehnen. Stattdessen gräbt sie einen Cold Case um einen toten Abiturienten aus, ermittelt - und gerät in höchste Gefahr.

Jochen Rausch hat mit Marta Milutinovic eine interessante Figur erschaffen. Obwohl sie recht spröde ist, rätselt man mit ihr, was damals bloß passiert ist, bangt mit ihr oder eher um sie, und freut sich mit ihr über schöne Erlebnisse. Aber die Stärken der Figur sind gleichzeitig ihre Schwächen, schriftstellerisch betrachtet. Endlich eine Frau, die Schicksalsschläge überlebt und nicht den Rest ihres Lebens als Alkoholikerin fristet, sondern eine, die sich wehrt. Einerseits. Andererseits ist kaum denkbar, dass das Erlebnis ab S. 116 sie so cool lässt, wie es im Buch scheint. Der Krimi ist sehr spannend, aber das letzte Drittel ist weniger glaubwürdig: Johanna und die Gemeindemitglieder wirken unecht, was sie ja in gewisser Hinsicht auch sind, aber die Figuren sind nicht so überzeugend wie etwa Hertmann. Dennoch: Spannende Lektüre.

Gut.

Christof Weigold, Der böse Vater. Detektiv Hardy Engel sitzt unschuldig ein, als der Medienmogul William R. Hearst ihn zu sich zitiert: Er wird erpresst und Engel soll sein Problem lösen: Dann kommt er frei. Bei der Erpressung geht es um den Tod des Tonfilmpioniers Thomas Ince fünf Jahre zuvor, kurz nach einer Feier auf Hearsts Luxusyacht. Engel vergräbt sich in den Fall und arbeitet auch wieder für - oder gegen? - Carl Laemmle, den Chef von Universal, der aus Laupheim in Baden-Württemberg stammt und dessen Sohn ihn früher sehr bewundert hatte.

Weigold hat eine spannende Geschichte um den tatsächlich geschehenen und angeblich nie wirklich aufgeklärten Tod von Thomas Ince gewebt. Sein bewährter Privatdetektiv Hardy Engel ermittelt auf dem Hintergrund des Übergangs vom Stummfilm zum Tonfilm, des Machtkampfes zwischen mächtigen Filmleuten, der Verfilmung von "Im Westen nichts Neues" - und des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland. Mehrere Handlungsstränge werden aufgenommen und miteinander verbunden, es geht um Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, und die Rollen von all dem gehen weit über eine Illustrierung hinaus, sondern haben ihren eigenen Wert. Man rätselt lange mit Hardy Engel, worum es bei der Erpressung eigentlich geht, und das Buch bleibt spannend bis zum Schluss. N.B.: Mir gefiel, dass Hardy Engel erst mit dem Trinken und dann mit dem Rauchen aufhört - aber der Schluss geht mir etwas gegen den Strich. Andererseits wurde Alkoholismus erst viel später, in den 1960ern, von der WHO als Krankheit anerkannt. Und Engel war, anders als Marion Davies, vielleicht gar nicht alkoholkrank. Die nächsten Bücher werden es zeigen ...

Gut.

Max Reiter, Erinnere dich! Dr. Arno Seitz, Dozent in Berlin, erlebt plötzlich sehr merkwürdige Dinge: Er bekommt per Post ein Handy, und über dieses wiederum erhält er seltsame Botschaften, die erste: ERINNERE DICH! 20 Jahre vorher hatte er mit drei Freunden eine Wanderung gemacht, auf der eine von ihnen, seine damalige Freundin Maja, plötzlich spurlos verschwand. Er hat das mehr oder weniger gut verdrängt, aber in der Folge blieb er mehr oder weniger einsam. Und nun macht er sich auf zu einem Abiturtreffen. Dort begegnet er seinen drei alten Mit-Wanderern und Majas deutlich jüngerer Schwester. Sie beschließen, den alten Weg noch einmal zu gehen, und Arno sieht plötzlich Bilder und Erinnerungen. Er beginnt, sich zu fragen, ob er Schuld an Majas Verschwinden war.

Eigentlich ein spannendes Setting, so ein Krimi um die Verlässlichkeit von Erinnerungen. Der Autor hatte die Idee zu diesem Thriller bei einem Klassentreffen, bei dem sich herausstellte, dass er manche Geschichten gar nicht in Erinnerung hatte, andere wiederum ganz anders als seine ehemaligen Klassenkameraden.Etwas in der Art dürften die meisten von uns schon erlebt haben, und ein Krimi um so eine Alltagssituation, in der plötzlich ein vergangenes Drama aufbricht, könnte einen Leser durchaus fesseln. Aber Autor Max Reiter (eigentlich Andreas Götz) lässt seinen Protagonisten Arno Seitz zu viel erklären. Zwar folgt man dadurch dem inneren Geschehen, aber es wird zu viel und nervt manchmal ein wenig, und man kann trotzdem nicht immer seinem Handeln folgen.

Ganz gut.

Claudia Bardelang, Schwarz ist der Wald und Schwarz ist die Gier. Mit "Schwarz ist der Wald" beginnt eine neue Krimireihe um Kriminalhauptkommissar Johann Briamonte. Der kehrt aus Frankfurt am Main zurück in den Südschwarzwald. Dabei ist er dort zwar aufgewachsen, aber nie wirklich angekommen, weil er als "Italienerkind" galt. Nun hat er einen alten Hof gekauft, will ihn renovieren - und hat prompt seinen ersten Fall am Hals: Ein Kellner wurde mit einem präzisen Kopfschuss ermordet. Wer  hatte es auf ihn abgesehen? Und wer war dieser Kellner überhaupt - da stimmt irgendetwas nicht mit seinen Papieren?! In "Schwarz ist die Gier" besucht Briamonte den Empfang einer renommierten Kunsthandlung, als deren Auszubildender in der Jugendstilvilla zu Tode stürzt. Kurz zuvor hatte er den Auftrag für eine Fälschung bekommen: Eine alte Frau hatte dem Galeristen eine Skizze von Franz Marc angeboten, ohne zu wissen, was sie da hatte. Der Galerist behielt die Skizze zur Begutachtung und beauftragte seinen begabten Azubi, eine Kopie herzustellen. Nun ist der Azubi tot, und es bleibt nicht bei diesem Tod.

Claudia Bardelang schreibt über ihre eigene Heimat: Sie wuchs im Breisgau auf und lebt auch dort; gelegentlich lässt sie die Figuren im dortigen Dialekt sprechen. Mit Johann Briamonte hat sie eine sympathische Figur erschaffen. Die beiden ersten Krimis der Reihe kann man lesen; sie sind keine große Literatur, Krimis können auch so spannend sein, aber diese Krimis versuchen mehr, als sie erfüllen können: Ein einsamer Kommissar ist ein bekanntes Sujet, aber Briamonte wirkt nicht wirklich glaubwürdig, der familiäre Hintergrund passt nicht, die Liebe wirkt künstlich, die alte Bäuerein klischeehaft, der Killer einerseits äußerst routiniert, andererseits ungeschickt, und dass er sein Präzisionsgewehr zu Boden wirft, ist mehr als unwahrscheinlich (Wald: 57; 173). Dazu Kleinigkeiten: Das Wort "Schweiß" für Blut (Wald: 33) müsste erklärt werden, die Sprache ist manchmal etwas billig (Wald:89, "Der Gedanke daran entlockte ihm ein widerliches Lachen"). Im zweiten Band wäre die allmähliche Wandlung des Galeristen interessant gewesen, man hätte das mehr ausführen können - aber es kommt nicht glaubwürdig rüber.

Ganz gut.

Christof Gasser, Solothurn hüllt sich in Schweigen. Solothurn. Die Polizei hat gut zu tun: Erst wird eine Informandin ermordet, dann ein Mann, scheinbar unbekannt. Hauptmann Dominik Dornach recherchiert mit seinem Team, seine erwachsene Tochter Pia mischt sich ein, und dann tauchen Gestalten aus seiner Vergangenheit auf und haben auch irgendwie damit zu tun. Ein deutsch-arabischer Familienclan scheint das verbindende Element zu sein.

Gasser schreibt den Roman aus der Sichtweise mehrerer Beteiligter: Polizistin Maja Hartmann (von der hätte ich gern mehr gelesen), Hauptmann Dominik Dornach, dessen Tochter Pia Zenklusen (deren Handeln nicht immer ganz glaubwürdig ist, und wie sie ihre vielen Aktivitäten unter einen Hut bekommt, ist mir auch ein Rätsel). Das bringt unterschiedliche Stimmlagen in den Fall, und nach kurzer Zeit kann man die vielen Beteiligten (nicht nur diese drei, sondern auch Opfer, Täter etc.) auch schnell auseinanderhalten bzw. einordnen. Farbe kommt ins Ganze auch dadurch, dass Gasser verschiedene tatsächliche Fälle in leicht abgewandelter Form aufgreift, etwa einen Juwelenraub in Berlin (wohl eine Mischung aus dem Einbruch ins Dresdner Grüne Gewölbe und den Diebstahl der schweren Goldmünze aus einem Berliner Museum). Zu mäkeln habe ich nur an ein paar Kleinigkeiten. So ist es gelegentlich etwas platt: Etwa "für Männer seines Schlages waren Frauen Gebrauchs- und Dekorationsgegenstände. Man nahm sie bei Bedarf hervor und schmiss sie weg, wenn sie nutzlos wurden." (146) Oder: "Sie verstand, was Kleopatra bei der ersten Begegnung mit dem römischen Feldherrn gefühlt haben musste. Sergio Arcuri atmete und strahlte das aus, was Kriegsherren, Diktatoren und Verbrecherbosse von den Anfängen bis heute gemein hatten: dunkle, zerstörerische Macht." (195) Außerdem ein paar Kleinigkeiten, so etwa ein Todeszeitpunkt "kurz nach Mitternacht und heute früh" ist falsch, richtig wäre "zwischen Mitternacht und heute früh" (49), und sagt man in der Schweiz tatsächlich "Durchsuchungsbefehl" und nicht "Durchsuchungsbeschluss"? (99) Das Konzept der "Rabenmutter" ist meines Wissens eher deutsch, nicht ukrainisch (160). Schießereien unter Banden in Skandinavien erwähnt der Autor mehrfach. - Aber da ist nicht viel zu mäkeln: Vielleicht kein großer Wurf mit politischem oder sozialem Hintergrund, auch keine große Literatur. Aber solides Handwerk: Die Lektüre hat Spaß gemacht, ein klug durchdachter und strukturierter Kriminalroman, der sich spannend liest.

Ganz gut.


Kunst in Regensburg: Barock! Bayern und Böhmen

Noch bis Dienstag 3. Oktober zeigt das Haus der Bayerischen Geschichte die Ausstellung Barock! Bayern und Böhmen. Es ist eine Bayerisch-Tschechische Landesausstellung 2023/24 und wird nach den Monaten in Regensburg vom 8.12.2023 bis zum 8.5.2024 im Nationalmuseum Prag gezeigt. 

Allein die Ausstellungsorte verraten eine Besonderheit dieser Ausstellung: Regensburg und Prag – eine gemeinsame Veranstaltung, und es werden unterschiedliche Sichtweisen gezeigt. So sind die großen Texttafeln nicht nur auf Deutsch und Englisch, wie man es aus allen größeren Museen in Deutschland kennt, sondern auch auf Tschechisch. Vor allem geht es um die Inhalte: Viele Sätze rufen die Sicht der Anderen (für mich also die Sicht der Teschechen) ins Gedächtnis, etwa „Diese Demütigung wirkt bis heute nach“, wenn es um die öffentliche Hinrichtung der „Aufständischen“ in Prag geht, nachdem bayerische Truppen eingefallen sind und der Habsburger Ferdinand den gewählten böhmischen König Friedrich abgelöst hat.

Zum Glück wird der geschichtliche Hintergrund erklärt, den ich hoffentlich korrekt wiedergebe:

Allgemein: Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren große Teile Europas verwüstet, außerdem litten die Mitteleuropäer im 17. und frühen 18. Jahrhundert unter Missernten, Hungersnöten und Seuchen. Die Kleine Eiszeit störte die Wachstumsperioden, die Säuglingssterblichkeit stieg auf zwei Drittel und alle zehn Jahre kehrte die Pest wieder (1720 brach sie hier zum letzten Mal aus). Die Menschen wurden fromm oder verbrecherisch und jagten Zauberer und Hexen.

Bayern: Am 25. Februar 1623 erhob der Habsburger Kaiser Ferdinand II. den bayerischen Herzog Maximilian I. (Katholik) im Regensburger Bischofshof zum Kurfürsten und übergab ihm Kurhut und Hermelinmantel. Die sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation durften den Kaiser wählen und die Münchner Wittelsbacher, sehr papsttreue Katholiken, waren glücklich.

Böhmen: Der Majestätsbrief von 1609 sicherte allen Untertanen freie Religionsausübung zu – einmalig im Reich. Die meisten Stände der böhmischen Länder waren protestantisch. König war aber der Katholik Ferdinand aus dem Hause Habsburg. 1616 setzten die Stände ihn ab und wählten Friedrich V. von der Pfalz.
1617 fiel Bayernherzog Maximilian mit den Truppen des Habsburgers und dem Heer der Katholischen Liga in Böhmen ein. 1620 siegten sie in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag. (Sie eroberten auch die Obere Pfalz, da lebten vor allem Lutheraner, regiert von calvinistischen Kurfürsten, die die Pfalz reformiert wollten.) Am Tag danach floh Friedrich von der Pfalz und wurde fortan, weil er nur so kurz regiert hatte, „Winterkönig“ genannt. (Immerhin, er und seine Frau flohen nach Holland und führten ein „glanzvolles Hofleben“.) Kaiser Ferdinand wurde an Friedrichs Stelle König.

1621 richteten die Sieger 27 führende Aufständische in Prag öffentlich hin und enteigneten die Aufständischen. Viele Nicht-Katholiken und Unterstützer des Ständestaates mussten das Land verlassen und verteilten sich auf das protestantische Europa. Aber ab 1642 (Böhmen) bzw. 1628 (Oberpfalz) mussten Nichtkatholiken aufgrund Fürstlicher Mandate konvertieren oder auswandern.

Die Obrigkeit beauftragten neue Orden aus Südeuropa mit der Verbreitung des Katholizismus: Jesuiten leiteten Universitäten und Gymnasien; Kapuziner und Unbeschuhte Karmeliter kümmerten sich um die kleinen Leute. „Alle Orden setzten auf die Wirkung von Bildern, Wallfahrten, sinnlicher Glaubensvermittlung. Ein großer neuer Markt für sakrale Kunstwerke entsteht.“ Die Ausstellung zeigt viele solcher Kunstwerke, manche finde ich kitschig und schwer erträglich. Aber es geht nicht nur um Kunst, sondern auch um Wallfahrten - und Logistik. So zeigt eine Ausstellungstafel Jesuitenniederlassungen in Bayern und Böhmen, und ein alter Kupferstich die jeweiligen Entfernungen – eine Gehstundentabelle, heute kaum noch vorstellbar. Auf einem Gemälde unterrichten Jesuiten die Landjugend. Auf einem weiteren umarmt Jesus vom Kreuz herab Bernhard von Clairvaux. Und eine Memento-Mori-Darstellung zeigt Mary Poyntz von den „Englischen Fräulein“, rechte Gesichtshälfte als Schädel, linke lebendig.

1627 erließ König Ferdinand die „Verneuerte Landesordnung“: Die Länder der böhmischen Krone wurden Teil des habsburgischen Erbkönigreiches und „damit siegt in Mitteleuropa der fürstliche Absolutismus über die Idee einer Ständerepublik.“ – Noch so ein Satz, der den Besucher auf die böhmische Seite zieht.

Bayern und Böhmen ging es im Krieg besonders schlecht. Aber: „Inmitten von Krieg und Zerstörung beginnt ein neuer Kunststil seinen epochalen Siegeszug“: Der Barock. In Bayern ebenso wie in Böhmen, in beiden Ländern herrschte Bauboom, er begann, nachdem der Dreißigjährige Krieg im Jahr 1648 durch den Westfälischen Frieden beendet wurde und blühte vor allem ab 1680. Es entstanden zahlreiche Handelswege zwischen Bayern und Böhmen.

Der neue Stil war dramatisch und bewegt. Adlige bauten für ihren Ruhm, Äbte für den Ruhm Gottes; im 17. Jahrhundert kamen die Bauunternehmer vor allem aus Oberitalien, später dann „hiesige Meister“, viele arbeiteten grenzüberschreitend. Die Architektur wurden nach strengem Regelwerk errichtet, aber üppig ausgestattet und dekoriert. Kunst und Natur sollten sich zum Ruhm Gottes verbinden, die Natur wurde gestaltet, es entstanden geistliche Landschaften mit Kreuzwegen, marianische Gnadenorte für Wallfahrten und Schlossgärten etc., auch Bibliotheken, die die ganze Breite der Schöpfung Gottes abbilden  sollten.

Überraschend: Im Jahr 1626 erlaubte der Kaiser der protestantischen Reichsstadt Regensburg, eine geräumige evangelische Kirche, die Dreieinigkeitskirche, zu bauen. (Für die Glaubensflüchtlinge aus Österreich und der Oberpfalz.) Und: Viele Musikinstrumente aus der Barockzeit werden auch heute noch gespielt, zum Beispiel Gitarren oder Flöten. Nicht aber der Serpent – ein schlangenförmiges Instrument für laute tiefe Töne. Beeindruckend, sieht man heutzutage höchstens im Museum. Würde ich gern mal in einem Konzert hören!

Auch interessant: Eine Hofkapelle, deren Mitglieder eine einheitliche Livree trugen (gtehörte zum standesgemäßen Lebensstil eine barocken Fürsten), die Rolle von Hoflehrern und Tanzmeistern – und für die Damen Korsett und ein Retikül (kleine Damenhandtasche) mit Riechsalz. Ferner Fächer, Flohfallen (Wasser galt als ungesund) und Schuhe mit Absätzen, die, so die Ausstellungsmacher, eine erhabene stolze Haltung förderten – meiner Erfahrung nach muss man sich damit allerdings um eine solche Haltung besonders bemühen, denn die natürliche Reaktion auf hohe Absätze ist ein Entenpo. Ich vermute eher, dass gerade die Tatsache, dass hohe Absätze so schwierig zu tragen sind, der Distinktion von den „niederen“ Ständen dienten.

Viele scheints nebensächliche Erkenntnisse: „Ohne Bier kein Barock“: Brauereien waren eine sehr wichtige Einnahmequelle. Und der „Fichtenvorstoß“: Die Kleine Eiszeit begünstigte das Wachstum von Fichten im Gegensatz zu den besser an trockene und wärmere Witterung angepasste Tannen.

Die Ausstellung ist auch sehr kinderfreundlich: Schön die vielen Erklärungen für Kinder auf ovalen Tafeln, „Schau hin!“, sie weisen auf viele Einzelheiten hin, die man als Erwachsener leicht übersehen kann.

Der Besuch lohnt sich!


Kunst in München: Der Blaue Reiter im Lenbachhaus

Das Münchner Lenbachhaus zeigt noch bis zum 8. Januar 2024 die Ausstellung „Der Blaue Reiter“. Die Ausstellung ist im Projekt „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter und Kollektive der Moderne“ entstanden, entsprechend geht es besonders um die Beziehungen der Mitglieder untereinander, zur Ursprungsgruppe Neue Künstlervereinigung München (NKVM) und zu nichteuropäischer Kunst.

Der Blaue Reiter entstand als Protest gegen und Abspaltung aus der NKVM: Ende 1911 verließen Kandinsky, Marc und Münter die Vereinigung und richteten eine Gegenausstellung zu deren Ausstellung aus. Sie gaben einen Almanach mit dem Titel „Der Blaue Reiter“ heraus und dieses „programmatische Jahrbuch etablierte den Blauen Reiter als Künstler*innenkreis, der sich als Teil eines weltweiten, epochen- und gattungsüberschreitenden Kunstschaffens verstand“, schreiben die Ausstellungsmacher auf der Museumshomepage.

„Weltweit“ ist dabei ein Stichwort, das sich durch die gesamte Ausstellung zieht. So geht es etwa um das Verhältnis der Künstler zum europäischen Kolonialismus; ein Thema, dem man derzeit überall begegnet, ungeheuer wichtig, natürlich, aber ich bin nicht sicher, ob es in dieser Ausstellung nicht zu „unhistorisch“ behandelt wird: „Gefangen in der Mentalität des Hochimperialismus vor dem Ersten Weltkrieg, gelang es auch seinen Mitgliedern nicht, eine emanzipatorische Auffassung von Kunstproduktion jenseits des europäischen Horizonts umzusetzen.“ So die Homepage. Und eine Tafel in der Ausstellung: „Ihre Vision der im Almanach formulierten Gleichberechtigung der Kunst aller Völker und Zeiten war wegweisend, zugleich war ihr Blick jedoch besonders in der Bildauswahl gefangen in der Zeit der kolonialen Weltordnung vor dem Ersten Weltkrieg und deren Wahrnehmung von Kunstwerken aus globalen Kontexten.“

In der Tat, mit ihrer Sprache haben die Künstler gezeigt, dass sie ihre, also die europäische Kunst, als am höchsten entwickelt und damit als am höchsten stehend betrachteten. Dennoch bemühten sie sich um die Rezeption nichteuropäischer Einflüsse. Mit Wörtern wie „gefangen“ spricht man ihnen jedoch genau das ab, mehr noch, jede Möglichkeit der eigenen Weiterentwicklung; man stellt sie als passiv dar. Dabei schrieben sie immerhin Sätze wie: „Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit.“ (Kandinsky und Marc im damals unveröffentlichten Vorwort zum Almanach.) Die Ausstellungsmacher vernachlässigen die historische Einordnung gegenüber der Bewertung.

Künstler wie Kandinsky und Münter sammelten Kinderbilder, weil sie diese einfach und natürlich fanden. Man stellte sich eine anthropologische Entwicklungslinie vor, mit dem Frühstadium Kindheit, dann Volkskunst, afrikanische Plastik etc und der Spitze die europäische Kunst. Das wird in der Ausstellung kritisiert, zu Recht, wie auch ich finde, aber mir fehlen Erklärungen und Argumente auf den Tafeln. So, wie es da steht, wirken manche Texte auf mich wie eine politisch korrekte Phrasendrescherei. In der Musik zB ist es so, dass in Europa die Melodie das Entscheidende ist, und afrikanische Musik kann so betrachtet „primitiv“ wirken – aber nur, wenn man nicht weiß, dass es bei dieser um Rhythmen geht: Wer dies versteht, kann sie kaum mehr für primitiv halten. – Und versteht gleichzeitig nicht nur die Musik besser, sondern auch den eigenen Irrtum. Solche Erklärungen hätte ich mir gewünscht.

Andererseits: Diese überstarke Wertung der Münchner werte ich wiederum in diesem Blog auch überstark. So wie mir, die ich mich gerade von allen und Ecken erzogen und bevormundet fühle (was mich ganz extrem nervt), geht es den Ausstellungsmachern vielleicht auch – in der anderen Richtung, dass sie in vielen Museumsbeständen (oder anderswo) auf schlecht verhohlene kolonialistische Arroganz stoßen. (Dass sie einer allgemeinen Diskussion folgen und bloß politisch korrekt sein wollen, kann natürlich ebenfalls sein, muss aber nicht.)

Zum Abschluss aber ein Lob: Im Kapitel „Exotismus“ haben die Ausstellungsmacher die historische Betrachtung gut hinbekommen. Dort geht es um Zivilisationskritik, verbreitet um 1900. Besonders interessantes Beispiel ist die Stilisierung der Tierwelt als Gegensatz zum Zivilisatorischen – Marc suchte dabei Reinheit und Ursprünglichkeit in der Natur, Macke betrachtete Zoobesucher in ihrer illusorischen Flucht in andere Wirklichkeiten.

Und noch ein (halbes) Lob: Alle Ausstellungstexte gibt es doppelt, den Texten im üblichen „Museumssprech“ sind Texte in einfacher Sprache vorangestellt. Die sind kürzer, enthalten natürlich weniger Informationen, aber wirken aufrichtig und korrekt und damit respektvoll – im DHM dagegen hatte ich einmal eine Ausstellung besucht, in der ich die Texte in einfacher Sprache aufgrund der Auswahl der Informationen als manipulativ empfand (s.u.). Allerdings hätte man „Almanach“ erklären sollen, finde ich. Und dass der Genderstern einen Text einfacher zu lesen macht, bezweifle ich.

Im Großen und Ganzen jedoch eine gelungene Ausstellung, die viele Denkanstöße gibt. Und großartige Kunstwerke zeigt.


August 2023


Neue Krimis


Anita Augustin, Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier. Elisabeth, 12 Jahre alt, ist verschwunden. Ihre Mutter, Apothekerin, alleinerziehend, fasst einen Plan. Der zweite Krimi, den ich innerhalb kurzer Zeit lese, in dem es - auch - um Pädophilie geht und in dem - auch - aus der Sicht eines (potentiellen?) Täters erzählt wird. Während bei Jan Costin Wagner der Täter der Protagonist ist, geht es bei Anita Augustin um die Mutter des verschwundenen Mädchen. Diese bricht für ihre Tochter fast alle Tabus, unterwirft ihr ganzes Leben diesem Ziel - bis sie letztlich sich doch fürs Weiterleben, ein neues Leben entscheidet. Ganz am Schluss weiß der Leser mehr als sie.

Die Autorin bürstet das Genre "verschwundenes Kind, verzweifelte Mutter" gegen den Strich, aber wie! Man fühlt mit den Menschen mit, mit der Mutter, mit den anderen, man fragt sich, was moralisch vertretbar ist, man rätselt bis zum Schluss, was geschehen war. Und dazu kommen noch ein sehr schräger Humor und eine gelegentlich verschobene Metaebene (Anleitung zum Daten 196 ff., Anleitung zum Bücherschreiben 203 ff.).

Toll.

Jürgen Seidler, Schmutziges Licht. Viktoria Ebuk, 13 Jahre alt, verschwindet. Ihr Vater Peter war ein hoher Polizist in Uganda, hatte zu viel aufgedeckt und musste fliehen. Die beiden sind in Brandenburg gelandet und nun ist Viktoria fort: Hat der Geheimdienst aus Uganda sie entführt? Sie schien frisch verliebt - hat der Junge etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Peter Ebuk lernt Jana kennen, eine Wissenschaftlerin, deren Bruder Polizist war, vor fünf Jahrenm spurlos verschwand und nie wieder auftauchte. Gibt es einen Zusammenhang damit? Jürgen Seidler schreibt aus unterschiedlichen Perspektiven - des Vaters einer verschwundenen Tochter, des entführten Mädchens, der Wissenschaftlerin, des Entführers. So entfaltet er hinter der Geschichte um eine Entführung zwei weitere Geschichten: Die eine um Integration in Deutschland aus Sicht zweier Afrikaner, die andere um rechtsextremistische sektenhafte Völkische Siedler, die der real existierenden Anastasia Sekte, die in Brandenburg in der Tat verbreitet ist, ähnelt.

Eine Konstruktion, bei der viele Fallen warten, aber Seidler fällt in keine hinein: Weder schreibt er einen gefühlsduseligen Vater-Tochter-Schmarrn, noch eine billige Story um einen guten Afrikaner im bösen Brandenburg, obwohl der Afrikaner in der Tat gut ist. Stattdessen durchaus realistische Einblicke in die Schwierigkeiten, plötzlich die Mimik und Körpersprache einer bis dahin fremden Ethnie und Kultur lesen zu müssen. Von Anfang an bewundert man Ebuks taktische Finesse, ja Schläue, wenn er sich etwa bei einem Fußballspiel integriert, indem er nicht gar zu gut spielt. Man fühlt mit ihm, wenn er zur Polizei geht und dort zunächst abgewimmelt wird. Man ist froh, wenn Jana, die Wissenschaftlerin, ihm beisteht. - Zu guter Letzt vermeidet Ebuk auch hier ein wünschenswertes Ende, welches wohl zu billig wäre. Abgesehen davon, dass Seidler alle Fallen gschickt umkurvt hat: Er hat einfach einen spannenden Krimi geschrieben.

Sehr gut.

Marcel Huwyler, Das goldene Taschenmusser. Und ders., Der lila Seeteufel. "Das goldene Taschenmesser" ist der erste Band einer Reihe um Eliza Roth-Schild und erschien im vergangenen Jahr, "Der lila Seeteufel" folgte in diesem Jahr. Eliza geborene Schild, verheiratete Roth, ist unversehens zur Witwe geworden. Nicht nur das: Während sie bis dahin gut, also richtig gut gelebt hat, stellt sich bald heraus, dass ihr Gatte nicht nur tot ist, sondern auch bankrott war. Die Witwe braucht Geld, und das schnell. Und da stellt sich heraus, dass ihr Mann ein goldenes Taschenmesser besessen hat, hinter dem gleich mehrere Menschen her sind: Es soll sich nämlich einst an Bord der Titanic befunden haben, und fürt solche Gegenstände gibt es Sammler. Außerdem bietet man ihr einen schrägen Job an: Sie soll für einen, tja, "Impresario aus der Hochfinanz" einen Konkurrenten aushorchen. Da ist es doch wirklich hilfreich, dass sie Stewardess war, bevor sie Lebedame wurde. Diese Wirtschaftsspionage mit Stil liegt ihr ganz offensichtlich - sie hat schließlich gelernt, sich unter den Reichen und Mächtigen zu bewegen. Diese Kenntnisse - zum Beispiel: wie man sich auf Yachten undsoweiter bewegt - braucht sie auch in "Der lila Seeteufel", als Kuno Schenk, Sanitär-Unternehmer, sie damit beauftragt, den Verlobten seiner Tochter zu durchleuchten.

Mit Eliza Roth-Schild hat Marcel Huwyler eine Wohlfühl-Ermittlerin erschaffen. Ohne übergroßen literarischen Ehrgeiz, aber gut geschrieben und eine wundervolle Sofa-Lektüre. Ich hatte meinen Spaß, ihr dabei zuzuschauen, wie sie den Schicksalsschlag meistert (erstaunlich gut, aber so eng war das Paar ohnehin nicht mehr) und mit einiger Chuzpe ein neues Leben aufbaut. Und was für eines! Und sie schafft es sogar, in Second Hand richtig gut auszusehen! Die Tochter im lila Seeteufel ist eher ein Töchterlein, der Vater hat sie offensichtlich schon vorher überbehütet, das Ergebnis ist eine leider etwas dämliche Kuh. Das ist schade, mir hätte eine junge Frau besser gefallen, die der Welt eins auswischt: Die Tochter ist so, wie sie ist, nicht recht glaubwürdig. Störend ist in beiden Bänden auch Kleinkram, wie der Hamburger sagt: "unaussprechlich" kann man nicht steigern (Taschenmesser: 39), den Stoff "Tweed" schreibt man mit "d" am Ende (ebd: 40, sonst aber richtig geschrieben), "Rohstoff" hat im Dativ ein "n" am Ende (ebd. 61). Zum Joggen hat sie sich ihr Haar vermutlich zu einem Pferdeschwanz gebunden und nicht zu einem Pony (Seeteufel: 6) und Jesus ist nicht schon "über" 2.000 Jahre tot (ebd. 104), sondern "fast" oder "knapp" - er wurde nach aktuellen Vermutungen zwischen 30 und 36 AD gekreuzigt, dann ist er im Jahr 2023 seit etwa 1.993 bis 1.987 Jahren tot, und bestaussehend ist schon der Superlativ, bestaussehendst ist falsch (ebd. 104). Naja, wie gesagt: Kleinkram. Sollte man aber schon drauf achten! Insgesamt eine nette Wochenendlektüre.

Gut.

Stephan Pörtner, Der Campingplatzkiller. Henry Kummer ist Rentner. Vorher war er bei der Polizei gewesen. Aber nicht als Überflieger, er war kein Kripomann, der komplizierte Mordfälle gelöst hat und nun die Rache der Mörder zu befürchten hat. Sondern er hatte an der Pforte gesessen. Und nun sitzt er in einem Campingwagen, hat wenig Geld und - eine andere Camperin wird in ihrem Wohnwagen tot aufgefunden. Kummer lässt eine Kleinigkeit mitgehen, will den Fall aufklären, und dann geschieht der nächste Mord.

Das Buch ist untertitelt mit "Der erste Fall für Henry Kummer", und ein Ex-Polizist, der eben KEIN Star ist bzw. war: eine originelle Idee für eine Krimireihe. Kummer ist ein bisschen dusselig (36, 102, 121), aber er will immer das beste. Er hat Sorgen, aber nicht nur - keiner der vielen daueralkoholisierten Ermittler, zum Glück, dafür einer von denen, die gern Musik hören (78). Mal lernt die Schweiz von ihrer nicht-reichen Seite kennen, die normalerweise verborgen bleibt. Der Autor steht auf der Seite der Frauen, aber seine Überlegungen sind ein wenig banal (10, 105). Manche Menschen bleiben ein wenig blass (92, 94). Nicht besonders aufregend (ich las bis S. 126), sondern ein Wohlfühlkrimi für heiße Sommertage. Nicht schlecht.

Geht so.

Max Ziegler, Sylter Sandflut. Sylter Sandflut ist der zweite Fall für Ed Koch. Hinnerk Hinnerksen vom Sylter Tagblatt zeigt an, dass ein Kollege aus Flensburg verschwunden ist. Der hatte über Sandvorspülungen auf Sylt recherchiert. Koch nimmt das erstmal nicht ganz ernst, aber dann wird im Haus des Vermissten eingebrochen, seine Großmutter schwer verletzt und sein Laptop ist verschwunden. Koch gerät unter Druck. Wegen des Falls - aber auch, weil seine Tochter bei ihm eingezogen ist und seine Ex-Frau nervt.

Die Geschichte ist eigentlich nicht schlecht, aber wie der Autor sie aufschreibt, nervt. "Doch Ed wusste aus seiner beruflichen Erfahrung, dass die Erlebnisse in Lasse gleichwohl weiterarbeiteten, auch wenn er sich kaum etwas anmerken ließ. Die Wunden, die der Verlust gerissen hatte, schmerzten gewiss entsetzlich." (9) Lasse ist Eds Sohn, und wenn der Vater nur aus seiner beruflichen Erfahrung weiß, dass der Sohn leidet, muss er ein ziemlicher Idiot sein. Ed läuft "mit erhöhtem Tempo an ihm vorbei" (14) - warum "überholt" er nicht einfach? "´Natürlich auch nicht`, hauchte Hinnerk schluchzend." Auf S. 156 abgebrochen.

Nicht gut.

Philipp Gurt, Bündner Sturm. Giulia de Medici, Alpinpolizistin und Chefermittlerin der Kantonspolizei Graubünden, wird auf den Roseggergletscher gerufen. Der hat nach langer Zeit eine Leiche freigegeben: eine junge Frau in einem roten Kleid. De Medici wundert sich, weil ihre Vorgesetzten zur Eile treiben und dabei ungewöhnlich geheimnisvoll tun. Dann entdeckt sie auch noch eine zweite Leiche: Die Wartin einer nahen Hütte.

Autor Philipp Gurt hat sicher eine Reihe berechtigter Fans, und der Krimi ist auch hinreichend spannend. Aber mich nervt der Stil so, dass ich auf S. 103 abgebrochen habe. Das fängt an bei Ungenauigkeiten: "Ein schlechter Scherz des Anrufers? Wäre ja nicht der erste." (15) - Der erste schlechte Scherz? Besser: "Wäre ja nicht das erste Mal." Oder: Warme blaue Augen (18) - Blau ist aber eine kalte Farbe. Im Nebenstrang, der Geschichte von Jerome, reiten die Männer Hengste. Ich würde da eher Wallache erwarten, vor allem, da es mehrere Hengste in der Herde zu geben scheint: Würden die nicht kämpfen? Und dann, immer wieder, der Stil - die vielen Adjektive sind Effekthascherei. ZB hat der Hengst ein majestätisches Haupt, das er auf- und abwirft (61).

Nicht gut.


Neues Buch (ausnahmsweise kein Krimi)

Jami Attenberg, Bis hierher war´s ein weiter  Weg. Mein ach so grandioses Leben als Autorin. Jami Attenberg ist Autorin zahlreicher Essays und Erzählungen und Romane, von denen inzwischen sechs auf Deutsch erschienen sind. Wobei dieses Buch in ihrem deutschen Verlag Schöffling & Co. zwar als Roman läuft, aber eigentlich ein Memoir ist. (So liest es sich jedenfalls.) Memoirs sind autobiografische Berichte (aber wenn "Memoir" vorn drauf steht, verkauft es sich wohl nicht so gut). Sie berichten im Gegensatz zu Memoiren nicht ein ganzes Leben, sondern konzentrieren sich auf einen bestimmten Aspekt. Bei diesem Buch ist es das Schreiben und das Autorinwerden und -sein. Attenberg wollte immer schreiben, sie hat an der Johns Hopkins University Schreiben studiert, dann hat sie kleinere Texte geschrieben, aber eigentlich ging es ihr immer um Bücher, den Gold-Standard unter Schreibern. Attenberg hat es geschafft, aber sie hat viel Kraft gebraucht. Sie fand und verlor Agenten, Verlage, Ideen und Manuskripte, war krank und hatte einen Unfall und verstand den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamsein, zog unzählige Male um und hielt sich 20 Jahre lang mit Brotjobs über Wasser. Brotjobs sind bei Künstlern nicht selten: Es sind die Jobs, mit denen sie ihr Brot verdienen, um Kunst machen zu können.

Attenbergs Buch handelt vom Schreiben, davon, wie sie Autorin wurde. Und wie jedes gute Buch handelt es noch von anderem: In tieferem Sinne handelt davon, wie man seinen wirklich wichtigen Wünschen folgt und dafür enorme Opfer bringt, weil man es einfach tun MUSS. Und neben dem Schreiben handelt es auch von Freudschaft (erstaunlich, bei wie vielen Menschen sie kürzer oder auch länger auf dem Sofa schlafen darf), von Männergewalt gegen Frauen (nicht nur physisch, sondern auch im übertragenen Sinn psychisch und beruflich), und davon, wie die Herkunft das Leben prägt (ihr Vater war Handlungsreisender und das scheint sie für ihre Lesereisen vorbereitet zu haben). Und mehr. Attenberg beschreibt sich und ihre Umwelt mit Selbstironie und feinem Witz, etwa als sie von den Kleidern für eine Lesereise erzählt: Die Leute "sollen denken, dass ich Stil habe. Und dass ich ein guter Mensch bin, oder zumindest okay. Schau, die nette Frau da oben in dem hübschen Kleid. Kaufen wir ihr ein Buch ab." (109) Sie reflektiert ihre Reisen und ihren Tourismus, ihren Wohnort in New York, der hip und unbezahlbar wurde, auch weil Menschen wie sie darüber schrieben.  Und als ihre Bücher erschienen, ging sie auf Lesereisen, flog hier- und dahin und führte ein so hektisches Leben, das hätte kaum jemand durchgehalten. Sie brauchte erst Tabletten und dann einen radikalen Schnitt. Und jetzt, glaubt (und hofft) man, ist sie eine Autorin, der es gut geht. Von der wir noch viele Bücher lesen wollen.


Kultur in München

Ein Glaskasten voller Reisepässe. Eine Million Reisepässe. Eine Million Möglichkeiten. Wer die Pinakothek der Moderne betritt, sieht in der Rotunde die Installation "One Million German Passports" von Alfredo Jaar.  Die Pässe sehen echt aus, sind es aber nicht, weiß die Süddeutsche. Eine Million, das „ist die Zahl der Menschen, die die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 in Deutschland willkommen hieß. Es ist aber auch die Zahl der Menschen, die sich später von ihr und ihrer Partei (CDU) distanzierten und 2017 die rechtsextreme Partei Afd [sic!] wählten“, steht auf der Website. Wenn ich die schiere Menge der Pässe betrachtet, stelle ich mir die Frage, wie viele Menschen damit vor Hunger und Krieg gerettet werden könnten, aber auch, ob das möglich wäre, und welche die Folgen wären. Ich weiß es nicht. Noch bis zum 27. August.

Leichter verdaulich ist die Ausstellung Das Fahrrad. Kultobjekt. Designobjekt. Wohl niemand kann etwas gegen dieses Fortbewegungsmittel haben, das die Gesundheit fördert (sofern man keinen Unfall hat) und gut für die Umwelt ist. Unglaublich viele Fahrräder werden gezeigt, tolle Studien von italienischen Designern wie Luigi Colani, aber, hey, ich habe wohl einen hoffnungslos altmodischen Geschmack: Meine Lieblingsräder waren ein Bambusfahrrad von 1989 aus Österreich (Design: Franz Grundner). Und ein Klapprad mit Lederapplikationen (1981/3, Design: Nicola Trussardi), das vorher ein Militärfahrrad gewesen war – Schwerter zu Pflugscharen, hey, großartig! Noch bis zum 22. September 2024.

Und sonst: Tolle Plastiken, tolle Bilder, tolle Fotos (Mein Lieblingsfoto zeigt: Patti Smith).


Juli 2023


Kultur in Stuttgart

Noch bis zum 2. September läuft in der Raumgalerie im Stuttgarter Westen die Ausstellung AN ORT UND STELLE - SPUREN WÄNDE RÄUME des Fotografen Lutz Schelhorn. Zu den Arbeiten des Fotografen gehört etwa die "Chemie der Erinnerung", ein Gedenkprojekt an NS-Deportationen aus Stuttgart.

In der aktuellen Ausstellung hängen Arbeiten unter anderem aus dem alten Stuttgarter Hauptbahnhof und den Travertinhallen zwischen Bad Cannstatt und Münster. Schelhorn lässt sich auf Orte ein und zeigt die Spuren der Menschen, die gegangen sind. Man steht vor den Bildern und möchte gleichzeitig lachen und weinen, etwa wenn man ein Klavier sieht, das in einem Toilettenraum abgestellt wurde. Und man sieht, wie sich die Zeiten geändert haben, wenn die Telefonapparate bis auf einen aus den Zellen am Hauptbahnhof entfernt wurden und die Türen zu den Zellen weit offen stehen - selbst für Graffiti-Künstler ist die Szenerie schräge, erstaunlich wenig ist bemalt. Tolle Ausstellung, unbedingt hingehen!

PS: Die Raumgalerie befindet sich in der Ludwigstraße 73, im Vorderhaus. Hinten, in der Ludwigstraße 73A, trainierte ich in den 1990er Jahren Boxen bei Conny Mittermeier. Eine glückliche Zeitreise...


Neue Krimis

Sabine Schiffner, Nachtigallentage. Sigune lebt in einer unglücklichen Ehe mit Andreas und den zwei gemeinsamen kleinen Kindern am Stadtrand von Köln. Versehentlich ersticht sie ihren Mann. Sie versteckt seine Leiche. Dann lernt sie ausgerechnet den ermittelnden Polizisten besser kennen.

Schiffner schreibt aus Sigunes Sicht, man glaubt ihr, dann zweifelt man, ist hin- und hergerissen, bangt mit ihr, ist verzweifelt über ihre Trägheit und kann sie doch verstehen. Eigentlich ist das Buch kein Krimi, aber es wird jemand getötet und es wird ermittelt. Und ich habe das Buch nicht als Rezensionsexemplar erhalten, sondern privat geschenkt bekommen. Also gehört es eigentlich nicht in diesen Blog. Aber es gefällt mir so gut, dass ich es unbedingt empfehlen muss.

Toll.

Elsemarie Maletzke, Agathes dunkler Garten. Die alte Agathe wird mit anonymen Briefen erpresst und will fliehen. Sie kauft ein verwildertes Flussgrundstück mit einer ehemaligen Mühle, dort zieht sie ein und lernt kennen: einen ehemaligen Bauern, der als junger Mann versehentlich einen Menschen totgefahren hat und nun ihr Grundstück in Ordnung bringen will. Einen jungen Schornsteinfeger, der als Junge im Fluß bei der Mühle eine ermordete Frau entdeckt hat und nun dort eine Rohrdommel hört. Noch mehr Menschen. Aber weiterhin bekommt sie anonyme Briefe von jemand, der entsetzlich viel über sie weiß. Und der Schornsteinfeger findet im Garten eine neue Spur des alten Mordfalls.

Elsemarie Maletzke hat schon eine ganze Reihe Bücher geschrieben, aber für mich ist sie eine Neuentdeckung, und die lohnt sich! Die Personen, die dieses Buch bevölkern, sind eine skurriler als die andere, aber nie lächerlich. Sie haben Schicksalsschläge verursacht und erlitten, und Maletzke enthüllt nach und nach ihr Leben, ihre Taten und ihre Untaten. Der Krimi entführt uns in den dunklen Garten, aber auch nach Estland, und immer wieder passiert irgendetwas vollkommen Überraschendes. Auch der Stil gefällt mir sehr: "Das Beschweigen alte Schuld und frischen Leids hatte im Hause Finkenwirth Tradition und wurde über Generationen mit Hingabe gepflegt." (48)

Toll.

Jan Costin Wagner, Einer von den Guten. Einer von den Guten ist der Ben-Neven-Krimi Nummer 3. Im ersten Krimi widerstand Kriminalpolizist Ben Neven sich selbst, zwar nicht vor dem Computer, auf dem er Bilder nackter Jungen betrachtete, aber er widerstand sich in der Realität. Im zweiten schaffte er das nicht mehr und hatte Sex mit einem Jungen, der sich prostituierte. Der dritte beginnt mit den Worten: "Während der Kriminalpolizist Ben Neven nach Dortmund fährt, um Böses zu tun ..." Der Leser dieser Reihe wird Zeuge des langsamen Abstiegs eines Mannes, der in jedem Buch ein neues Tabu bricht. Wagner erzählt wieder aus unterschiedlichen Perspektiven, aus der von Ben Neven und, neu, aus der von seinem Opfer Adrian. Irgendwann hofft man, alles wird wieder gut.

Landmann, väterlicher Freund und Kollege im Ruhestand, schien mir im ersten Band noch überflüssig. Dann gewann er an Kontur. In diesem Band ist er eine zentrale Figur - und dann spürt man plötzlich einen Schlag ins Gesicht, weil man mit Ben Neven trotz allem irgendwie mitfühlt oder zumindest mitgefühlt hat, und nun wird einem dies Mitgefühl um die Ohren gehauen. Die Figur des Ben Neven wurde anfangs noch geleitet vom schlechten Gewissen gegenüber dem Bild, das er von sich selbst als Kriminalbeamter hat. Nie aber wurde sie geleitet vom schlechten Gewissen gegenüber seinem Opfer. Nun wird sie immer offensichtlicher geleitet von der Angst vor Entdeckung; er geht dabei bis zum Letzten, und gewinnt an Glaubwürdigkeit. Andere Figuren sind nicht ganz so stimmig: Vera ist zu weise, ihre Eltern sind, genauer: ihre Mutter ist zu liberal, um glaubwürdig zu sein, auch Adrian wirkt zu heil für das, was er erlebt hat (etwa bei den Überlegungen zu seiner Mutter, S. 171). Und Nevens Kollege Christian könnte sich zu einer Lichtgestalt entwickeln, von dem hätte ich gern mehr gelesen. "Selten haben wir über ein neues Buch verlagsintern so intensiv diskutiert wie über Jan Costin Wagners neuen Roman, dessen Hauptfigur sicher eine der kontroversesten literarischen Figuren ist, die man sich vorstellen kann." - Ein Glück, dass die Diskussion zur Veröffentlichung geführt hat!

Sehr gut, toll.

Franzpeter Messmer, Tanz auf der Brücke. Mehmet ist Pianist mit Tourette, Islamisten zerstören sein Klavier und er flieht nach Deutschland. Sein Freund Ahmet wird von Taliban vertrieben, auch er landet in Deutschland. Mehmet wird von einem berühmten Dirigenten protegiert, der aber auch eine Sängerin protegiert und dafür mit ihr ins Bett geht. Mehmet verliebt sich in eine Rechtsrockerin, die über ihren Vater in ein rechtsterroristisches Netzwerk verstrickt ist. Der Verfassungsschutz wirbt Mehmet an, Mehmet gibt ein Open Air Konzert - und entdeckt im Publikum Ahmet - mit einem Bombengürtel.

Das klingt etwas wirr, aber eines folgt dem anderen, die Verbindungen sind da. Franzpeter Messmer bringt es fertig, in den Mittelpunkt seine Buches einen Pianisten mit Tourette zu stellen, ohne dass es lächerlich wirkt. Man fühlt mit Mehmet, wenn der Vater findet, dass er lieber die traditionelle Musik spielen  sollte, man folgt ihm bei seiner Flucht, sorgt sich mit ihm um die zurückgebliebenen Eltern, denkt mit ihm nach über seine Schwester, die Bauchtänzerin ist und von einer Fatwa verfolgt wird, grübelt über den Freund Ahmet und weiß nicht recht, was man vom Verfassungsschutz zu halten hat. Messmer malt nicht schwarzweiß, die Menschen sind unterschiedlich, die Kulturen sind unterschiedlich. Die Flucht über das Meer war traumatisch, auch in Deutschland gibt es Mord und Totschlag, die bauchtanzende Schwester ist keine selbstlose Feministin. Und: Viele Autoren schreiben über etwas, was sie nicht richtig kennen. Messmer dagegen kennt sich gut mit Musik aus - und das merkt man dem Buch an. Wirklich gut.

Tina N. Martin, Apfelmädchen. Vidar Vendel kommt von der Arbeit nach Hause und sieht vor sich die Füße seiner Frau. Sie ist an einem Lampenhaken aufgehängt. Sie hatte keine Feinde, und niemand kann sich einen Selbstmord vorstellen. Eine junge Frau verschwindet. Ein Mädchen wird aus dem Kindergarten entführt. Kriminalkommissarin Idun Lind und ihr Partner Calle Brandt ermitteln: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Fällen? Dann geraten die Kommissare in höchste Gefahr. Parallel zu dieser Geschichte verfolgt man Ereignisse aus der Zeit ab Mitte der 1970er. Man ahnt Zusammenhänge, aber so richtig löst sich das Rätsel erst ganz am Schluss auf.

Tina N. Martin hat einen spannenden, klug konstruierten Thriller geschrieben. Es geht um religiösen Missbrauch und Rache, das ist schnell klar, aber was genau war und ist, das versteht man erst am Schluss. So weit, so gut. Stilistisch überzeugt das Buch nicht: Etwas plump manchmal die Erläuterung von Hintergrundwissen (59) oder auch die Darstellung von Sympathien der Ermittlerin (sichtlich teure Jeans, 61 empathielose Frau); auch die Ausdrucksweise nervt manchmal (flammender Blick, 167, Verächtlichkeit statt Verachtung, 191, ein Blick hart wie Stahl, 419). Ein Ermittler bewahrt Latexhandschuhe wohl kaum einfach so in der Hosentasche auf (415), und der Begriff "Sekte" ist zwar gebräuchlich, in der Wissenschaft aber höchst umstritten, wenn ein Wissenschaftler den benutzt (454), sollte das also zumindest problematisiert werden. Allerdings handelt es sich um ein Debut, da muss man nicht so streng sein.

Gut.

Karen Sander, Der Strand. Band 3: Vergessen. Der dritte und letzte Teil der Trilogie "Der Strand": Lilli Sternberg, 19 Jahre alt, gehörlos, ist weiterhin verschwunden.Wahrscheinlich ist sie tot. KHK Tom Engelhardt und LKA-Kryptologin Mascha Krieger suchen weiter; mit wechselnden Erfolgen. Aber sie finden heraus, dass genau dort, wo Blut von Lilli gefunden wurde, 20 Jahre vorher die Leiche ihrer Mutter entdeckt wurde. Damals wurde ein Mann verurteilt, der später seine Unschuld beteuert hat - inzwischen ist er gestorben.

Sander schreibt spannend, aber ein paarmal hakt es. So etwa widerrief der damalige Verdächtige sein Geständnis, als er im Knast saß. Aber das half ihm nichts. Es klingt so (289), als hätten die damaligen Ermittler in den Augen von Krieger und Engelhardt einen Fehler gemacht, als sie daraufhin den Fall nicht wieder aufrollten. Aber geschieht so etwas nicht häufig? Das hätte ich gern ausführlicher gelesen. Dayitas Artikel (296 ff) müsste bei den Ermittlern eigentlich wie eine Boombe einschlagen. Davon merkt man aber nichts. Und Fabienne ist wirklich extrem dämlich. Dennoch: ich habe die Trilogie gern gelesen, eine leichte Sommerlektüre, und bin gespannt auf weitere Fälle von Krieger und Engelhardt.

Ganz gut.

Gabriela Kasperski, Diesseits vom Jenseits. Diesseits vom Jenseits ist der erste Fall für Friedhofsgärtner Paul Blom. Eigentlich ist er ja Anwalt, getrennt lebend, verwaister Vater. Plötzlich meldet sich ein alter Kommilitone aus London und bittet ihn um Hilfe, es geht um eine Erbschaftsangelegenheit. Blom beginnt etwas widerwillig, zu diesem Fall auf dem Zürcher Friedhof Enzenbühl zu recherchieren. Als ihn der Friedhofsgärtner für den neuen Praktikanten hält, nutzt er die Gelegenheit und stürzt sich in die Recherche. Parallel dazu recherchiert die Historikerin und Podcasterin Ruby Kosa in einer Erbschaftsangelegenheit für eine Londoner Familie. Das führt sie in die Schweiz - und bald kommen Blom und Kosa einander gehörig ins Gehege.

Bloms Situation ist gleichzeitig traurig und komisch und Kosas Podcasts - und ihre Folgen - sind auch lustig. Ein originelles Umfeld, unterschiedliche Personen, eine hinreichend spannende Handlung: kurz: Ein netter Wohlfühlkrimi für heiße Sommertage.

Ganz gut.

Gabriella Wollenhaupt: Ein böses Haus. Alix David bekommt Besuch von der Polizei: Ihre Schwester wurde ermordet. Scheinbar von der zehnjährigen Nichte. Die hat ein Asperger-Syndrom und schweigt. Alix glaubt nicht, dass das Kind die Mutter getötet hat.

Alix David ist Lektorin schlechter Texte. Aber der Text dieses Krimis ist auch schlecht: Personen und Handlung sind unglaubwürdig, der Stil hat keine gute Qualität. Zum Beispiel die Protagonistin: Die hatte zwar schon lange mehr keinen Kontakt zu ihrer deutlich älteren Schwester, aber dass sie gleich in die Wohnung zieht, in der diese gerade erst ermordet wurde, wird nicht nachvollziehbar dargestellt. Dass der ermittelnde Polizist durch eine Bemerkung über verschiedenfarbige Socken so durcheinandergebracht wird, dass er stammelt und sich auf der Stelle rechtfertigt (S. 11), kann man auch nur schwer glauben. Und man "lächelt" keine Wörter, sondern spricht sie aus (S. 11). Ferner nerven Widersprüche: Das Messer wurde wieder aus dem Körper des Opfers herausgezogen, so ist die Frau innerlich verblutet (14), sie war ohnehin nicht mehr zu retten (15). Und so weiter. Ich brach auf S. 52 ab.

Nicht gut.


Juni 2023


Neue Krimis

Yasmin Sibai, Punked. In den 1990ern war Bey Bassistin in einer Avantgarde-Punkband. Nun ist sie Architektin und lebt mit Mann und Kind in Holland am Deich. Plötzlich bekommt sie eine Nachricht: Ihr Ex-Freund Iggy ist gestorben. Sie  fährt zur Beerdigung nach Berlin. Dort trifft sie ihre Gefährten von damals wieder und findet Datenträger, die sie vermuten lassen, dass Iggy ermordet wurde. Sie fängt an zu recherchieren, aber einige von den alten Gefährten bremsen sie aus.

Rasanter Roman. Man durchlebt mit Bey die Zeiten des Punk in Hannover und Berlin, die Zeiten von harten und weichen Drogen, von dreckigen Wohnungen und schmutzigen Kellerklubs; und die aktuellen Zeiten mit Hackern in ihren Verstecken. Man fiebert mit ihr um die Kinder und schwankt mit ihr, wenn es um die alten Ideale und die neuen Notwendigkeiten geht. Und zwischendrin die abgedrehten Ideen, die ganz real wirken: Hätte es eine Punkband wie "Bodenkontrolle" nicht wirklich geben können, vielleicht sogar müssen? Und was ist mit dem Empire Backer? Sibais Ideen sind wirklich genial - übrigens auch, was die Durchführung und Verschleierung der kriminellen Handlungen betrifft. Und über das Bogotá habe ich mal geschrieben - und nun in einem Buch von dem Hotel zu lesen, machte mir besonderen Spaß.

Toll.

Michaela Kastel, Unsterblich. Sonja Raich ist bei ihrem Großvater im Wald aufgewachsen. Sie ist Tierpräparatorin: Früher hätte man gesagt, sie stopft tote Tiere aus. Ihre Kundschaft ist sehr gemischt. Einige wollen ganz normale Tiere und zahlen ein normales Honorar, einige wenige wollen, sagen wir, ungewöhnliche Wesen und zahlen ungewöhnlich hohe Honorare. Raich lebt sehr einsam, die Menschen im nahegelegenen Dorf scheinen sie zu verabscheuen. Dann zieht ein junger Tierarzt mit seiner kleinen Tochter ins Dorf. Die beiden verlieben sich ineinander. Sonja lernt soziales Verhalten und entwickelt gegenüber dem kleinen Mädchen mütterliche Gefühle. Dann bekommt sie aber zwei Aufträge, die nicht nur ungewöhnlich sind, sondern sogar kriminell, mit denen sie aber ihre ererbten Schulden abbezahlen könnte und endlich Ruhe hätte.

Kastel hat mit einer sehr originellen Idee - wer käme schon auf eine Tierpräparatorin - einen spannenden Thriller geschrieben. Man staunt über den Beruf anhand der interessanten Beschreibungen (ich jedenfalls hatte keine Ahnung) und fühlt sich dem jungen Tierarzt gegenüber genau so ambivalent wie die junge Frau. Man versteht, jedenfalls so einigermaßen, warum sie so einsam lebt und greift sich an den Kopf, wenn sie ein paar haarsträubende Fehler im Umgang mit gewissen Mitmenschen begeht. Ein paarmal ist die Handlung etwas unglaubwürdig (zu viel Einsamkeit, was ist mit der Schulpflicht, warum schweigt sie Jonathan gegenüber so lange), dennoch: solides Thriller-Handwerk, originelles Setting, und gerade am Schluss noch ein paar äußerst überraschende Wendungen.

Sehr gut bis gut.

Kim Koplin, Die Guten und die Toten. Berlin. Im Kofferraum eines Staatssekretärs unter Kokain findet die Polizei eine Leiche. Der Staatssekretär zeigt sich überrascht. Die junge Kriminalkommissarin Nihal Khigarian ermittelt und stößt dabei auch auf den Parkhauswächter Saad. Die beiden mögen sich. Aber es gibt auch Nihals kriminellen Bruder, Waffenhändler, Saudis mit Interesse an Waffen, Drogen - und Saads Vergangenheit.

Interessante Gemengelage. Dazu eine junge Ermittlerin und ein rotziger Ton. Das ist im Trend - gefällt mir auch - und im vergangenen Jahr hat Sibylle Ruge für so eine Konstellation einen Stuttgarter Krimipreis verdient und erhalten. Und der Titel lehnt sich an das Antikriegsbuch "Die Nackten und die Toten" an. Aber Koplins Krimi fällt gegenüber solchen Vorläufern ab: Der Grund für Khigarians Zwangsurlaub - wirklich ausreichend? Und wieso durfte sie vorher mit, den Waffendieb zu verhaften? Warum flüchtet Saad einmal ganz schnell nach Hamburg, ein zweites Mal bei derselben Gefährdungslage aber nicht? Die Boxszenen (boxende Frauen begeistern mich natürlich, aber um übers Boxen zu schreiben, muss man vorher gründlicher recherchieren) passen nicht. Warum Schwimmen schulterschonender als Seilspringen sein soll, erschließt sich mir nicht, vor allem im Ganzkörperschwimmanzug: Schließlich üben die Ärmel Druck auf die Schultern aus. Und wie wahrscheinlich ist der Schluss? Trotzdem unterhaltsam. Etwa die Dialoge (zB 223ff). Die Zusammenhänge auch. Spannend.

Gut.

Christine Neumeyer, Der Kuss des Kaisers. Wien, Herbst 1908. Gustav Klimt ist schon ein großer Star und sein neues Gemälde "Der Kuss" soll im Schloss Belvedere gezeigt werden. Dann aber werden in den Brunnen um das Schloss Leichenteile gefunden. Aber der Kopf der Leiche bleibt verschwunden. Die Kriminalbeamten Pospischil und Frisch suchen also den Kopf des Opfers, den Täter und das Motiv. Zugang zum Park mit den Brunnen haben der Amtssekretär Josef Krzizrek und die Angestellte Erna Kührer, die sich Hoffnungen auf eine höhere Stellung macht. Dann aber wird ihre 12jährige Tochter übelst misshandelt und eine zweite Leiche taucht auf.

Das historische Wien mit Hofstaat, Beamtenküngel, rechtlosen Angestellten und unantastbaren Adeligen bietet genug Stoff und Atmosphäre für viele Krimis. Die eigentliche Hauptfigur ist allerdings Erna Kührer, die alles tut, um ihre Familie durchzubringen und ihre Tochter zu schützen.Neumeyer lässt die Leute im Wiener Dialekt sprechen, aber abgeschwächt, auch der Nicht-Wiener versteht alles. Trotzdem ist das Buch nicht wirklich originell, und vieles ist unglaubwürdig: die Ahnungslosigkeit der Mutter (S.37); der "Duft der Jungfrau" ist ja nicht real, der Zuhälter hätte das Mädchen weiter aus Jungfrau anbieten können; und kann eigentlich ein nicht abgerichteter Hund eine Spur verfolgen? Außerdem ist auf der Presseinformation der Name der Autorin falsch geschrieben.

Geht so.

Frederic Hecker, Morddurst. Ein Serienkiller flüchtet aus dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Kriminalhauptkommissar Joachim Fuchs und Fallanalystin Lara Schuhmann jagen ihn, können aber nicht verhindern, dass er wieder mordet.

Eigentlich nicht schlecht. Aber ich habe das Buch bloß bis zu Seite 161 gelesen (es hat 618), denn erstens ist es die soundsovielte Geschichte über einen Serienmörder und gefährdete Frauen, was mich einfach nicht mehr interessiert. Und zweitens ahnte ich zumindest bis zur Seite 161 sehr oft vorher, was als nächstes passieren würde. Ein "normaler" Thriller halt.

Geht so.


Mai 2023


Neue Krimis


Siebo Woydt, Unter dem Wald, neben dem Wasser der Tod. Talvi Caster, Juristin und Polizistin, wurde bei einem Einsatz schwer verletzt und entstellt. Lange lebte sie zurückgezogen, nun will sie neu anfangen, und zwar bei der Kripo Greifswald. Dort wird der Chefposten frei und sie könnte sich bewerben. Dann werden auf einem Fischerfest drei Schädel gefunden, übel zugerichtet, jeder mit einem Personalausweis zwischen den Zähnen. Caster ermittelt, aber ihre Ermittlungen werden sabotiert, außerdem scheint irgendjemand sie zu verfolgen.

Siebo Woydt entwickelt in einer harten, bösen, lakonischen Sprache einen Krimi um drei Totenschädel. Fast alle Ermittler um Talvi Caster suchen verzweifelt nach einem Zusammenhang, einer Verbindung zwischen den Ermordeten. Aber die Ermittlungen werden sabotiert, genauer: Casters Arbeit. Kommt das von einem internen Konkurrenten, oder muss sie eine Spur aus der Vergangenheit verfolgen? Man folgt Caster, fühlt mir ihr und - vor allem - leidet mit ihr. Tolle Sprache, tolle Handlung, böses Ende. Eigentlich gar kein politischer Krimi, aber die zweite Ebene, das Mobbing gegen Caster, ist eben doch politisch.

Toll.

Rainer Wittkamp, Mit aller Macht. Deutschland, 1930er Jahre und drumherum: Fritz Wernicke will Karriere im Hotelfach machen und wählt dazu einen sehr speziellen Weg, den er geheim halten muss. 1960er Jahre und drumherum: Wernickes Sohn Peter Körber, der in der DDR bei seiner Tante aufgewachsen ist und seinen Vater nie kennengelernt hat, macht Karriere bei der Stasi. Die aber wird durch die Republikflucht seiner Frau jäh gestoppt, und dann bekommt er ein Angebot. Erst will er ablehnen, aber dann gibt man ihm die Tagebücher seines Vaters. Nun muss er sich entscheiden, ob er denselben grauenvollen Weg geht wie der.

Wittkamp stellt zwei Lebenswege in den beiden deutschen Diktaturen einander gegenüber. Dadurch, dass die Protagonisten Vater und Sohn sind, zieht er den Leser in die Parallelität ihrer Wege. Man fragt sich: Kann man über den eigenen Lebensweg entscheiden? Worüber darin kann man entscheiden? Und wann ist es zu spät für die Entscheidung? Wittkamp erzählt zwei Leben in zwei Diktaturen, macht das Große im Kleinen verständlich - oder auch nicht - und das Buch ist spannend. Das Nachwort von Christian Adam fasst das, was man beim Lesen eigentlich verstanden hatte, noch einmal in kluge Worte und auch diese Lektüre lohnt sich.

Sehr gut bis toll.

Horst Eckert, die Macht der Wölfe. Moskau will mit 40 Millionen Euro die "Berliner Faschisten" stürzen. Dennis Schubert wird aus der Haft entlassen und ermordet. Brigitte Veih, ex-RAFlerin, Fotografin und Mutter von Hauptkommissar Vincent Veih, wird verprügelt. Kriminalrätin Melia Adan wird mit einem Hilfeersuchen der Bundeskanzlerin konfrontiert. Einem konservativen, wenn nichtrechtspopulistischen, Fernsehmoderator wird ein hoher, sehr hoher Job in der Politik angeboten: Die Macht der Wölfe ist der vierte Teil der Reihe um Kriminalrätin Melia Adan und Hauptkommissar Vincent Veih von der Polizei Düsseldorf. Melia Adan hat schon eine gute Karriere hingelegt. Die Beziehung zwischen ihr und Veih wird nicht überall gern gesehen. Und nun bittet die Bundeskanzlerin sie um Hilfe, denn sie wird erpresst.

Anfangs habe ich mir eine Liste der Personen und Ereignisse angelegt, es dauerte ein paar Kapitel, bis ich sie mir merken konnte: Horst Eckert schreibt rasant, viele kurze Kapitel aus der Perspektive unterschiedlicher Menschen, und ganz allmählich zeigen sich immer mehr Zusammenhänge zwischen den einzelnen, schon in sich spannenden Geschichten.

Sehr gut.

Lucas Fassnacht, Tartarus - Dein Wissen ist tödlich. Leon Gärtner hat gerade seine Masterprüfung mit dem Thema Gene Drives - genetische Manipulation von Pilzen oder Insekten mit dem Ziel, dass sich das geänderte Erbgut in der gesamten Population ausbreitet - bestanden. Aber nur mit Zwei, weil der eitle Prüfer ihm nicht abnahm, dass er eine bestimmte Formel selbst entwickelt habe. Eine Zwei - für die Promotion an einer Top-Uni hätte er eine Eins gebraucht. Dann aber eröffnet sich eine Möglichkeit: Die Promotion bei einer Koryphäe in Zürich. Er geht dorthin und - bald stimmt gar nichts mehr: Er kommt einer Frau näher, und die wird ermordet. Er lernt einen Milliarder kennen, der will den Hunger in der Welt besiegen und scheint Leon zu umgarnen. Er lernt eine Frau kennen, die mehr als undurchsichtig ist. Das Schlimmste: Leon weiß nicht mehr, ob er seiner Doktormutter, der Schweizer Koryphäe, vertrauen kann.

Fassnacht hat einen spannenden Thriller über das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik geschrieben. Es geht um Gentechnik, Agrar-Lobby und Geheimdienste. Wie entsteht Macht, wo zeigt sie sich, und führt ihr Besitz zwangsläufig ins Dunkel - das sind immer Fassnachts Fragen, und der junge Leon Gärtner lernt sie auf die harte Tour. Spannender, solider Thriller.

Sehr gut bis gut.

Oliver Juli, Das Gebot des Bösen. Ein namenloser Mann beobachtet und zeichnet. Er bereitet eine (nicht medizinische) Operation vor - und er steht seinerseits unter Beobachtung. Eine junge Polizistin und ihr Partner untersuchen einen seltsamen Fall: Viel Blut in einem Wald in der Nähe eines Internats, eine verschwundene Schülerin - und dann verschwinden noch mehr Menschen. Der junge Rom Neven arbeitet für einen Clan der Organisierten Kriminalität aus dem Balkan, aber er hilft auch der Polizei bei der Suche nach der Schülerin. Menschen sterben, immer neue Geheimnisse tun sich auf, und das Geschehen steuert auf ein furioses Ende zu.

Oliver Juli hat einen klug konstruierten und spannenden Erstling geschrieben. Im Mittelpunkt zwei, drei Personen, sehr unterschiedlich. Ein Ziel ist bei allen gleich, aber ansonsten haben sie ziemlich gegensätzliche Ziele. Und Wege, ihre Ziele zu erreichen. Das wäre schon spannend genug, aber was mir am Krimi besonders gefällt, sind die genauen Beschreibungen, wie die Personen ihre Ziele erreichen: Neven etwa, der seine Zeichenkunst einsetzt, ein Fahrrad "reserviert" und benutzt und so weiter: viele Kleinigkeiten, die dem Ganzen Spannung und Farbe geben. Und das Geschehen auf Seite 155 ist für einen Krimi auch eher ungewöhnlich. Viele überraschende Wendungen.

Gut bis sehr gut.


Kunst in Karlsruhe

Immer wieder interessant und anregend! Ein paar Stunden auf der art KARLSRUHE, der internationalen Messe für Klassische Moderne und Gegenwartskunst, sind eigentlich zu wenig, ein paar Kunstwerke verpasst man immer, aber das ist kein Wunder, so viel, wie da ist: Vier Tage, vier Hallen, eine große Eingangshalle und ein begrünter Innenhof…

Das Schöne an solchen Messen ist die Vielseitigkeit. Natürlich war auch Prominenz vertreten wie Schiele, Klimt und Nolde. Aber meine Lieblingsstücke, auch weil es Werke sind, die man eben nicht unbedingt im Museum sieht: „The Orgin of the World: Vulva“ von Marion Mandeng, „Mein Schutzengel macht sich über mich alten Mann lustig“ von Werner Lehmann, „Fadenfrauen 56“ von Marlis Albrecht, außerdem alles von Albrecht Genin, die Schilder von Jens Andres, „concrete love“ von Fredrik Erichsen. Und die Eis-am-Stil-ähnlichen Skulpturen von Lola Luk haben viele Kinder angelockt.

Die nächste art KARLSRUHE soll vom 22. bis 25. Februar 2024 stattfinden.


April 2023


Kunst in Hamburg

Noch bis zum 21. Mai zeigt das Bucerius Kunst Forum Hamburg die Ausstellung Gabriele Münter. Menschenbilder. Darin wird zum ersten Mal in einer Schau der Fokus auf die Portraits der bedeutenden Expressionistin (1877–1962) gelegt.

Versammelt sind rund 80 Gemälde, Druckgrafiken, Zeichnungen, Fotografien und eine Hinterglasmalerei.

Münters Lebensweg ist mehr als ungewöhnlich, und von Anfang an ging es ihr um Menschen und ihre Portraits: Als Kind zeichnete sie Menschen mit Bleistift, als junge Frau reiste sie schon in den Jahren 1899/90 mit ihrer Schwester durch die USA. Dabei hat sie viel fotografiert. Ihr Foto von drei schwarzen Frauen im Sonntagsstaat hat mich umgehauen, ich finde es großartig. Sie hielt Skizzenbücher, darin zeichnete sie in wenigen Strichen Menschen, „unübertroffen“ in Ausdruck und Komposition, wie es auf der Website heißt. Im Jahr 1907 hatte sie ihr künstlerisches Debüt im Salon d’Automne in Paris, und die meisten Werke waren Portraits.

Die Hamburger Ausstellung hat sechs „Kapitel“: Selbstbildnisse, Porträts, Kinderporträts, Figurenbildnisse, Menschen in Zeichnungen und Gruppenporträts. Jedes Kapitel ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit Münters frühen Fotografien.

Während sie großartige Fotos mache und in den Jahren um ihr künstlerisches Debüt ausdrucksstarke Bilder schuf, finde ich anderes eher bieder, etwa ihr Selbstportrait von etwa 1916: ein biederer Mensch, bieder gemalt. Mochte sie sich eigentlich selber?

Mein Lieblingsbild: Mädchen mit roter Schleife 2, 1908: Ein verschmitzt-trauriges Mädchen schaut aus dem Bild hinaus, der Ausdruck ist unfertig. Wird sie ein Hausmütterchen oder setzt sie sich durch?


Die Hamburger Kunsthalle ist immer einen Besuch wert, weiß ich ja schon ewig, und wiederhole es auch immer gern.

Diesmal neu: Kluge Fragen in der ständigen Sammlung. Zum Beispiel: „Ist das Bewunderung, Voyeurismus oder Sexismus?“ unter dem Bild „Phryne vor den Richtern“ von Jean-Léon Gérôme (1824-1904), das eine schöne nackte Frau zeigt, die vor einer großen Gruppe rot gekleideter Richter steht, die um sie herum in einem Rund sitzen. Die Frau zieht sich nicht selber aus, sondern wird entblößt, ein Mann reißt ihr ein blaues Tuch vom Leib. Die Richter richten ihre Blicke auf sie, aber sie selber verbirgt ihren Blick doppelt, indem sie sich abwendet und den Arm vor ihre Augen hält.

Tja. Aber: Sie war Angeklagte wegen Gotteslästerung – ein Bildhauer nahm sie als Modell für eine Göttin – und es ist ihr Verteidiger, der ihr das Tuch vom Leib reißt, und die Richter werden sie schließlich freisprechen – wer so schön ist, kann nicht schuldig sein. Außerdem werden die glotzenden Männer bloßgestellt, und ein Modell der Göttin Athene richtet ihren Speer auf das lüsterne Richter-Publikum. So ungefähr jedenfalls der kluge Kollege von Chrismon. Klar:  Irgendwie ist eine solche Verteidigung trotzdem entblößend, und hätte der Maler den Anwalt nicht bittebitte VOR der Nackten malen könne, sodass der Betrachter des Bildes die Nackte nicht sieht! Also: Feministisch gesehen: aus meiner Perspektive nicht perfekt. Aber trotzdem ziemlich ok.

Gute Idee der Mitarbeiter der Hamburger Kunsthalle. Und gute Fragen, es gibt noch mehr davon – regt an zum Nachdenken!


Neue Krimis

Bernhard Aichner, Bildrauschen. Pressefotograf David Bronski ist runter mit den Nerven und macht Urlaub, Blockhaus in den Tiroler Bergen. Er geht spazieren. Findet eine Frauenleiche. Er will Hilfe rufen - und dann ist die Leiche plötzlich weg. Alles nur Einbildung? Es wird noch schlimmer: Er verläuft sich, landet in einem Luxuschalet mit einer Handvoll Influencer, und wird eingeschneit.

Geniale Idee, ebensolches Setting: Eine Handvoll Influencer trifft sich in den Bergen, um füreinander Werbung zu machen, und dabei ein paar Follower vom anderen dazuzubekommen. Sie werden eingeschneit, sind nicht in der Welt, aber sie sind online. Sie fotografieren alles, schreiben ein paar Worte dazu und stellen das Ganze in Nullkommanichts auf ihre Social Media Accounts. Aichner erzählt das Ganze in Staccato-Dialogen, gelegentlich eingeordnet oder kommentiert durch einen inneren Monolog Bronskis. Man leidet mit ihm und manchmal fragt man sich auch, warum er sich grade mal wieder so bescheuert verhält. Die Gesellschaftskritik merkt man gar nicht, sie ist nicht aufgesetzt, sondern gehört dazu.

Sehr gut.

Hubertus Borck, Die Klinik. Ein Krankenhaus in Hamburg. Ein junger Familienvater wird eingeliefert. Er liegt im Koma, aber kaum ist er außer Lebensgefahr, stirbt er. Seine Witwe glaubt, er wurde ermordet und beauftragt einen Anwalt: Sie hat recht. Die 59-jährige Kriminalkommissarin Franka Erdmann und ihr junger Kollege Alpay Eloglu gehen diesem Todesfall nach und es scheint, dass noch mehr Menschen in dem Krankenhaus auf nicht natürliche Weise ums Leben kamen. Nun befürchten sie weitere Todesfälle. Unterdessen macht die junge Witwe eine merkwürdige Entdeckung. Und dann muss Eloglus Vater in das Krankenhaus. 

Man weiß fast von Anfang an, wer hier mordet. Aber irgendwie eben doch nicht. Die Dinge passen nicht zusammen. Das, und natürlich die Angst vor weiteren Morden, machen das Buch spannend. Nebenher macht es Angst vor jedem Krankenhausaufenthalt, weniger davor, ermordet zu werden, als vielmehr vor dem Gewinnstreben ausgerechet im Gesundheitswesen, das allzuschnelle Routinen, Überarbeitung bei Ärzten und letzlich Schlamperei fördert. Spannend.

Gut.

Lioba Werrelmann, Tod in Siebenbürgen. Paul Schwarzmüller kam als kleiner Junge mit seinem Vater aus Rumänien. Ziemlich überstürzt, und die Hintergründe dafür hatte er nie verstanden. Und nun ist seine Tante dort gestorben. Dabei hatte er sie längst tot geglaubt. Sie hat ihm ihren Hof vermacht. Paul ist inzwischen Investigativjounalist, und obwohl er bloß wegen des Erbes nach Rumänien reist, hat er dort plötzlich zu tun: Die Menschen lehnen ihn ab, nur sein alter Jugendfreund Sorin freut sich. Dann geschieht im Dracula-Schloss Bran ein Mord und Sorin wird festgenommen. Paul fängt an zu recherchieren, er will seinem Freund helfen, aber niemand vertraut ihm.

Tod in Siebenbürgen ist der erste Band einer Krimireihe um Paul Schwartzmüller. Regionale Krimis gibt es inzwischen noch und nöcher, aber ein Draculaschloss bei den Karpaten ist als Tatort tatsächlich ungewöhnlich. Werrelmann hat mit Paul Schwartzmüller eine nette Figur erschaffen, vielleicht etwas lahm, aber das passt zur Geschichte. Das Buch ist hinreichend spannend, aber nicht immer überzeugend, die geheimnisvollen Kräfte der schönen Maia etwa passen nicht so recht ins Ganze. 

Ganz gut.

Karen Sander, Der Strand - Verraten. "Verraten" ist die Fortsetzung von "Vermisst" (siehe März). Die 19jährige Lilli Sternberg ist noch immer vermisst, ihr mutmaßlicher Mörder tot. Ermittlungsleiter Tom Engelhardt will den Fall weiter verfolgen, ebenso die Kryptologin Mascha Krieger. Da wird eine weibliche Leiche angespült. Und ihre DNA stimmt nicht mit der von Lilli Sternberg überein.

Karen Sander hat wieder einen soliden Thriller herausgebracht. Die Polizisten, die gegen ihre Vorgesetzten die Fortführung ihrer Recherche durchsetzen wollen, die Spannungen in den Familien und nicht zuletzt die einzige Ich-Erzählerin, eine Psychiatriepatientin. Zwar handelt es sich nicht um große Krimiliteratur ist, dazu sind die Menschen nicht wirklich glaubwürdig genug und die Handlung ist eben nur eindimensional. Aber man folgt den Menschen und der Handlung, das Buch ist spannend.

Ganz gut.


März 2023


Kunst in Potsdam

Das Museum Barberini zeigt in Zusammenarbeit mit dem Pariser Musée Marmottan die famose Ausstellung Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst, die noch bis zum 11. Juni läuft.
In der griechischen Antike war die Sonne ein Gott, eine autonom handelnde Kraft. Im Alten Testament wurde sie entthront, sie ist Schöpfung Gottes und hat Aufgaben, etwa Gottes Herrlichkeit zu rühmen oder Licht zu bringen. Im Neuen Testament ist sie noch mehr religiöses Instrument, ist nur noch Zeuge von Gottes Handeln.
Die Ausstellung zeigt Bilder aus unterschiedlichen Epochen. Ein Kreuzigungsbild von 1450 bis 1560 wahrscheinlich aus Valencia zeigt im Hintergrund eine riesige Sonne. Sie ist dunkelgold, aber sie scheint nicht. Im Lukasevangelium wird das als Reaktion der Sonne auf die Kreuzigung beschrieben; das zeigt die Bedeutung die Kreuzigung für die gesamte Welt. Auf dem Bild „Weidengebüsch bei tiefstehender Sonne“ von Caspar David Friedrich aus den Jahren 1832 bis 1835 ist die Sonne fast weiß und leuchtet gelb und orange, man sieht sie zwischen zwei Weiden, die sie rahmen, Es ist Winter, die Bäume haben keine Blätter, unten ahnt man einen Fluss, den die Bäume säumen.
Ein Film mit Aufnahmen eines NASA-Satelliten der Aktivitäten der äußeren Sonnenschichten thematisiert das Unmögliche: Er ist von Katharina Sieverding und heißt „Die Sonne um Mitternacht schauen (red)“: Die Sonne kann man um Mittarnacht ja gar nicht sehen. Die Sonne ist gelb-rot, nicht ganz gleichmäßig, sie dreht sich langsam, man könnte das Video ewig anschauen.
Faszinierend: Ein Monet mit einer Reihe von Getreideschobern (ebenfalls ein typisches Monet-Motiv). Davor haben die Ausstellungsmacher eine Tafel gelegt, auf der schablonenhaft einfach die Richtung der Pinselstriche sowie Sonnenlicht und Farbtöne dargestellt sind. Wenn man die Tafel n die Hand nimmt und mit dem Bild vergleicht, sieht man gleich viel mehr.

Übrigens: Museumsstifter Hasso Plattner hat vier neue Monets gekauft – tja, wer täte das nicht auch gern? Er zeigt sie – inzwischen insgesamt 38 Stück und damit die größte europäische Sammlung seiner Werke außerhalb von Paris – in seinem Museum. Die vier haben einen eigenen Raum für sich. Es sind „Der Tümpel im Schnee“ (wie früher, als wir Kinder waren und auf dem Teich Schlittschuh liefen), „Das Parlament, Sonnenaufgang“ (Monet hat 19 Parlament-Bilder gemalt), „Der kugelförmige Baum in Argenteuil“ (hinter einem See, ist er trotzdem das zentrale Motiv des Bildes) und „Der Apfelbaum“ (in grandioser Blüte).

Unbedingt anschauen!


Neue Krimis

Vera Buck, Wolfskinder. Unten, im Dorf, sitzt das Böse. Die Welt ist gefährlich. Das lernt man von klein auf in Jakobsleiter, einem winzigen Dorf hoch in den Bergen, wo noch die Wölfe heulen und man sich sein Essen selber anbaut - oder schießt. Doch seit Jahren verschwinden immer wieder  Frauen aus der Gegend. Niemand scheint sich dafür zu interessieren. Nur die angehende Journalistin Smilla, die aus der Gegend kommt und deren beste Freundin Juli verschwunden war, als beide 16 Jahre alt waren. Und Jesse, selber aus Jakobsleiter, dessen beste Freundin Rebekka eigentlich in die Stadt wollte - und dann plötzlich auch verschwindet. Dann läuft Smilla ein Mädchen vors Auto, das genaus so aussieht wie Juli als Kind. Smilla fängt an zu recherchieren und was sie entdeckt, bringt sie selber in größte Gefahr.

Dieser Thriller ist noch mehr als der klassische Wer-war-es, hier fragt man sich bald Worum-geht-es: Die Geschichte wird immer rätselhafter, je weiter man liest. Man folgt Smilla auf ihren Recherchen, man folgt Jesse auf seiner Suche. Im Buch wechseln sich Kapitel ab, die den unterschiedlichen Menschen folgen: Nicht nur Smilla und Jesse, auch Laura, einer jungen Lehrerin, die neu in der Stadt ist und auch die Kinder aus Jakobsleiter unterrichtet, der kleinen schlauen Edith, die mehr sieht als eine Achtjährige sollte, und Isaiah, dem Priester von Jakobsleiter. Buck flicht und entflicht sorgfältig ein Gespinst aus Ereignissen, für die es eine Vielzahl von Motiven geben könnte. Sie hat ein Gespür für Feinheiten, etwa die abgrundtiefe Bösartigkeit im Verhalten des Entführers gegenüber der Entführten (218). Und den Spruch "Die Fliegen haben gewechselt, aber die Scheiße ist dieselbe geblieben", muss ich mir unbefdingt merken. Ein paar kleine Fehler wurden die im Lektorat übersehen (10: Der "Faunfelsen ist größer als in meiner Erinnerung. Dabei sind weder er noch ich seit jenem Tag gewachsen." Logisch wäre als zweiter Satz: "Dabei ist weder er gewachsen noch ich bin geschrumpft." Oder 17: "Im Osten dämmert es. Es ist diese klamme Stunde zwischen Tag und Nacht, in der die Sonne sich anschleicht" - besser: zwischen Nacht und Tag. Usw.) Auch der Schluss ist nicht so ganz überzeugend. Aber abgesehen davon: Eine sehr spannende Lektüre!

Sehr gut bis gut

Alexander Oetker und Thi Linh Nguyen, Die Schuld, die uns verfolgt. Mitten in Berlin wird ein kleines Mädchen aus seiner Kita entführt und der Polizist Adam Schmidt setzt alle Hebel in Bewegung, das kleine Kind wiederzuinden. Gleichzeitig wird in einem Brandenburgischen Dorf eine Bank überfallen und die Polizistin Linh-Thi Schmidt versucht, eine Eskalation zu verhindern. Die beiden Polizisten sind verheiratet und es verbindet sie noch mehr, nämlich ein lange zurückliegendes Ereignis.

Dieser Krimi ist der erste Band einer neuen Serie um das Polizistenehepaar. Es hat einen autobiographischen Hintergrund: Die Autorin Thi Linh Nguyen wurde in der Nähe von Hanoi geboren, kam im Alter von drei Monaten nach Berlin-Marzahn und, so steht es im Klappentext, "erlebte die Hochphase der vietnamesischen Mafia in den Plattenbauvierteln im Osten der Stadt." Die Eltern der Protagonistin hatten sich auch am illegalen Zigarettenhandel beteiligt, bevor sie legale Berufe ergreifen konnten. Und ein Bruder scheint noch immer nicht ganz sauber zu sein - was interessante Interessenkonflikte für spätere Bände verspricht. Nguyen hat mit diesem Krimi debütiert, Oetker hat schon mehrere Romane geschrieben. Ich bin gespannt auf weitere Bücher. Was die Herstellung von Phantombildern betrifft, könnten die Autoren noch etwas recherchieren (191), die Prügelszene S. 213 ist nicht stimmig, ebensowenig wie die Zählerei S. 216, für Kleinigkeiten sollte der Verlag ins Lektorat investieren. Aber der Schluss ist wirklich gut.

Gut

Karen Sander, Der Strand. Vermisst. Sellnitz auf dem Darß. Lili Sternberg, 19 Jahre alt, verschwindet. Jahre zuvor war ihre Mutter auch schon verschwunden und später aufgefunden - erschlagen. Lili ist daraufhin bei ihren Großeltern aufgewachsen. Und die machen sich nun umso mehr Sorgen, weil Lili gehörlos ist. DIe einzige Spur ist eine seltsame Zeichenfolge, in den Sand gemalt und abfotografiert: Das wurde von Lilis Handy an das ihrer besten Freundin geschickt. Nun versuchen der alleinerziehende KHK Tom Engelhardt, der an der Ostsee eigentlich seine Ruhe haben wollte, und die Kryptologin Mascha Krieger vom LKA, das Rätsel zu lösen und Lily zu finden.

Vermisst ist der erste von geplant drei Thrillern um das Verschwinden der Lili Sternberg. Karen Sander lässt mehrere Handlungsstränge nebeneinander herlaufen, die sie im Laufe der drei Bücher weiterentwickelt und entwirrt: Eine Patientin flüchtet aus der Psychiatrie in Teterow. Lilis beste Freundin Fabienne hat etwas zu verbergen. Lilis Großeltern scheinen ein Geheimnis zu haben. Von Lilis Computer sind Daten verschwunden. Die Kryptologin sucht auch noch etwa ganz anderes. Und so weiter. Sander gibt den roten Faden dabei nie aus der Hand, sondern führt den Leser anhand der Zeitangaben durch die kurzen Kapitel. Sie schreibt fast immer aus der Perspektive der Ermittler, nur ein paar Passagen stehen in der Ich-Form, erst relativ spät merkt man, wer dahintersteckt. Andererseits: Es gibt Unmengen Krimis und Thriller mit vermissten Mädchen und Frauen, Kompetenzgerangel zwischen Polizisten, männlichen und weiblichen Polizisten, denen man insgeheim eine Partnerschaft wünscht. Der Thriller ist nicht toll, aber war recht spannend, ich werde auch die beiden anderen Bücher lesen.

Ganz gut.

Peter Klisa, In den letzten Stunden der Dunkelheit. Deutschland, April 1945. Eine Gruppe Amerikaner fliegt in einer waghalsigen Aktion nach Berlin. Sie sollen verhindern, dass den Russen das Wissen über das Deutsche Atomprogramm in die Hände fällt. Mit dabei ist Frederic Carvis, der einst in Deutschland Physik studiert hatte - und sich dabei in Anna verliebte, die er nun wiederzufinden hofft.

Klisa verknüpft zwei Zeiten im Leben von Carvis und damit auch in der Politik: 1936, als die Deutschen den Krieg vorbereiten, eine Zeit geprägt von Arroganz, Rassismus und Fortschrittsglauben. Da lädt Carvis´ Physikprofessor ihn auf ein rauschendes Fest ein, und der junge Student lernt Anna kennen. Und April 1945, als die Deutschen den Krieg im Grunde verloren haben und Kinder an die Flak schicken. Da muss Carvis nach Berlin, wo Gefahr von Russen und Hitlerjungen droht. Eigentlich eine spannende Konstellation. Aber ich kann Klisas Schreibstil nicht ertragen. Diese Sprache! Zum Beispiel "als Kind bin ich in Berlin aufgewachsen" (65),  "versetzte das Flugzeug schlagartig in Alarmzustand" (79). Und kann man sich wirklich im Transportraum einer JU 52 unterhalten (94ff) - ist es da nicht viel zu laut? Ich habe es bis Seite 127 geschafft.

Nicht gut

Februar 2023


Neue Krimis

Sven Stricker, Sörensen seht Land. Nix los in Katenbüll - fast nix: Das EKZ feiert sein Jubiläum. Bei dem Jubiläumsfest rast ein Auto in die Menschenmenge. Menschen sterben. Das Auto gehört einem ehemaligen Praktikanten von Sörensen, dem Kriminalkommissaranwärter Malte Schuster. Sörensen glaubt nicht, dass er der Attentäter ist. Und dann sind da noch ein paar andere Mitfahrer, aber ob die es waren? Die einzige Frau im Wagen ist tot. Sörensen recherchiert, trotz nerviger Vorgesetzter.

Sörensen leidet unter seiner Angststörung und darunter, dass alle davon wissen und darüber reden. Er ist ein Anti-Held, macht viele Fehler, und obwohl das nach einem billigen Schema aussieht, ist es das ganz und gar nicht. Erstens kann Stricker richtig gut schreiben, die Bilder machen Spaß: Aus dem Telefonat mit EKHK Rösler taucht Sörensen "auf wie aus einer Toilettenschüssel." (129) Und überhaupt kann man hier über 25 Seiten (S. 74ff) eine großartige und zum Schreien komische Nicht-Sex-Szene lesen. Ab und zu ein Seitenhieb gegen Öko-Essen und Gendern, aber die meiste Zeit geht es eigentlich um die Beziehung zu seinem Vater. Und das liest sich richtig gut.

Sehr gut.

Fabio Lanz, Das Fallbeil. Die Ermittlerin Sarah Conti und das Team de Mordkommission langweilen sich, ach, hätten sie doch wieder einen spannenden Fall zu lösen, "einen Fall mit allem Drum und Dran" (S. 20)! Tja, und was soll man sagen: Ein Mensch stirbt, wird ermordet, und die Ermittler haben ihren Fall. Nun ja. Der Mord geschieht im Kunsthaus Zürich (das gibt es tatsächlich: https://www.kunsthaus.ch) und zwar mit einer Guillotine, die zu einer Kunstausstellung gehört. Das Opfer war Journalistin. Sie hatte viele Ausstellungen rezensiert und war dabei zahlreichen Leuten auf die Füße getreten. "Im Glanz und Glamour der Kunstwelt mangelt es nicht an Verdächtigen", steht auf der hinteren Umschlagseite des Buches.

Der Autor Fabio Lanz kann schreiben, keine Frage, und eine Ermittlerin, die hervorragend Klavier spielt und sich für Kunst interessiert, ist eine richtig gute Idee. Lanz nimmt die Szene um Kunst und Kultur gehörig auseinander, und es liest sich so, als hätte er da gute Insiderkenntnisse. Gleichzeitig ist das Ganze etwas gewollt: Dass sich Mordermittler nach einem spannenden Fall sehnen, disqualifiziert sie in meinen Augen - schließlich geht es darum, dass ein Mensch auf gewaltsame Weise zu Tode kommt. Lanz schreibt auch etwas zu sehr schwarz-weiß: Conti und ihre Galeristin-Freundin und ihr Liebhaber Fred sind "gute" Kulturmenschen; aber zum Großteil sind die Kunst-und-Kultur-Typen in diesem Krimi ekelhaft. Wo bleiben die Grautöne? (in einem Interview beantwortete er die Frage , warum er unter Pseudonym schreibe, mit dem Stress, den die Öffentlichkeit für einen Autor bedeute: "Wenn das Pseudonym mal auffliegen sollte, ist das ok. Aber vorerst lebe ich wie Diogenes in seiner Tonne." https://www.krimi-couch.de/magazin/interview/11-2021-fabio-lanz). Unter mangelndem Selbstbewusstssein dürfte er nicht leiden. - Aktualisierung: Lanz war früher Feuilletonchef der NZZ und heißt in Wirklichkeit Martin Meyer.

Sehr gut bis gut.


Bernhard Jaumann, Banksy und der blinde Fleck. An verschiedenen Orten in München tauchen Graffiti von Ratten auf. Die ersten werden noch überweißt. Die nächsten werden als "echte Banksys" diskutiert und eine "Geschädigte" beauftragt die Detektei mit der Nachforschung. Schließlich kommt es in einem Münchner Auktionshaus zu einer spektakulären Bieterschlacht um eine Tür mit Graffito. Daraufhin schützt die "Geschädigte" ihr Graffito mit einer Plexiglasscheibe und entzieht der Agentur den Auftrag. Aber die drei Detektive recherchieren aus Neugier weiter und  jeder scheint eine eigene Spur zu verfolgen: Echte Banksys? Wenn ja: Wer ist das überhaupt? Oder handelt es sich um Graffiti von Trittbrettfahrern? Gibt es Hinweise auf die Münchner Street-Art-Szene? Aus der Münchner Street-Art-Szene? Und welche Rolle spielen die Medien?

Banksy und der blinde Fleck ist der dritte Band der Krimireihe um die drei Detektive der Kunstdetektei von Schleewitz. Der erste Band (Der Turm der blauen Pferde) hatte mir gut gefallen, der zweite Band (Caravaggios Schatten) ging so, nun war ich gespannt auf den dritten. Und? Also, dieser Band gefiel mir wieder. Die drei Kunstdetektive mit ihren Problemen sind nichts Großes, aber man möchte doch wissen, wie es weitergeht. Und das große Thema das Krimis, nämlich die Möglichkeiten einzelner Menschen für eine gewisse Kapitalismuskritik, ist interessant, ebenso wie z.B. die Frage nach Banksy als kapitalistische Marke (81ff) oder das Urheberrecht in der Kunst (92). (Und man kann auch fragen, inwiefern dieses Buch von Banky profitiert. Aber das ist mir egal.)

Gut.


Lea Stein, Altes Leid. Altes Leid ist der erste Band einer Reihe um die junge Polizistin Ida Rabe. Er spielt in Hamburg im Frühjahr 1947, direkt nach dem Hungerwinter 1947/47, dem kältesten Winter des Jahrhunderts: Mehrere Hunderttausend Menschen starben allein in Deutschland, gerade in Großstädten herrschte bitterer Hunger, viele Frauen prostituierten sich, viele Schwangere versuchten, eine (illegale) Abtreibung zu erreichen; Wohnraum war knapp, weil viele Häuser zerbombt waren Flüchtlinge untergebracht werden mussten; außerdem stand Hamburg unter der Besatzungsmacht der Briten, die eben auch Behörden und Verwaltung überwachten. Im Jahr 1945 hatte der erste Jahrgang der Weiblichen Schutzpolizei in Hamburg seinen Dienst aufgenommen, die Ausbildung dauerte gerade einmal zwei Monate. Ida Rabe soll hat gerade neu angefangen, ihr Arbeitsplatz ist die Davidwache in St. Pauli. Dann wird eine schrecklich verstümmelte Frauenleiche im Umland aufgefunden, und die meisten männlichen Kollegen scheinen sich nicht sonderlich dafür zu interessieren. Ida Rabe recherchiert, obwohl sie das eigentlich gar nicht darf und läuft so in Konflikt mit Kollgen und Vorgesetzten, und britischen Besatzern. Schließlich gerät sie selbst in Gefahr.

Lea Stein (Pseudonym der Journalistin Kerstin Sgonina) hat einen spannenden Krimi geschrieben, bei dem man sich ins Nachkriegsdeutschland hinein versetzen kann: Man fühlt mit Ida Rabe mit, die selber vor Hunger oft kaum arbeiten kann und sich ein Zimmer mit einer anderen Frau teilen muss. Und die eine düstere Vergangenheit in der Hamburger Unterwelt hat. Stein erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Ida und - im kürzeren Passagen - aus der Perspektive einer anderen Person, deren Identität lange unklar bleibt. Lange bleibt auch der wahre Hintergrund der Taten im Unklaren, und das ist spannend.

Gut bis ganz gut.

Kunst in Frankfurt

Historisches Museum Frankfurt: Alles verschwindet! Carl Theodor Reiffenstein (1820-1893). Bildchronist des alten Frankfurt

Städte verändern sich. Neues entsteht und Altes verschwindet. Seltsam ging es in Frankfurt am Main zu: Die Altstadt entstand im Mittelalter und war vor dem Zweiten Weltkrieg eine der besterhaltenen Mitteleuropas. Dann wurde sie durch Bombenangriffe fast vollständig zerstört. Aber in den 2010er Jahren wurde sie wieder aufgebaut. Und nun hat Frankfurt zwischen Dom und Römer eine neue Altstadt: 35 Häuser, davon 15 originalgetreue Rekonstruktionen und 20 Neubauten.
Frankfurt ist aber viel größer. Wie es an anderen Orten früher ausgesehen hat, kann man im Historischen Museum Frankfurt sehen: Das zeigt noch bis zum 12. März die Ausstellung über Carl Theodor Reiffenstein. Der hatte das alte Frankfurt ganz wunderbar gezeichnet, gemalt und beschrieben. Zu seiner Lebenszeit änderte sich das Stadtbild besonders schnell: Mit der industriellen Revolution kamen immer mehr Menschen, die irgendwo leben – meist auf engstem Raum - und sich irgendwie zwischen Arbeit und Zuhause hin- und herbewegen mussten; Wohnviertel verschwanden, Straßen und Bahntrassen entstanden. Der Hauptbahnhof wurde eröffnet, die Häuser in der Judengasse wurden abgerissen. Reiffenstein wanderte mit einem Skizzenbuch durch die Stadt, schuf zwischen 1836 und 1893 rund 2.000 Zeichnungen und Aquarelle, und füllte fast 2.400 Seiten mit Notizen über die Geschichte und die Wandlungen der Bauten, zur eigenen Erinnerung und als Dokumente für die Nachwelt.
Er stellte eine „Sammlung Frankfurter Ansichten“ zusammen, die er im Jahr 1877 der Stadt verkaufte – er war ein bekannter Künstler und Landschaftsmaler. Die Sammlung gehört zum Gründungsbestand des Historischen Museums und wird nun zum ersten Mal richtig ausgestellt, in 34 Kapiteln wie „“Gassen“, „Innenhöfe“, „Spekulation“, „Und so weiter“.
Wunderschöne zarte Zeichnungen und Aquarelle, mit teils romantischem, teils marodem Charme.
Die Ausstellung ist eine, wie der Kollege von der FAZ schrieb (15.11.22, S. 11) „eine im besten Sinne altmodische, von technischen Gimmicks freie Schau geworden“. Gleichzeitig wird sie ergänzt durchs Digitale: Alle Zeichnungen und Aquarelle wurden digitalisiert und veröffentlicht, und Reiffensteins zwölfbändiges Manuskript wurde erstmals vollständig transkribiert und mit der Online-Sammlung verknüpft.


Schirn Kunsthalle: Niki de Saint Phalle (1930-2002)

Man kennt ihre „Nanas“: Frauenfiguren, radikal reduziert, aber mit riesigen Brüsten und schreiend bunt. Ich finde sie klasse.
Die Künstlerin aber hat noch viel mehr geschaffen, sie hat auch viele gesellschaftliche und politische Themen aufgegriffen. „Sie kritisierte Institutionen und Rollenbilder und verhandelte in ihrem Werk soziale und politische Themen wie die Stigmatisierung durch AIDS, das Recht auf Abtreibung, Waffengesetze oder den Klimawandel“, schreiben die Ausstellungsmacher. In den 1960er Jahren fertigte sie „Schießbilder“ an: „Heiliger Sebastian oder Portrait meines Liebhabers“ stellt einen Mann dar mit einer Zielscheibe als Kopf und einem Hemd als Körper, auf den die Besucher Dartpfeile werfen dürfen.
Die Ausstellung zeigt neben Nanas unter anderem einen Totenschädel aus glänzenden Mosaiksteinen, eine fette Frau mit winzigem Kopf und Lockenwicklern, die sich schminkt, aber auf dem Schminktisch liegen seltsame Gegenstände (Blumen und Federn), und zwei Frauen bei Tisch, vor sich widerwärtiges Zeugs wie zerteilte Puppen auf Tellern.
Niki de Saint Phalle „zählt als eine der Hauptvertreterinnen der europäischen Pop-Art und Mitbegründerin des Happenings zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation“, schreiben die Ausstellungsmacher. Zurecht. Noch bis zum 21. Mai 2023.

Schirn Kunsthalle Frankfurt: CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

Leider schon vorbei (bis 19. Februar) ist sehr große Ausstellung mit rund 60 Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen von Marc Chagall (1887-1985). Ich kann mit seinen schwebenden Kühen und so weiter eher weniger anfangen, aber diese Ausstellung hat mir sehr gefallen. (Ich bin aber sicher, sie gefiel auch eingefleischten Chagall-Fans.)

Die Ausstellung „beleuchtet eine bislang wenig bekannte, aber wichtige Seite seines Schaffens – die Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelt“, schreiben die Macher. Chagall war Jude und das NS-Regime bedrohte seine Existenz, und in seinen Bildern reflektiert er die Bedrohung gegen ihn selbst und die Schoah allgemein. Er malt über Themen wie Flucht, Verfolgung, Verlust der Heimat, Finden einer neuen Heimat – falls das Wort „Heimat“ überhaupt angemessen ist.
Er malt Bilder wie „Einsamkeit“, „Moses breitet die Finsternis aus“, „Die Klagemauer“, „Der Engelsturz“. Auch in dieser Ausstellung gab es schwebende Liebende und so weiter, aber eben nicht nur. Chagall reiste z7um Beispiel auch nach Palästina und ins damalige polnische Wilna – heute das litauische Vilnius, und malte Synagogen, die so wirken, als wollte der die Wirklichkeit festhalten, bevor sie zerstört wird. Und der Engelsturz, ein Bild, das Chagall nach 25 Jahren Arbeit erst im Jahr 1947 beendete, zeigt einen feuerroten Engel, der mit ausgebreiteten Flügeln zur Erde stürzt. In der christlichen Legende ist Satan ein gefallener Engel. Links unten flieht ein Mann, ein Jude mit einer Thorarolle und links oben versucht ein Mann, sich festzuhalten. Links unten schweben eine Madonna mit Kind und außen hängt ein gekreuzigter Jesus.

Drastischer kann man die Bedrohung der Juden kaum darstellen.


Januar 2023

Neue Krimis

Johannes Groschupf, Die Stunde der Hyänen. Berlin-Kreuzberg: Seit zwei Wochen brennen immer wieder nachts Autos. Die Polizistin Romina Winter wurde ins Branddezernat strafversetzt, fast alle Kollegen sind bescheuert, und sie sucht nachts den Brandstifter. Die Reporterin Jette Geppert berichtet über Kriminalprozesse, ist Super-Recognizer - erkennt alle Gesichter wieder, die sie einmal gesehen hat - und ist ebenfalls nachts unterwegs. Ebenso wie der angehende Postbote Maurice Jaenisch, der zu einer Sekte gehört, Angst vor dem Satan hat und unglücklich verliebt ist.

Der Krimi ist spannend, Groschupf schreibt toll. Großartiger Stil, harte Dialoge. Was soll man da noch sagen? Die Typen ganz unterschiedlich voneinander, aber auch in sich selbst differenziert, manche sympathisch, andere nicht, und man kann sich auch irren. 

Toll.

Carla Kalkbrenner, Die Sonne über Berlin - Trugbild. Ein Maler stürzt von seiner Leiter und stirbt. Seltsamerweise erstickt er an seiner Farbe und die Spurensicherung ergibt, dass er ermordet wurde. "Kommissar Dahlberg, mittelgroß, mittelschwer, mittelblond", und die anderen Ermittler suchen nach einem Mordmotiv; hat das Geschehen möglicherweise mit der Vergangenheit des Malers zu tun? Als Kunststudent war er in Leipzig mit zwei Kommilitonen als "Die Phantastischen Drei" unterwegs. Oder liegt das Motiv woanders, etwa einem Vorfall in der Familie?

Kalkbrenner fängt gut an, die Beschreibung des Kommissars ist schön lakonisch und die Schilderung des Mordopfers, das "Gesicht des Toten war von Farbe bedeckt. Nur die beträchtliche Nase ragte hervor, es sah aus,als sei ein Riesenfurunkel geplatzt", drastisch. Aber die Autorin hält diesen Stil nicht durch, bald wirkt es eher  es etwas billig "elegant toupierte Damen in teuren Kostümen mit neckischen Tüchlein um den Truthahnhals". Vergangene Dramen belasten die Menschen in der Gegenwart. Viele Leute machen viele Dummheiten. Auf S. 157 kommt eine Dummheit eines der Ermittler heraus, unglaubwürdig, da habe ich die Lektüre endgültig abgebrochen.

Nicht so gut.

Peter Grandl, Turmgold. Nach "Turmschatten" ist "Turmgold" der zweite Band der Reihe um den alten Hochbunker. Auch dies Buch erzählt von einer Geiselnahme im Turm. Während aber im ersten Band ein ehemaliges Mitglied des Mossad drei Rechtsextremisten gekidnappt hatte, geht es diesmal um die Kinder eines jüdischen Kindergartens und, parallel dazu, um im "Dritten Reich" gestohlene und später versteckte Schätze sowie um eine späte Rache.

Peter Grandl hat mit einem NS-Hochbunker im Mittelpunkt einer Serie um Verbrechen heutiger Rechtsextremer, Nationalsozialisten und Antisemiten eine sehr ungewöhnliche Idee. Und er schafft einen Plot, bei dem er mehrere Bälle sehr gekonnt jongliert: Die Geiselnahme um die Kinder, eine Kindergärtnerin und ihre Verquickung in das damalige und in das heutige Geschehen, die Rolle eines damaligen Rechtsextremisten, der nun gewandelt ist, die Geschichte um den Schatz. Negativ aber zweierlei: Erstens macht Grandl es sich manchmal etwas einfach: So ist der jüdische Geiselnehmer im ersten Band eben doch nicht so böse; die Nazis wiederum sind böse und der Autor macht sie dabei so lächerlich, dass es billig ist (492 u.ö.) Zweitens hat der Autor einen schlechten Stil: Würde er alle Adjektive streichen, wäre das Buch halb so dick und doppelt so gut. Trotzdem: Beide Bücher sind spannend. 

Ganz gut.

Thomas Kiel, Das Jungblut Serum. Die Biologie Lena Bondroit wird auf eine einsame Insel in Schweden eingeladen, um ein Serum zu analysieren. Das lässt Menschen zwar unbeschwert sehr alt werden. Aber die Töchter von Frauen, die das Serum eingenommen hatten, bekommen keine Kinder.

Thriller um die Bevölkerung auf einer Insel und ein Pharma-Unternehmen im Hintergrund. Aber keine Literatur - so ist die Gerichtsverhandlung am Anfang (24ff) ein durchsichtiges Vehikel, um Epigenetik zu erklären. Manche Wörter sind hochtrabend ("wandeln" S. 147 etc.) Dass Lena auf die Insel reist, ist eigentlich nicht nachvollziehbar (36) und die Person von Loke ist unglaubwürdig. Die Handlung ist recht spannend, die Umsetzung eher nicht.

Geht so.



Dezember 2022

Neue Krimis

Friedrich Ani, Bullauge. Kay Oleander ist Polizist, auf einer Demo schmeißt ihm irgendjemand eine Bierflasche ins Gesicht, er verliert sein linkes Auge und wird vom Dienst freigestellt. Alle Leute gehen ihm auf die Nerven. Silvia Glaser hatte einen Fahrradunfall, verursacht durch Polizisten, und man glaubt ihr nicht; sie flüchtet sich zu einer rechtspopulistischen Partei, erfährt von einem geplanten Anschlag und will ihn verhindern. Sie war auf der Demo. Oleander und Glaser finden zusammen und versuchen, den Anschlag zu verhindern.

Oleander erzählt. Er zweifelt, er sucht, er lässt sich treiben und will nicht angetrieben werden, er braucht Hilfe von den alten Kollegen und will sie eigentlich nicht; und man fühlt und hofft und bangt mit ihm. Schätzt er sein Gegenüber richtig ein, schätzt sie die Politik richtig ein, warum wird Oleander zusammengeschlagen? Friedrich Ani zeigt drastisch Oleanders Einsamkeit (180), wie er gegen jede Wand läuft (252 u.ö.), und andauernd regnet es (46), Scheißwetter. Die Atmosphäre passt immer.

Toll.

Felix Leibrock, Mord am Kehlsteinhaus. Berchtesgaden, beim Kehlsteinhaus am Obersalzberg: Ausgerechnet im Lift zum Kehlsteinhaus sind Kampf- und Blutspuren. In der Nähe stürzt ein Kletterer ab, aber er war vorher erwürgt worden. Ein anderer Mann verschwindet spurlos. Auf einen dritten wird geschossen - mit einer Armbrust. Bergpolizist Simon Perlinger hat gut zu tun.

Ein Mord in einer malerischen Umgebung, eine Geschichte mit vielen Verdächtigen und zwei sympathische junge Bergpolizisten, die an vielen Spuren entlang jagen. Aber auch ein paar innere Monologe, die einfach nur nerven (71:ff Psychotherapie) oder pfaffenhaft sind (286 f Ehebruch und Moralanspruch),  naive Dialoge, die den Leser bei der Hand nehmen, obwohl das nicht notwendig ist (152: Unternehmen machen Projekte in  Entwicklungsländern ja gar nicht, um den Ärmsten der Armen zu helfen, sondern wegen des Geldes, fürs Image - na sowas!) und nicht wirklich glaubwürdige Charaktere.

Geht so.

Ursula Neeb,Weihrauch. Frankfurt am Main, 1912. Fabian und Fabiola, Zwillinge aus wohlhabendem Haus, sind tief verbunden, bis Fabian dem Fechter Captain Charles Veston verfällt. Fabiola dagegen misstraut diesem Menschen. Fabian führte das Leben eines Dandy, nun aber bekommt er finanzielle Probleme. Er ist das Gegenteil seiner zielstrebigen Schwester Fabiola, Medizinerin und angehender Psychiaterin. Sie bekommt bald mit, dass ihr Bruder vom Fechter Heroin erhält.

Eine interessante Geschichte, eigentlich (der erklärende Anhang ist das Beste am Buch). Aber so schlecht geschrieben, dass ich es bloß bis S. 87 geschafft habe. Die Sprache soll wohl altmodisch sein und zur damaligen Zeit passen, aber Redewendungen wie "er gemahnte an ..." (10.12) oder "nach seinem Dafürhalten" (30) genügen nicht, es ist bloß umständlich.

Schlecht.

Sophie Sumburane, Tote Winkel. "Ich bin 28 und trage eine Windel." Ein Anfang wie eine Ohrfeige, und so geht es auch weiter. Im Krimi von Sophie Sumburane schildern mehree Menschen eine Vergewaltigung. Von der Vorgeschichte - oder den Vorgeschichten - bis zu den Folgen. Frau Zinnow bekommt einen Anruf von der Polizei: Ihr Mann wurde wegen einer Vergewaltigung festgenonmmen. Er hat alles zugegeben. - Und das Opfer sieht genau so aus wie Frau Zinnow. So viel dreht sich im Kreis, manches wird fast lakonisch angemerkt (89).

Toller Anfang, toller Plot. Man fühlt mit, ist gespannt, will es nicht glauben. Aber dann verhakt es sich, zu viele Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart laufen parallel, zu viel bleibt widersprüchlich  und nervt. Wie etwa hat Valentina es fertiggebracht, zuhause ihrem Beruf nachzugehen? Und der Dialog zwischen Mutter und Tochter mag inhaltlich die rechte Moral zeigen, ist aber umständlich (152). Die Folgen des Kindheitstraumas sind psychiatrisch gesehen sicherlich alle korrekt, aber massiv und umständlich erzählt. Dann wieder überrascht die Autorin, etwa mit Erkenntnissen über Kay. Das Ende ist vorhersehbar.

Trotzdem gut.

Frauke Buchholz, Blutrodeo. Der zweite Fall um den Profiler Ted Garner: Zwei alten Männern wurde die Kehle durchgeschnitten. Während der Calgary Stampede, dem größten Rodeo der Welt, suchen der alte Garner und die junge Polizistin Samantha Stern nach Motiven - eine Serie? Mit einem Motiv in der Vergangenheit? Was hatten die beiden Männer gemeinsam? Die erste Spur führt in den Norden Albertas, dort hatten die beiden Männer beim Ölsandabbau gearbeitet. Der hatte und hat entsetzliche Folgen für die Umwelt und die Angehörigen der First Nations. Dann wird der Hund von Garners Vater umgebracht und es zeigt sich eine Verbindung noch weiter in der Vergangenheit.

Ein spannender Thriller um zwei Polizisten, die bei der Suche nach einem Mordmotiv aus der Vergangenheit selbst in große Gefahr geraten. Die Polizisten sind sehr unterschiedlich: Garner zitiert Schopenhauer und leidet unter der Distanziertheit seines Vaters. Stern hat ein Pferd namens Blizzard, auf dem sie morgens vor der Arbeit ausreitet. Und sie hatte einen One-Night-Stand, von dem sie nun schwanger ist. Buchholz hat zwei sehr unterschiedliche Protagonisten entworfen. Und sie übersetzt die Lebenswirklichkeit in Kanada durch die stundenlangen Autofahrten zwischen den Arbeitsorten - das wäre in Deutschland kaum denkbar; die Einsamkeit in den Wäldern wird nicht nur seelisch, sondern auch körperlich spürbar, und die Umweltvergiftung beim Ölsandabbau ist ohne die Entfernung der Abbaustellen zu großen Städten mit kulturellem und Bildungsangebot, wie es sie hierzulande eben vielerorts gibt, kaum denkbar. Aber ist das First Nations-Thema wirklich wichtig in diesem Buch? Ich habe oft das Gefühl, Autoren wollen mit solchen Themen ihre Leser erziehen, in diesem Fall trügt es mich vielleicht. Jedenfalls ein spannender Krimi.

Gut.


Kultur in Hamburg

Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

Die Ausstellung "Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt" im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg geht der Frage nach, wie architektonische Lösungen das Leben von "Obdachlosen" besser machen können.

Besprechung hier.

Die neuen Bilder des Augustus. Macht und Medien im antiken Rom

Augustus, der erste römische Kaiser (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) bedient sich neuartiger Kommunikationsstrategien. Unter ihm entwickelte sich ein regelrechter Bilderboom.

Besprechung hier.


November 2022

Neue Krimis

Horst Evers, Bumm! Bastian Starck kommt ins Gefängnis, er soll seinen Nachbarn ermordet haben. Hermfried zu Dolmen erlebt, wie ein Teil seiner wertvollen Gemäldesammlung gestohlen wird. Im Jahr 1807 schreibt der Hauptmann von Tangermünde Briefe an seine Schwester, in denen es um ein geheimnisvolles Schwert und wertvolle Bilder geht. Im Jahr 1904 soll Kriminalassistent Ernst Gennat den "Franzosenmörder" fassen. Und Kommissar Stanislav Pils soll im Jahr 2043 einen Mord aufklären, der mit einer gentechnisch veränderten Mücke verübt wurde. Mehrere Geschichten, die einzeln gelesen werden können. Die aber miteinander zusammenhängen.

Evers hat eine Reihe Kriminalgeschichten geschrieben, jede einzelne liest sich gut, aber der Zusammenhang ist nicht ganz einfach einzusehen, das Ganze hätte etwas klarer sein können. Wie schon bei "Der König von Berlin" ist auch diese Geschichte phantastisch, und diese Überschreitung der herkömmlichen Grenzen literarischer Genres gelingt. Mir hat der Briefroman um den Hauptmann von Tangrmünde am besten gefallen. Nur hätte das Ganze etwas weniger wirr sein dürfen.

Wie finde ich den Krimi? Schwer zu sagen. Jedenfalls: Schwierig und lesenswert..

Kurt Palm, Der Hai im System. Franziska Steinbrenner unterrichtet an einer Brennpunktschule, trinkt heimlich und hat endlich den Sorgerechtsstreit um ihre Tochter gewonnen. Philip Hoffmann ist Polizist und betrügt seine schwangere Ehefrau mit einer hemmungslosen Messie-Frau, die ihn nun erpresst. Ein Mann sitzt mit einem Sturmgewehr und 42 Kugeln in seiner Wohnung mit Blick auf den Schulhof.

Auch Palm hat - wie Evers - einen Kriminalroman verfasst, in dem mehrere Geschichten miteinander verschränkt sind. Ein rasanter Thriller, kein Erwachsener ist wirklich sympathisch, aber man hofft und bangt. Absurd böse!

Sehr gut.

Eberhard Michaely, Frau Helbing und das Vermächtnis des Malers. Frau Helbing, ehemalige Fleischereifachverkäuferin und nunmehrige Hamburger Miss Marple, steht in einer Galerie und fühlt sich unbehaglich. Sie ist nur da, weil die Ausstellung eine Hommage (ein neues Wort für Frau Helbing) an ihren früheren Klassenkameraden Marcel Poisson, damals Karl Schnelling, ist. Er hat ein ordentliches Vermögen hinterlassen, obwohl er gar nicht richtig erfolgreich gewesen zu sein schien. Seltsam. Außerdem wird während der Vernissage in die Villa des Künstlers eingebrochen. Dessen hinterbliebener Lebensgefährte Jacques bittet Frau Helbing um Hilfe. Aber als sie in der Villa eintrifft, liegt Jacques da - tot. Und dann wird auch noch bei Frau Helbing eingebrochen.

Eberhard Michaely ist Busfahrer für die Hamburger Hochbahn: Endlich, bei Frau Helbings viertem Fall, deckt der Verlag den "Brotjob" des Autors auf. Der passt gut zu seinen Krimis, denn er ist Frau Helbing begegnet, als sie vom Wocheneinkauf auf dem Isemarkt  kam und in die Linie 5 stieg. Und inzwischen ist sie bei der Hamburger Polizei so bekannt, dass die Polizisten Wetten abschließen, ob sie diesen Mordfall innerhalb von zehn Tagen aufklärt. Auch diese Geschichte ist wieder eine angenehmes, harmloses Lesevergnügen. Gerade richtig, wenn man es nicht allzu böse will, sondern eine sympathische, mit beiden Beinen im Leben stehende Protagonistin mag, lebensklug und im besten Sinne neugierig.

Guter Krimi!

Oliver Bottini, Einmal noch sterben. Deutschland, Jordanien, Irak im Jahr 2003. Im zweiten Jahr nach 9/11 behauptet Informant "Curveball", dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen habe. Die USA bereiten ihren Einmarsch in den Irak vor. Deutschland will sich nicht beteiligen. Ein französischer Agent und eine deutsche BKA-Beamtin bekommen Hinweise darauf, dass die Informationen von Curveball falsch sind. Wären sie wirklich falsch, könnte diese Information den Krieg verhindern. Nun soll BND-Agent Frank Jaromin nach Bagdad und dort die Beweise der Informantin des Franzosen sichern. Kriegstreiber wollen genau dies verhindern, und Jaromin gerät in Gefahr.

Nicht ganz einfach, dieser Thriller: Bottini arbeitet von Anfang an mit mehreren Personen und Orten, und das muss man sich erst einmal merken. Aber mit der Zeit kommt man rein. Mit ihm rätstelt man, wer Informant ist, wer Verräter ist, man hofft und bangt. Bottini ist es gelungen, die Kriegstreiberei gewisser Gruppen in einen Thriller zu verkleiden und dadurch glaubwürdig zu machen. Ein bisschen zu lang - eigentlich ist Jaromins Familiengeschichte nicht wichtig, auch nicht die der BKA-Beamtin. Dennoch:

Sehr guter Krimi.


Oktober 2022

Neue Krimis

Matthias Wittekindt, Die rote Jawa. Der dritte alte Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz, dem Mann ohne Vornamen. Wittekind schreibt auch dieses Buch aus der Sicht des alten Mannes, der sich an einen Fall aus seiner aktiven Laufbahn erinnert. Während im vorangangenen Band die Erinnerung in der Auseinandersetzung mit seiner Tochter, Anwältin, geweckt wurde, sind es diesmal die Fragen seines 14-jährigen Enkelsohnes, die Manz beim gemeinsam gefeierten Weihnachtsfest in die Vergangenheit bringen. Er erzählt dem Jugendlichen, wie es kam, dass er Kriminalpolizist wurde: Er ist 16 Jahre alt, lebt mit seiner Mutter in Berlin-Pankow, will eigentlich Matrose werden und absolviert stattdessen ein Praktikum bei der Feuerwehr auf dem platten Land in Mecklenburg-Vorpommern. Dort erlebt er, wie nach einem Brand zwei Leichen gefunden werden. Die Polizei vor Ort arbeitet nicht gut, und der junge Manz findet Spuren.

Wittekindt spielt hier mit drei zeitlichen Ebenen: Der elfjährige Manz denkt über Weihnachten oder genauer: eine Weihnachtskrippe und Engel nach, der 16jährige Manz denkt über ein totes Ehepaar nach und der alte Manz denkt über das Leben und das Alter nach. Wittekindt verspinnt die Ebenen auf kluge Weise, was eigentlich erstaunlich ist, denn es gibt eigentlich keinen Grund für eben diese Erinnerung. Aber es passt. Der Leser folgt Manz´ Gedanken, der Alte erzählt seinem Enkel nicht alles (war da was mit Maja?) und der 16-Jährige weiß zwar, offenbar angeborenerweise, wie wichtig Sorgfalt, Hartnäckigkeit und Logik beim Lösen eines Falles sind, lernt zwar, was Sex ist, aber er ahnt erst langsam die Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben, und trotz der Diskussionen mit dem Vater/Onkel ist er in politischen Fragen ganz naiv - zum Glück gibt es jemanden, der ihn im Jahr 1961 von Ost- nach Westberlin bringt. Wittekindt hat ein Buch geschrieben, was ebenso ein Coming of Age-Roman wie ein Krimi ist, er lässt den Leser teilhaben an den Unvollkommenheiten und Widersprüchen einer Recherche. "Die rote Jawa" ist ein langsames Buch, was mich von Anfang an gefangen genommen hat.

Sehr gut.

Gloria Gray, Grüße aus Bad Seltsham - Vikki Victorias zweiter Zwischenfall.  Dies ist der zweite Band der Vikki Victoria-Reihe von Gloria Gray und Robin Felder (der Co-Autor wird auf der letzten Umschlagseite geannt). Die Sängerin und Entertainerin hat inzwischen eine eigene Sendung für eine genau auf sie zugeschnittene Kosmetikkollektion bei einem Homeshopping-Sender. Dann ist plötzlich ihr Chef Olaf tot - mit einem Handy im Mund und Vikki gerät bei der Polizei von Bad Seltsham unter Mordverdacht. Also versucht sie, den Mord aufzuklären. Ihre internetaffine Teenager-Nachbarin Kathi und ihr Ex-Freund, der Motorradrocker Wolfi, helfen ihr wieder.

Auch der zweite Fall, nein: Zwischenfall von Vikki Victoria macht wieder großen Spaß. Die Geschichte ist an einigen Stellen etwas konstruiert, so etwa der Grund für den Mordverdacht oder auch für Elyas und Erol. Und von den 377 Seiten hätte man 100 streichen können - zwar hat Gray Humor und lacht auch gern über sich selber, schreibt gut, und nimmt mit Warmherzigkeit political correctness aufs Korn. Aber so gern man das liest, es ist doch recht viel; die Handlung könnte etwas stringenter sein.

Gut.

Eva Rossmann, Tod einer Hundertjährigen. Im rauhen Hochland von Sardinien werden die Menschen besonders alt. Das reizt Wissenschaftler und Scharlatane. Tzia Grazia stirbt mit hundertzwei Jahren und ihre beste Freundin behauptet, sie sei ermordet worden. Die Wiener Journalistin Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krainer ermitteln, treffen einen alten Schauspieler und allerhand andere Leute, noch jemand stirbt, und es wird gefährlich.

Schöne Landschaft, gutes Essen, nur leider zwei Tote. Trotzdem eine heile Welt: Mira Valensky hat einen netten Mann, der ihre journalisichen Fehlzeiten finanziell gern ausgleicht und gelegentlich für sie recherchiert; sie und ihre beste Freundin sind ein gutes Ermittlerpaar, das Vorurteile über den Haufen wirft - die Putzfrau hat inzwischen ein Reinigungsunternehmen und eine süße Enkeltochter und ist überhautpt sehr klug -, Familien halten trotz gelegentliche Streitereien zusammen, das Essen ist großartig. Die Reihe um Mira Valensky hat vielleicht keinen besonderen Tiefgang, ist aber eine nette Lektüre.

Ganz gut.

Hans-Werner Honert, Irrwisch. Maria und ihr Mann kamen bei den Dreharbeiten für einen Film wohl den Hintermännern des Mordes am Chef der Deutschen Treuhand, Detlef Carsten Rohwedder, zu nahe: Bei der Filmpremiere in Toronto wurde Marias Mann erschossen. Den nächsten Film dreht Maria allein, es soll um den Mord am ehemaligen Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, gehen. Sie fürchtet, es könnte gefährlich werden, aber dann eilt ihr Vater ihr zur Seite, ebenso wie Katja, die Adoptivtochter eines ehemaligen Stasi- und späteren CIA-Agenten. Es wird gefährlich.

Eigentlich eine gute Idee. Aber nicht gut geschrieben: Nervige Dialoge, mit denen Hintergründe erklärt werden  (33 u.ö.), häufig weiß man auch nicht, wer gerade spricht, der Text ist schlampig gesetzt (38, 59 u.ö., aber das war wohl der Verlag), Rechtschreibfehler (9: verfuckt, 43: Niemand anderem statt niemand Anderem, etc.) unglückliche Wortwahl (45: ein Klaus Schwimmer ist untergetaucht), logische Fehler (49: sie nimmt einen zweiten Schluck Wein und hält dann plötzlich inne, aber 50: der Kellner greift nach dem leeren Rotweinglas; 23: sie findet ihren schwarzen Lammfellmantel in einer Umzugskiste, 59 erinnert sie sich an einen Lammfellmantel, der in einer der Kisten liegen müsste, die noch nicht ausgeräumt waren.) Am Ärgerlichsten ist das Frauenbild, ständig kommen Väter und helfen ihren erwachsenen unwissenden Töchtern; die Personen sind unglaubwürdig. Die Lektüre machte keinen Spaß, ich habe auf S. 109 aufgegeben.

Nervig.


September 2022

Kunst in Stuttgart

Am 29. September eröffnete Kunsthistorikerin Stefanie Sauerhöfer im Haus der Wirtschaft in Stuttgart die Ausstellung "WEGE - Nordsee" von Müller & Sohn. Irene Müller und Diethard Sohn reisten ins Wattenmeer und ließen Wind und Meer mit Tüchern und Netzen spielen. Sie nähten und zeichneten, filmten und malten, schnitten, sägten und klebten. Was so alltäglich klingt, mündete nun in eine beeindruckende multimediale Schau eines Mikrokosmos aus Fischen, Stoffen, und noch viel mehr, überraschend und überwältigend. Nichts wie hin! Bis zum 27. Oktober, Montag bis Freitag, 10 bis 18 Uhr.

Kunst in Berlin

Die Berliner Gemäldegalerie zeigt derzeit die Ausstellung "Donatello. Erfinder der Renaissance". Sie war zunächst in Florenz zu sehen, ist noch bis zum 8. Januar 2023 in Berlin, und danach geht sie nach London. Donatello lebte von 1386 bis 1466 und war einer der Begründer der italienischen Renaissance, er verband mittelalterliche Tradition und wissensorientierte Weltanschauung. Beeindruckend die Skulpturen von David, die Reliefs, die Arnbeit mit Perspektiven. Aber wirlklich unvergesslich ein überlebensgroßer Pferdekopf, Fragment eines unvollendeten Reiterdenkmals. Es ist so unheimlich, dass mir bei dem Anblick eine Gruselgeschichte einfiel, in der es um ein Pferd mit Zauberkräften ging. Dabei ist die Lektüre sicherlich 40 Jahre her. Aber Donatellos Pferdekopf wirkt wie ein entsetzlich lebendiges Riesenwesen.

Kunst(gewerbe) in Hamburg

Noch bis zum 31. Oktober zeigt das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg die Ausstellung "Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion". Mehr dazu hier.


Neue Krimis

Wolf Haas, Müll. Wien, ein Müllplatz, ein Knie taucht auf. Ausgerechnet in Wanne 4, indiehinein nur Sperrmüll gehört. Die Müllmänner machen sich auf die Suche und finden weitere Körperteile, nur ein Organ fehlt, was aber anfangs niemand bemerkt. Dann kommt die Polizei - und einer der Polizisten erkennt in einem der Müllmänner seinen früheren Ausbilder, Brenner. Der ist seit Jahren nicht mehr bei der Polizei, seitdem wurstelt er sich so durchs Leben und muss wider Willen lauter Kriminalfälle lösen. Nun arbeitet Brenner auf einem Müllplatz, lernt eine junge Dame namens Iris kennen und eine ältere Frau, die Juristin ist, und muss sich mit den Unterschieden in der Gesetzgebung zu Organspende in Deutschland und Österreich auseinandersetzen.

Ein herrlich skurriler Krimi, wie schon seine Vorgänger in der Reihe um Ex-Polizist Simon Brenner. Das fängt schon beim Tonfall an: Der Erzähler erzählt nicht nur, sondern kommentiert dauernd die Geschehnisse, indem er den Leser anspricht ""frage nicht", "ja was glaubst du", und so weiter. Genau so absurd die Körperteile in den Müllwannen, in die sie nicht hineingehören. Und trotzdem eine ernsthafte Geschichte, in der es um Wohnungsnot, Organspende und letztlich den Umgang mit Schuld geht.

Toller Krimi.

Max Annas, Morduntersuchungskommission - Der Fall Daniela Nitschke. Dies ist der dritte Band der Reihe um Oberleutnant Otto Castorp - inzwischen in Berlin - und die Morduntersuchungskommission. Annas erzählt drei Geschichten parallel, sie sind miteinander verflochten: Castorp seine Kollegen recherchieren zwei Morde, an einem einzigen Tag wurden zwei Leichen gefunden, ein Besucher aus dem Westen und eine Bürgerin der DDR. Die Stadt ist unruhig, Ronald Reagan sagt öffentlich zu Gorbatschow "Tear down this wall", die Menschen drängeln sich an der Mauer, und zumindest der Westler scheint mit Südafrika und dem ANC zu tun gehabt zu haben. Erika Fichte arbeitet bei der Stasi, und obwohl sie "bloß" Sekretärin ist, wird sie damit beauftragt, dem Verschwinden ihres Chefs nachzuspüren. Und ein schwarzer Jazzmusiker, Bassist Billy Ndlovu, bemerkt bei einem Konzert, dass er von einem Buren verfolgt wird.

Der Krimi ist sehr spannend, das Thema unbekannt - wer weiß schon von den Beziehungen zwischen DDR und Südafrika/ANC?! Dieses Buch unterscheidet sich von den beiden ersten Bänden der Serie: Annas erzählt eine Geschichte von Politik und Verrat aus drei Perspektiven. Zum ersten Mal tritt ein Ich-Erzähler auf. Und im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Bänden ist dieser hier kein Roman über einen tatsächlich ermordeten Menschen - zumindest geht es zunächst aus nichts hervor. Dennoch ist das Buch düster, viel mehr als die vorangegangenen Bände.

Toller Krimi.

Josef Kleindienst, Mein Leben als Serienmörder. Ein Mann, eigentlich Schriftsteller, bekommt ein Angebot: Er soll den Serienmörder in einem Film spielen. Aber irgendwie behagt es ihm nicht, es wird ihm regelrecht unheimlich: Alle Menschen halten ihn für die passende Besetzung - warum bloß? Dann findet er heraus, dass seine Rolle ein reales Vorbild hat - der echte Serienmörder sitzt im Gefängnis und schickt ihm einen Brief. Tja, und dann, nach Abschluss der Dreharbeiten, gehen die Leute vom Film feiern. Und - danach? Der Erzähler weiß nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist. Er weiß bloß, dass er mit dem Produzenten unterwegs war. Und dann wird die Leiche einer Prostituierten gefunden.

Der Ich-Erzähler hadert mit seiner Rolle, und eigentlich auch mit seinem Leben, er lässt sich treiben. So verreist er mit einer Franziska, aber es scheint die beiden nichts wirklich zu verbinden. Dann nimmt er des Geldes wegen eine Rolle an, vor der er sich fast ein wenig zu fürchten scheint. Er trifft Menschen, ohne das ihm das wichtig zu sein scheint. Man könnte denken, das sei langweilig, aber tatsächlich hat Josef Kleindienst einen sehr originellen und überaus komischen Krimi geschrieben.  Ein Mann stößt zu den Dreharbeiten und frage, was denn gedreht werde. "´Ein Krimi, Ich bin übrigens der Mörder.` ´Ach, Sie sind berühmt?`" Der vermeintliche Mörder stolpert von einer komischen Situation in die nächste, tut was man ihm sagt und versteht nichts von dem, was ihm geschieht. Ist er der Mörder? Letztlich stellt der Krimi auch die großen Fragen nach Erinnerung und Identität.

Sehr gut.

Ingo Bott, Falsche Zeugen. Der zweite Fall der Anwälte Dr. Anton Pirlo und Sophie Mahler: Sie sollen Faruk Maliki verteidigen - der gehört zum albanischen Maliki-Clan und soll den rechten Rocker Rainer Waßmer erstochen haben. Alles spricht gegen ihn - die beiden hatten sich öffentlich gestritten, Maliki hatte Waßmer bedroht, und dann liegt Waßmer tot da mit einem Messer im Laub, Maliki kniet vor ihm - und versuchte zu helfen, sagt er. Schwierig genug, und dann habe Pirlo und Mahler auch noch privates Chaos: Irgendwie hat Pirlos Familie, selber ein Clan und ängstlich von ihm geheim gehalten, die Finger im Spiel, und eine sehr attraktive Frau taucht auf und verdreht ihm den Kopf. Sophie Mahlers Star-Anwalt-Vater will sie als Nachfolgerin, und ihr Freund will sich unbedingt mit ihr verloben.

Der Fall zieht sich von November bis März, und wie schon im ersten Pirlo-Band gibt das Strafverfahren die chronologische Struktur des Krimis. Das ist ungewöhnlich und ein Markenzeichen des Autors, der selber promovierter Jurist und Fachanwalt für Strafrecht ist. Er achtet darauf, dass die juristischen Details stimmen, und das ist nicht nervig, sondern richtig gut - Schluderei oder Schummelei in Fachfragen kommt bei vielen Autoren vor und dabei wird der Leser verarscht. Bott dagegen arbeitet sorgfältig und es macht Spaß, das Ergebnis zu lesen. Pirlo und Mahler sind beide attraktiv und haben ein etwas chaotisches Privatleben. Es knistert zwischen ihnen- aber man arbeitet doch miteinander! Im ersten Band war Mahler die blutige Anfängerin, in diesem Band ist sie deutlich gereift, und irgendwann hat sie einen Stick mit Informationen und muss eine Entscheidung treffen zwischen einerseits dem Fall und andererseits, ja, Pirlo und ihrem Vater. Wieder: sehr spannend, sehr lustig, und es liest sich im Stakkato, auch wenn dieser Stil in diesem Band gelegentlich ein wenig übertrieben wirkt, der letzte von mehreren Stakkato-Sätzen könnte auch mal wegfallen. Trotzdem: Ich bin gespannt auf Pirlo/Mahler Nummer 3: Soll im August 2023 erscheinen. Weiter so!

Sehr gut.


August 2022

Neue Krimis

Sybille Ruge, Davenport 160 x 90. Sonja Slanski betreibt in Frankfurt eine Inkassofirma, hat einen Loft und einen Liebhaber, einen russischen Oligarchen-Stiefvater und eine mercedessternförmige Narbe unter dem Auge, und sie boxt. Eines Tages betritt eine sehr elegante Dame ihr Büro und entpuppt sich als die Frau ihres Liebhabers. Die Dame beauftragt Slanski damit, eine kriminelle Anwaltskanzlei zu ruinieren, weil die sie in einer Patentangelegenheit betrogen habe. Slanski erpresst den Anwalt und erledigt den Auftrag. Dann taucht plötzlich eine junge Frau auf, Künstlerin, vielleicht Pornographin, die Slanski nähersteht, als diese denkt. Aber eines Tages liegt die junge Frau tot in Slanskis Atelier. Ermordet. Womöglich war Slanski gemeint.

Sybille Ruge hat ein mehr als ungewöhnliches Debut hingelegt. Tolle Geschichte, toll geschrieben: Rasanter Ton, ungewöhnliche Formulierungen (33: "Ihre Stimme hob sich leicht ekstatisch und sägte mir durch den Kopf"), Gesellschaftskritik, die so böse und lustig ist, dass sie nicht nervt, Selbstcharakterisierungen, nicht immer nur sympathisch aber witzig (111: Herkunft des Longboards). Man hofft und bangt mit ihr, und als sie am Schluss die post mortem-Ausstellung der Getöteten besucht, stockt einem angesichts des Ausstellungsstückes der Atem. Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und hoffe auf weitere Bücher von Ruge!

Toll.

Kerstin Ruhkieck, In deinen Augen der Tod. Olivia Bloch überlebt eine Geiselnahme, die für die anderen Beteiligten tödlich verläuft. Sie entwickelt ein Trauma und kehrt in ihr Heimatdorf zurück. Die Medien hatten sie verdächtigt, mit den Geiselnehmern gemeinsame Sache gemacht zu haben, und nun, im Dorf, sind die Menschen misstrauisch. Olivia Bloch hat das Gefühl, sie wird beobachtet, und irgendjemand scheint in ihrem Haus ein- und auszugehen. Die hochschwangere Tokessa taucht plötzlich auf und scheint ihre Hilfe zu brauchen. Ihr alter Verehrer Malte, inzwischen Journalist, will über sie schreiben. Olivia Bloch dagegen sucht verzweifelt nach ihrem besten Freund aus ihrer Jugendzeit, der vor ein paar Jahren plötzlich verschwunden war. Sie hat ein Geheimnis, und dem muss sie sich stellen.

Kerstin Ruhkieck hat einen höchst spannenden Thriller vorgelegt. Der Plot ist sehr intelligent konstruiert, das wirkt nicht konstruiert - das Buch zieht einen in seinen Sog. Man fragt sich, was Olivia Bloch in ihrem Heimatdorf eigentlich will, warum sie ihren alten Freund sucht. Mit der Zeit wird dann klar, warum - und das ist äußerst unheilvoll. Manchmal weiß der Leser mehr als die Protagonistin, manchmal weniger, und ein paarmal kommt ein Dreh in die Geschichte, der mehr als überraschend ist. Und das Ende gibt zu denken.

Sehr gut.

Wolfgang Hohlbein, Verderben - Kinder des Zorns. Wolfgang Hohlbein erzählt zwei Geschichten parallel. Deutschland: Kommissarin Conny Fesser ist auf den ukrainischen Gangsterboss Maxim Kutzow  angesetzt. Der veranstaltet eine Vernissage (er ist nicht nur attraktiv, sondern auch vielseitig) und dort entdeckt die Polizistin ein sehr junges Mädchen in überaus aufreizender Kleidung. Sie glaubt, dass es nicht freiwillig dort sei und will es befreien. Das ist aber nicht so einfach und sie stellt fest, dass sie ausgerechnet Kutzows Hilfe braucht. Russland: Marc und seine beiden Freunde Alex und Ben besichtigen St. Petersburg, kaufen Marihuana - und das geht schief. Sie flüchten in die U-Bahn-Tunnel und machen dort eine Entdeckung, die sie in größte Gefahr bringt. Im Buch wechseln sich die beiden Geschichten kapitelweise ab, bis Hohlbein sie verbindet, und diese Verbindung ist mehr als überraschend.

Ein sehr spannender Thriller mit ein paar spektakulären Wendungen. Es geht auch um Politik, aber es ist nicht die Politik, die der Handlung den eigentlichen Sinn gibt, wie etwa bei Krimis von Wolfgang Schorlau oder Frank Göhre: Sie malt eher den Hintergrund für das Geschehen. Man bangt mit Conny Fesser, mit Marc, und man fragt sich, was das Geheimnnis des jungen Mädchens sein mag. Das Lesevergnügen wird allerdings getrübt durch ein paar Ungenauigkeiten (13: ein Traum von einem Frauenhaus! - Wie aber wird das finanziert? Und das Licht von Handy und Taschenlampe in den St Petersburger U-Bahn-Tunneln wird ewig lange schwächer, bis man sich hofft, dass dies verflixte Ding endlich ausgeht, nur damit man nichts mehr davon lesen muss.) Manche Wörter stimmen nicht 96: montieren, 199: Klopfbewegung; und der Autor sollte mindetens die Hälfte seiner Adjektive  durch Beschreibungen ersetzen (126: verrüc kte Laute 126). An einigen Stellen fragt man sich, ob es ein Thriller ist und nicht auch etwas von Phantastik hat, was, finde ich, nicht passt. Trtotzdem: Tolle Konstruktion, ein spannendes Buch.

Gut.

Helga Glaesener, Das Kind der Lügen. Hamburg, 1929. Die Hamburger Polizei hat eine Frau des Mordes überführt, sie wird verurteilt und hingerichtet. Signe von Arnsberg, wohlhabend, erscheint bei der Hamburger Polizei und meldet ihre kleine Tochter als vermisst: Diese sei nach einem Spaziergang mit ihrer Kinderfrau nicht ins Hotel Atlantic zurückgekehrt. Da von Arnsberg schon öfter bei der Polizei aufgetaucht war und immer ziemlich hysterisch war, nimmt man sie erst einmal nicht für voll. Nur Paula Haydorn, die seit einem Jahr eine der ersten weiblichen Beamten im Polizeidienst ist, glaubt ihr. Dann aber wird ihre Kollegin und gute Freundin Cora überfallen, ihr Vorgesetzter entgeht nur knapp einem Unfall. Mit der Zeit entwirren sich ein Gespinst von Unheil, das man nicht erwartet hätte.

Nach "Die stumme Tänzerin" ist dies der zweite Band um Paula Haydorn, die "aus gutem Hause " stammt und von ihren Eltern umabhängig sein will. Beim ersten Band fand ich die Figuren etwas hölzern, diesmal sind sie viel lebendiger. Glaesener erzählt mehr von ihrem Hintergrund, den Gründen für manchmal befremdliches Verhalten. Die Geschichte entfaltet sich auf dem Hintergrund der damaligen bürgerlichen Doppelmoral und man sieht, alles ist noch viel schlimmer als man ursprünglich gedacht hatte. - Ein seltsames Zusammentreffen: Meine Eltern lebten in Hamburg und waren im Jahr 1929 so alt wie das entführte Kind im Roman. Das hatt mich beim Lesen begleitet.

Gut.


Juli 2022

Neue Krimis

Jürgen Tietz, Berliner Monster. Berlin, Frühjahr 1947. Hans Adler ist ohne seinen linken Arm aus Russland zurückgekehrt und arbeitet wieder als Polizeikommissar. Berlin ist eine Trümmerlandschaft, Adler ist in einer Laube untergekommen. Es ist kalt, die Menschen hungern und frieren. Und nun wird schon die dritte Kinderleiche innerhalb weniger Monate geborgen. Adler recherchiert überall, aber es ist schwierig: Keines der drei Kinder wird vermisst, sein Chef scheint von Moskau gesteuert und eines Nachts stehen amerikanische GIs in Adlers Laube und nehmen ihn mit. Und dann verschwindet ein viertes Kind.

Jürgen Tietz ist ein spannender Krimi gelungen, der den Leser in die harte Nachkriegszeit mitnimmt: Man hungert und friert mit Hans Adler, erschrickt über den Überfall durch die GIs und bangt vor den Russen. Man ist erleichtert über die modernen Zeiten und das gute Leben im heutigen Berlin - und denkt unwillkürlich an die Menschen in der Ukraine im Krieg, heutzutsge ist ein Krimi, der in einem (Nach-) Kriegsgebiet spielt, besonders schwer zu ertragen. Nur wenig ist zu bemängeln: Man "lacht" keine Sätze (161 und noch viel öfter), sondern man "sagt" etwas. Mehrere Krimis, die ich in den vergangenen Wochen gelesen habe, haben diesen Lapsus, dabei ist dies so ziemlich das erste, was einem im Volontärskurs (oder Schreibtraining?) beigebracht wird. Und ein Vogel hat kein Maul, sondern einen Schnabel (277), Kraniche schnattern nicht (das tun Gänse), sondern sie trompeten (302). Trotzdem: Ein Krimi, der sich lohnt.

Gut bis sehr gut.

Karina Ewald, Bitterwasser. Carolin Halbach übernimmt die Leitung der Bibliothek im neuen Kulturzentrum Bad Gastein. Aber dann, bei der feierlichen Eröffnung, wird der Chefarzt der Kurklinik ermordet. Die Häppchen waren vergiftet. Die Polizei vermutet Sabotage - schließlich war das Kulturprojekt bei den Gasteinern ziemlich umstritten. Dann wird eine Mitarbeiterin von ihr verhaftet. Carolin Halbach dagegen glaubt an ihre Unschuld. Und sie vermutet einen gezielten Anschlag. Doch auf wen, wenn so viele Häppchen vergiftet waren? Der nette Polizist glaubt ihr nicht so recht, also recherchiert sie einfach selbst. Und gerät dabei in größte Gefahr.

Ewald hat einen kurzweiligen Krimi geschrieben. Zwar nicht immer ganz logisch (dass Halbach manche Beobachtungen, Geschehnisse etc. der Polizei nicht meldet, ist unter den beschriebenen Umständen eigentlich unwahrscheinlich (162, 200, 257ff)). Und, eine Stilfrage, warum wird Carolin Halbach immer beim Vornamen genannt? Dennoch, es ist eine schöne Geschichte mit hauptsächlich netten Charakteren, einem malerischen Umfeld aus Bergen und Belle Epoque-Bauten und ein paar attraktiven Männern, die an der Protagonistin Interesse zu haben scheinen. Außerdem ist mir der Krimi schon deshalb sympathisch, weil er Partei nimmt für Kulturzentrum und Bibliothek, und gegen Disko und schnelles Geld. Kurz: Ein Krimi, der leicht zu lesen ist und Spaß macht, für ein verregnetes Wochenende.

Ziemlich gut.

Dina El-Nawab und Markus Stromiedel, Zusammen stirbt man weniger allein. Lizzi Bergmann ist eine Anwältin, die gern aneckt. Und als sie nach einem langen Arbeitstag in der Kanzlei (Anpfiff vom Chef) und drei Stunden in einer nahe gelegenen Kneipe (zwei Bier und ein Caipirinha) nach Haus kommt, überrascht sie ein attraktiver Mann in ihrer Wohnung und behauptet, ihr Vater habe ihn engagiert, um auf sie aufzupassen. Nicht umsonst: Lizzis Vater ist verschwunden und irgendjemand scheint zwei Profikiller auf Lizzi angesetzt zu haben. Die Anwältin und der Personenschützer machen sich auf die Suche.

Ein  rasanter Plot, der Spannung verspricht: Eine hochfahrende Anwältin, ein attraktiver Personenschützer und ein verschwundenener Vater, der anscheinend eine ganze Reihe Geheimnisse vor seiner Tochter hatte. Man möchte wissen, was dahintersteckt und wie es weitergeht. Das Ganze könnte ein spannendes Drehbuch geben, aber für einen fesselnden Krimi ist es nicht gut genug geschrieben: "Ständig behauptete ihr Vater, dass er sie liebte. Aber was bedeuteten schon schöne Worte? Da war es wieder, das bedrückende Gefühl der Einsamkeit..." (28) Man "lächelt" keine Sätze (50). Und so weiter. Lizzi ist in nervtötender Weise überkandidelt, der Personenschütze zu brav.  Immerhin: Lustig eine Szene wie der Dialog, als Lizzi den Polizeinotruf wählt und sich ein Missverständnis entspinnt (46f). Vielleicht kommt noch mehr Gutes dazu, ich schaffte es bis Seite 105. Aber eigentlich hoffe ich auf einen spannenden Film - die beiden Autoren sind erfolgreiche Drehbuchautoren.

Nicht so gut.

Ivar Leon Menger, Als das Böse kam. Juno, 16 Jahre alt, lebt mit Mutter, Vater und dem kleinen Bruder Boy auf einer Insel. Wenn einmal im Monat Onkel Ole zu Besuch kommt, müssen die Kinder sich verstecken. Und nur der Vater darf die Insel einmal im Monat zum Einkaufen verlassen. Die Eltrn sagen, dass auf dem Festland Fremdlinge leben, sie würden die Familie töten. Darum gibt es einen verborgenen Schutzraum mit Vorräten, darum müssen die Kinder regelmäßig üben, sich zu verstecken. Aber dann entdeckt Juno einen jungen Mann auf der Insel.

Auch dieses Buch hat einen tollen Plot: Eine Familie, die vollkommen zurückgezogen auf einer Insel lebt und von irgendwem oder irgendetwas bedroht wird. Man fragt sich, worin die Bedrohung besteht , einmal gibt der Vater Juno eine Erklärung (66), aber stimmt sie? Und warum kommt der Vater einmal besudelt mit Blut nach Hause? Das sollte eine spannende Geschichte sein, aber das Buch zieht nicht mit, Junos Bravheit und Naivität wären eigentlich nachvollziehbar, aber sie wirken nicht glaubwürdig, und ihre einsetzende Pubertät auch nicht (56), ebensowenig viele Handlungen (läuft nachts im Nachthemd raus, 71ff, 87, schlingt die Arme um den Körper und läuft, 73) Ich habe es bis Seite 122 gelesen.

Nicht so gut.


Juni 2022

Neue Krimis

Henri Faber, Kaltherz. Marie, fünf Jahre alt, ist verschwunden. Dabei war ihre Mutter Carla nur acht Minuten fort gewesen. Nun ist Carla völlig durch den Wind und ihr Mann Jakob ihr gegenüber eiskalt. Kommissarin Kim Lansky war eigentlich rausgeflogen, aber ihr Kinderfreund Theo Rizzi, auch bei der Polizei, engagiert sie wieder. Nun arbeitet sie in der Vermisstenabteilung und macht sich daran, das Rätsel um die kleine Marie zu lösen.

Schon mit "Ausweglos" hatte Henri Faber einen sehr spannenden Thriller vorgelegt, in dem die Beteiligten aus ihrer Sicht den Ablauf der Ermittlungen schildern, bis zur sehr überraschenden Auflösung am Schluss. Das bewährte Rezept greift er in Kaltherz wieder auf: Auch dieser Thriller ist klug konstruiert und sehr spannend, hat keinen übermäßigen Tiefgang, aber liest sich sehr gut. Rund 400 Seiten Lesevergnügen.

Wolf Harlander, Schmelzpunkt. Es ist zu warm in Grönland. Nanoq Egede, Touristenführer, findet bei einem Ausflug sehr viele tote Fische. Ein Gletscher kalbt und überflutet ein Dorf. Die deutsche Wissenschaftlerin Hanna Jordan reist in den Norden und bestätigt, dass die gefundenen Fische keines natürlichen Todes gestorben sind. Die Wirtschaft mischt sich ein. Und die Politik - Russen und Chinesen sind vor Ort und niemand durchschaut ihr Spiel.

Tolles Thema, toller Plot, viel Abwechslung zwischen den "Spielorten" Grönland, Island, Bremerhaven, Berlin... Nur die Figuren bleiben irgendwie blass. Man wird nicht warm mit ihnen, fühlt und bangt nicht mit - dabei sind sie eigentlich spanned, vor allem Nelson Carius, der beim BND angeheuert hat, um dem seltsamen Verschwinden seiner Eltern nachzuspüren, und der, genau wie seine Kollegin Diana Winkels, auch schon bei Harlanders "Systemfehler" dabei war.

Bert Lignau, Singende Barsche. Bert Lignau erzählt seit November 2008 jeden Monat einen alten Kriminalfall aus Mecklenburg und Vorpommern im "kulturkalender" des Klatschmohn Verlages. Im Jahr 2016 wurden 48 Fälle auch als Buch veröffentlicht, mit dem vielsagenden Titel "Rübe ab! Der kriminelle Reiseführer durch Mecklenburg und Vorpommern" - seitdem ein Bestseller des Verlages. Das vorliegende Buch, "Singende Barsche" ist die Fortsetzung, auch in seiner Eigenschaft als Reiseführer, die 62 Fälle sind kapitelweise nach Gegenden geordnet und hinten befindet sich eine ausklappbare Landkarte mit den Tatorten.

Lingnau hat seinen Geschichten zur Einordnung eine kleine Illustration vorangestellt: Einen roten lachenden Barsch bei einer lustigen Erzählung, bei einer bewegenden dagegen einen weinenden schwarzen Barsch. So eine Führung kann man mögen, man kann sie aber auch als bevormundend empfinden. Von heutigen Lesern sollte man ohnehin erwarten können, dass sie in der Lage sind, sich selber ein Urteil bilden. Ich konnte das Urteil des Autors auch nicht immer nachvollziehen: Ein fälschender Notar mag lustig sein, aber dass er zum Tode verurteilt wurde, definitiv nicht (76ff); genausowenig die Hinrichtung eines rauflustigen Schankwirts (110ff). Auch der humorige Ton ("Die Flammen beleuchten hübsch die Szenerie und sind weder mit Wasser noch mit Bier zu löschen." 112) ist nicht jedermans Sache. Dennoch bietet das Buch kurzweilige Episoden aus der Geschichte der Gegend; es ist ein ungewöhnlicher Reiseführer durch Mecklenburg-Vorpommern.


Mai 2022

Neue Krimis

Kerstin Ehmer: Der blonde Hund. Berlin, 1925. Ein Mann öffnet die Tür zu einem Zwinger voller Dobermänner. In einem Kanal treibt ein Toter, im Leben Journalist des Völkischen Beobachters. Menschen gehen zu Wahrsagern - auch die Frau von Spiros Kollegen Bohlke, auch Spiros Freundin Nike. Der Nationalsozialismus liegt in der Luft. Manche Menschen sind Morphinisten. Viele scheinbar einzelne Gegebenheiten sind in Wahrheit Teil eines größeren Gebildes, eines unguten Gebildes.

Diese Zusammenhänge sind zugleich Stärke und Schwäche des Buches. Einerseits ist der geschichtliche Hintergrund spannend, unheilvoll, und Kommissar Spiro, dem politischerseits Steine in den Weg gelegt werden, hat alle Sympathien. Andererseits wird gelegenlich auf Hitler verwiesen, ohne dass der Name genannt würde, so dass man sich manchmal fast fragt, ob dieser Massenmörder nicht der Illustration dient. Der aufkommende Nationalsozialismus wirkt bedrohlich, ja, er ist Teil der Handlung, dennoch wirken manche Anspielungen gekünstelt. Insgesamt aber bin ich gespannt auf weitere Fälle - "Der blonde Hund" ist nach "Der weiße Affe" und "Die schwarze Fee" der dritte Fall um Kommissar Spiro.

Eberhard Michaely: Frau Helbing und der tote Fagottist. Frau Helbing und der verschollene Kapitän. Frau Helbing und die schwarze Witwe. Die "schwarze Witwe" ist Frau Helbings dritter Fall. Auf dem Plan getreten war Frau Helbing, als Henning von Pohl, Fagottist, in ihr Haus zog und sich dieser Nachbarschaft nur kurz erfreuen konnte, denn er starb sehr bald. Drei Wespenstiche in die Fußsohle können einem Allergiker sehr leicht den Garaus machen. Die Polizei, allen voran die hochnäsige Frau Schneider, wollten den Fall zu den Akten legen. Aber Frau Helbing liest, seit sie in Rente und ihr Mann tot ist, viele Kriminalromane und war sicher: Herr von Pohl wurde ermordet. Was soll man sagen? Frau Helbing hat natürlich alles aufgeklärt! Frau Helbings zweiter Fall führte die ehemalige Fleischereifachverkäuferin ins Pflegeheim. Eigentlich wollte sie bloß ihre ehemalige Nachbarin besuchen. Aber dann begegnete sie Fiete Jacobsen, dem früheren Anglerfreund ihres verstorbenen Mannes. Und kaum verließ Frau Helbing das Pflegeheim, stürzte Fietes Betreuerin aus dem Fenster und starb, direkt neben Fau Helbing. Und dann verschwand Fiete - ausgerechnet aus dem "Silbersack" in Sankt Pauli. Frau Helbing ging wieder auf Recherche und die Polizei konnte nicht verhindern, dass sie auch diesmal wieder alles aufklärte. Und nun der dritte Fall: Herr Aydin hat Magen-Darm. Herr Aydin ist der Änderungsschneider, der die Räumlichkeiten übernommen hat, in denen Herr und Frau Helbing früher ihre Fleischerei führten. Nun besucht Frau Helbing immer Herrn Aydin, um bei ihm eine Tasse Tee zu trinken. Und als er krank ist, vertritt sie ihn. Dabei bekommt sie mit, dass der neue und nichtsnutzige Hausbesitzer die Mieten erhöht und die alten Bewohner rauszuekeln versucht.  Und dann, tja dann verstirbt der Besitzer. Angeblich ein Autounfall, aber Frau Helbing weiß bald mehr!

Die Bücher um Frau Helbing sind nette harmlose Krimis mit viel Hamburger Lokalkolorit. Eberhard Michaely hat viel Sinn für Situationskomik (Frösche küssen S. 114 ff). Man kann gar nicht andes, als Frau Helbing zu mögen. Schon weil sie immer etwas Sellerie zum Kartoffelstampf hinzufügt. Alle drei Bände sind gut, ich habe sie sehr gern gelesen, aber der dritte Band scheint ein bisschen unter Zeitdruck produziert worden zu sein, sie "hatte sich [...] festgelegt gehabt" ist falsch (S. 86) und Uwes plötzliches Geständnis (123) ist unglaubwürdig, und "Maximum an Interpretationsmöglichkeit" ist wohl kaum die Ausdrucksweise in Frau Helbings Gedanken (S. 141) - wobei mir die Idee mit Hugo Balls Lautgedicht allerdings sehr gut gefiel. Ich hoffe auf viele weiter Krimis um Frau Helbing - und lieber Herr Michaely und lieber Kampa-Verlag: Genießt den Erfolg und lasst Euch Zeit! Frau Helbing hat nur das beste verdient!


April 2022

Neue Krimis

Jan Costin Wagner: Am roten Strand. Ben-Neven-Krimi Nummer 2: Das Ermittlerteam um Ben Neven und Christian Sandner hat ein entführtes Kind befreit und einen Täter gefasst. Aber damit ist der Fall nicht gelöst, denn nun finden sie Hinweise auf ein Netzwerk von Tätern, die sich im Internet organisieren. Neven und Sandner ermitteln und setzen den ersten Verdächtigen in Untersuchungshaft. Aber der stirbt. Auch ein weiterer Verdächtiger stirbt. Nun müssen die Polizisten Täter schützen. Und ein Polizist muss sich selbst - oder andere vor ihm - schützen.

Wagner  schreibt aus verschiedenen Perspektiven, lässt mehrere Menschen berichten, ohne dass man immer weiß, wer diese Menschen sind. Schon das ist anspruchsvoll. Und er schreibt über etwas, das nicht sein darf. Dabei bleibt er aufrichtig, ehrbar - wie soll man es beschreiben? Wagner verzichtet darauf, den Leser zum Komplizen der Täters zu machen, obwohl man mitfühlt. Es geht bei diesem Krimi nicht um Nähe und Distanz, sondern um Urteilsfähigkeit auch in der Nähe, also gegenüber Personen, mit denen man als Leser mitfühlt, gegenüber einem Polizisten und auch gegenüber der Freundin eines anderen Polizisten. Wagner hat ein schwieriges Thema aufgegriffen. Und dann ist er auch noch sehr spannend. Toller Krimi.

Alfred Bodenheimer: Mord in der 29. Straße. Jerusalem, Corona-Lockdown. Die Knesset-Abgeordnete Ruchama Wacholder und ihr Mann Gil werden auf offener Straße erschossen. In der  Straße des 29. November, die an das Datum im Jahr 1947 erinnert, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen für die Teilung Palästinas und somit die Errichtung von zwei Staaten stimmte. Ein Mord aus Islamismus? Aus Parteipolitik? Die Polizeipsychologin Kinny Glass will ermitteln, dabei belastet sie der Fall seelisch: Ihr Ex-Mann Ariel hatte mit Gil zusammengearbeitet. Und dann will der Inlandsgeheimdienst übernehmen. Glass hat einen Ex-Mann, eine erwachsene Tochter, gelegentlich einen Liebhaber - wie tief das geht, das weiß sie selber nicht so genau. Der Lockdown ist angeordnet. Die Tochter bekommt den ersten Job, die Mutter vermutet, per Protektion, womit sie nicht glücklich ist: Viel Drumherum.

Bodenheimer, Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte, hat schon mehrere Krimis verfasst: Sechs Bücher um Rabbi Klein, der in Zürich die Nase in die Polizeiarbeit hineinsteckt. Jetzt hat er mit Kinny Glass die Hauptperson und mit Jerusalem den Ort gewechselt. Glass ist eine moderne Frau, Israel ein moderner Staat. Aber es hakt an so vielen Stellen, es knirscht. Und dann diese Morde mitten im Lockdown. Wer war der Täter, was war das Motiv? Diese Spur  wird verfolgt, jene Spur wird verfolgt, erst ganz am Schluss kommt alles raus. Die Spannung hält, man mag Kinny Glass, vielleicht hat sie ein paar Baustellen zu viel, aber alles ist stimmig, sie ist sympathisch und man bangt mit ihr. Sehr gut bis gut.

Mark Benecke: Viral. Blutrausch. Bastian Becker hat Alpträume. Der ehemalige Polizist wirft sich falsches Verhalten und damit die Schuld am Tod eines Menschen vor. Er hat den Polizeidienst quittiert und ist Ermittler geworden. Manchmal wird er von seiner alten Chefin engagiert. So auch diesmal: Die Leiche einer jungen Frau wurde gefunden, und ihr fehlt fast das ganze Blut. Dann geschieht ein weiterer Mord, mehr: Eine ganze Mordserie erschüttert die Stadt. Becker und seine Partnerin Janina Funke machen sich an die Recherche. Aber sie werden behindert, und zwar von ganz oben.

Das Setting für diesen Krimi ist wirklich ungewöhnlich - genaueres soll hier nicht verraten werden. Autor Benecke, seines Zeichens Kriminalbiologe, hat sich auch im wirklichen Leben mit dieser Szene beschäftigt und dazu diverse Interviews gegeben. Er hat mehrere Sachbücher verfasst, diesen Kriminalroman schrieb er zusammen mit dem Journalisten Dennis Sand (Riva Verlag). Trotz Benekes Hintergrund und der Zusmmenarbeit mit einem professionellen Schreiber wirkt dieses Buch über weite Strecken etwas bemüht. Etwa, wenn Querdenker-Demonstrationen beschrieben werden - eigentlich nicht wichtig für die Handlung, ebensowenig Bastian Beckers Gedanken darüber: Politik wirkt wie Staffage. Und dass ein Minister auf der Polizeistation auftaucht, um einzugreifen (S.61f.), ist mehr als unwahrscheinlich, seit wann kommt der Berg zum Propheten. Die Autoren achten darauf, "Polizistinnen und Polizisten" (S.22), "Kolleginnen und Kollegen" (S.29) und so weiter - nervtötend. Wer wissen will, wie man richtig gut gendert, sollte "Identitti" von Mithu Sanyal lesen - großartiges Buch! Beneckes Krimi ist ungewöhnlich, aber nicht besonders spannend.


März 2022

Ukraine und Russland und die Möglichkeit, sich zu informieren

Angeblich unterstützen 70 Prozent der russischen Bevölkerung Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das liegt sicherlich auch an der dortigen Informationspolitik. Mit Langwellensendern könnte man russischsprachige Informationen rüberschicken. Als Alternative zum Internet, das oft gestört und zensiert wird. Zu dumm, dass Deutschland keine Langwellensender mehr hat.


Die Stuttgarter Kriminächte laufen - 18. März bis 1. April!


Neue Krimis

Matthias Wittekindt: Die Schülerin. Dies ist nach "Vor Gericht" der zweite alte Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz. Der genießt eigentlich den Ruderclub. Und dass eine gute Krankengymnastin seinen Rücken wieder hinbekommt, so dass er in seinem Garten Schwarzwurzeln stechen kann. Aber dann erzählt ihm seine Tochter Julia, Anwältin, von ihrem neuen Mandat. Und Manz kennt die Mandantin aus seiner aktiven Zeit als Polizist. Soll er seine Tochter warnen? Oder sich raushalten?

Die Reihe um Manz spielt immer auf zwei zeitlichen Ebenen: Der Ebene des Hier und Jetzt und der Ebene des Falles, zu Manz´ aktiver Zeit, dessen Bearbeitung nach und nach in Manz Erinnerung wieder hochkommt. Beide Ebenen sind sachlich und emotional miteinander verknüpft, und das macht alles besonders spannend. Bei diesem Fall, damals, war Manz´ Frau mit Julia schwanger und Julia wurde geboren, und Manz war vielleicht nicht ganz so aufmerksam wie normal. Und jetzt ist Julia Anwältin und Manz, der sich mit ihr gestritten hatte, erreicht eine fragile Versöhnung. Der Rückblick eine lakonische Betrachtung von Mobbing unter seltsamen Schülern auf einer seltsamen Schule und die Erinnerung an politische Korrektheit gegenüber Begriffen wie "Schwarzafrikaner", die eine Pressemitteilung erschwert, wenn die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wird und ein Mensch beschrieben werden soll. Das Jetzt der eben doch nicht abgeklärte Blick des alten Mannes. Einige Details des Berlin von 1978 stimmen nicht so ganz: Die Direktion 5 saß schon damals nicht in der Karl Marx Straße, sondern in der Friesenstraße. Und Drogenhändler afrikanischer Herkunft "arbeiten" erst in neuerer Zeit in der Hasenheide - in den 1970er Jahren waren es eher Biodeutsche, später Palästinenser. Das Ganze dürfte ein Kunstgriff sein, um die Kritik aus politischer Korrektheit gegenüber dem Gebrauch von Wörtern wie "Schwarzafrikaner" seinerseits zu kritisieren (S. 211 u.ö.) Nachvollziehbar, aber die historische "Schummelei" lässt den Leser stolpern. Aber wie dem auch sei, der Krimi ist sehr gut, spannend, vielschichtig: Wittekindt wird immer besser.

Sehr gut.

Yassin Musharbash: Russische Botschaften. Die Investigativjournalistin Merle Schwalb wird nach einer Reihe richtig guter Artikel, etwa über Steuerbetrug bei Evangelikalen, befördert. Als sie im Beförderungsgespräch sitzt, in einem arabischen Imbiss in Neukölln, fällt ein Mann vom Balkon. Schwalb will darüber schriben, aber: Der Mann ist offiziell gar nicht tot. Warum wird sein Tod verschwiegen? Wer will diese Geschichte verhindern? Schwalb trommelt ein Team von investigativen Journalisten zusammen, mietet eine Unterkunft auf dem Land und sie fangen an zu recherchieren. Es geht um kriminelle Clans, Polizei, Verfassungsschutz, und - den Kreml. Und investigativen Journalismus. Es passieren merkwürdige Dinge, Hacking, Einbrüche, Shitstorms. Verrat aus den eigenen Reihen, aber von wem? Sehr spannend, sehr wichtig, und sehr aktuell.

Musharbash kombiniert in sehr gelungener Weise Krimi - ein Verbrechen soll aufgeklärt werden - und Thriller - die Aufklärer geraten in Gefahr. Besonders spannend wird das Ganze, weil Musharbash eine Branche in den Mittelpunkt stellt, in dem er sich besonders gut auskennt: Investigativen Journalismus. Es geht um Journalisten, um ihre Integrität, die Recherche, die Mechanismen in großen Verlagshäusern und um Politik. Im Gegensatz zu vielen Autoren schreibt er kenntnisreich, die Geschichte wirkt glaubwürdig, es ist spannend. Und die russischen Botschaften sind leider sehr aktuell.

Sehr gut.

Gloria Gray: Zurück nach Übertreibling. Vikki Victorias erster Zwischenfall. Vikki Victoria, groß, blond, glamourös und ein Münchner Star, wird gewarnt: Toni Besenwiesler ist aus dem Gefängnis ausgebrochen. Und er will sich an ihr rächen. Also muss sie sich in Sicherheit bringen. Sie flüchtet in ihren Heimatort Übertreibling, dort wird Toni sie gewiss nicht vermuten - aber plötzlich wird´s auch da gefährlich. Und zwar nicht nur für Vikki.

Ein wirklich lustiger Krimi, das hat man selten. Und dann noch aus Sicht einer Transfrau, wo ein leider noch nicht ganz vorurteilsfreier Hetero doch glatt einen moralinsauren Vortrag erwartet hätte. Aber nein, das Buch macht einfach Spaß und liest sich weg wie nix. Ich bin gespannt auf Vikki Victorias nächsten Fall, nein, "Zwischenfall".

Sehr gut.

Wie es der Zufall so will, habe ich in diesem Monat drei Krimis gelesen, die erstens alle sehr gut waren und die zweitens - nach außen durch die Stimme ihrer Protagonisten, aber im Grunde wohl aus dem Herzen der Autoren - unterschiedliche Richtungen politischer Korrektheit kritisieren: Wittekindt lässt Polizisten der 1970er sich darüber wundern, dass sie nicht "Schwarzafrikaner" sagen dürfen (S. 211). Der Journalist Musharbash, der deutsche und jordanische Vorfahren hat, nimmt sich Clankriminalität genaus so wie Berichterstattung der Boulevardpresse darüber vor  (S. 25 ff.). Und Gray, die mit 18 aus dem Bayerischen Wald geflüchtet ist, um sich als Frau und Künstlerin verwirklichen zu können, schreibt aus Sicht von Vikki Viktoria mit demselben Lebenslauf (S. 24), welche die junge Generation toll (S. 23 f. u.ö.) aber Gendern affig (S. 33) findet. - Tja: DIE dürfen das. Ja, dürfen sie. Es bedeutet viel: Es ist nicht nur gegen den Strich gebürstet, sondern man ist dankbar, es aus der Feder "solcher" Menschen zu lesen. Denn: Was ist korrekt im Sinne von richtig? Und was ist eben bloß "politisch korrekt", also klingt bloß korrekt um der Öffentlichkeit willen, ist aber im Grunde bedeutungslos? Politische Korrektheit hat nur manchmal was für sich. Oftmals wird sie übergestülpt.

Ein Beispiel mit übergestülpter politischer Korrektheit aus eigener Erfahrung: Ich habe zweimal erlebt, dass ich einen Text abgegeben habe und der ohne mein Wissen - geschweige denn meine Erlaubnis - gegendert wurde. Das unterstellt mir im günstigsten Fall Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit und im ungünstigsten Fall Desinteresse oder gar Ablehnung der Sache der Gleichberechtigung. Damit eines klar ist: Ich finde die DISKUSSION ums Gendern großartig. Ohne sie wüsste ich nichts vom generischen Maskulinum - und ziemlich viele andere Menschen auch nicht. (Als ich das Frauenboxen Mitte der 1990er Jahre gegen den damaligen Deutschen Amateurbox-Verband durchsetzte, argumentierte ein (alter weißer) Mann aus dem Verband: Im Reglement stehe "der Boxer", und der sei nun einmal männlich. Dieser Mann, der Journalist, der darüber berichtete, und ich: Keiner von uns dreien schien vom generischen Maskulinum - das Männer, Frauen, Transgender, Diverse: einfach ALLE! meint - zu wissen. Ein Vierteljahrundert später weiß ich davon. Auch dank der Diskussion.) Aber ich gendere trotzdem nicht. Ich kämpfe mit den vorhandenen Waffen. Sprich: Ich setzte mich für die Gleichberechtigung ein, indem ich darauf poche, dass das generische Maskulinum gilt. Dass alle Menschen die gleichen Rechte haben.

Ach, nicht zu vergessen: Ich hoffe auf viele weitere ebenso gute Krimis.


Februar 2022

Kultur in Frankfurt

Städel Museum Frankfurt: 700 Jahre Kunst unter einem Dach. Frankfurt, und eine oder zwei freie Stunden? Nix wie ab ins Städel! Und dann: Sich treiben lassen. Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Bild „Goethe in der römischen Campagna“ mit den zwei linken Füßen und dem überproportional großen linken Bein bestaunen und sich fragen, wie dem Künstler so etwas hat passieren können – vielleicht wollte er Goethe eigentlich mit übereinandergeschlagenen Beinen malen und hat das unterwegs vergessen? Max Liebermanns „Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus“ betrachten und bemerken, dass mehrere von den jungen Waisen auch in der Freistunde sticken. Munchs „Eifersucht“ anschauen, rechts der brave Munch mit gesenktem Blick und links der vor Raserei grüne Stanislaw Przybyszewski, den die Literatin Dagny Juel, purpurrot in der Mitte, letztlich heiratete. Vor Franz von Stucks „Pietà“ mit der verzweifelten Maria vor dem toten Jesus zurückschaudern. Im Café dagegen, das Max Beckmann im „Café-Interieur mit Spielspiegel“ gemalt hat, einkehren wollen. Hat das Modell auf Ernst Ludwig Kirchner „Stehender Akt mit Hut“ die Schamhaare rasiert – ich dachte, das sei erst seit 10 oder 20 Jahren Mode. „Das Leben“ von Lise Gujer nach einem Entwurf von Kirchner ist eine großartige Wollweberei. Dann die Alten Meister: „Weibliches Idealbildnis“ von Sandro Botticelli bewundern, bei Canalettos „Ansicht des Bacino di San Marco in Venedig“ Fernweh bekommen, und sich fragen, was Tiepolos Portraitierter im „Studienkopf eines alten Mannes“ wohl erlebt haben mag – und Tizians Modell für das „Bildnis eines jungen Mannes“ wohl noch erleben wird. Ist Adam Driver vielleicht ein Nachfahre des Mannes aus Emden, den Ludolf Backhuysen gemalt hat? Und wie konnte sich die Frau, die Jan Cornelisz Verspronck im Sessel gemalt hat, mit ihrem Ungetüm von Halskrause bloß bewegen? Ein Zeichen von Reichtum – sie hatte genug Personal...
Lieblingsbilder: Friedrich Georg Weitsch „Bildnis einer unbekannten Frau“, „Venus“ von Lucas Cranach d. Ä., „Der Geograf“ von Jan Vermeer.
Fies: „Tanz der Ratten“ von Ferdinand van Kessel.

Am 2. März beginnt die Ausstellung: Renoir. Rococo Revival. Der Impressionismus und die französische Kunst des 18. Jahrhunderts. Ich bin gespannt!


Neue Krimis

Inken Witt: Warten. Leben. Sterben (Ein Fall für Isa Winter 1) Isadora Winter, 35, ist studierte Bildhauerin. Und nun Privatdetektivin. Sie ist gut in ihrem Job, denn sie kann warten. Und das macht nun mal 80 Prozent ihres Jobs aus. Bislang hat sie sich aus persönlichen Verwicklungen in ihre Fälle immer rausgehalten. Aber Katharina Schneider ist ihr sympathisch, und als sie ihren Mann mit einer Frau erwischt, mischt sie sich ein, damit er nicht fremdgeht. Daraufhin passiert sehr viel, sehr viel Schlechtes, und Katharina Schneider ist tot. Nun hält Isa Winter sich gar nicht mehr raus und handelt.

Inken Witt hat einen sehr spannenden Krimi geschrieben, dessen Handlung sich allmählich entwickelt: Ein uneheliches Kind, ein Politiker mit einem nicht ganz astreinen Privatleben, eine Reportage. Die Vergangenheit. Immer wieder Überraschungen in dem Fall, und auch das Setting stimmt: Berliner Lokalkolorit, aber nicht zu viel;  persönliches Kolorit, sprich: Typen, aber auch davon nicht zu viel. Isa Winter lebt mit ihrer alten Freundin Tina und ihrem pubertierendem Sohn in einer Kreuzberger WG. Sie hat nicht viele Freunde: Tina und ihren Taxi-und-alles-andere-Mentor Eugen. Sie will es so. Sie hat Sex mit dem verheirateten Polizisten Sebastian, was beim Arbeiten gelegentlich zu Verwicklungen führt. Ansonsten beobachtet sie die Menschen eher. Eine interessante Figur in der Krimiszene, ich bin sehr gespannt auf weitere Fälle.

Sehr gut!

Ralf Langroth: Ein Präsident verschwindet. Der zweite Fall um den Kriminalhauptkommissar Philipp Gerber und seine Freundin, die Journalistin Eva Herden, wieder mit einem historischen Hintergrund: Am 20. Juli 1954 verschwindet Otto John, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Kurze Zeit später taucht er in Ost-Berlin wieder auf. Philipp Gerber soll der Sache auf den Grund gehen. Daran hat er auch ein persönliches Interesse - denn auch Eva Herden ist verschwunden, und Gerber bekommt ein Foto, auf dem sie zusammen mit John zu sehen ist.

Historische Kriminalromane bergen immer ein gewisses Risiko, sie bieten eine Interpretation. Damit können sie auch eine Verschwörungstheorie aufnötigen, was gelegentlich ärgerlich ist. Aber Langroth hält sich mit so etwas zurück, naja, die Einstellung der Amerikaner zum BND ist vielleicht eine solche Theorie, aber wahrscheinlich eher nicht, sondern nachvollziehbar (S. 316). Die Handlung entwickelt sich, Gerber recherchiert, gerät in Gefahr, und man ist immer wieder überrascht. Man kann etwas für die eigene kriminelle Karriere lernen (ein gefälschtes Autokennzeichen ist Hinweis auf einen geheimdienstlichen Zusammenhang, gewöhnliche Kriminelle verwenden einfach ein gestohlenes Nummernschild, S. 160f.) Aber Türen - das sollte man sich für einen Einbruch merken - bricht man nicht mit der Schulter auf (S. 206), sondern man tritt sie ein. Manchmal schreibt Langroth auch etwas umständlich ("Sattler hatte mit diesem vorhersehbaren Manöver Zaunerts gerechnet und befolgte die vor einer halben Stunde erhaltene telefonische Anweisung, die ihm Dr. Ernst Brückner, der Leiter der Sicherungsgruppe Bonn, erteilt hatte." S. 202: Wenn Sattler mit dem Manöver gerechnet hatte, braucht man nicht extra zu schreiben, dass es vorhersehbar ist; außerdem ist der Satz schrecklich verschachtelt. Angenehm bei der Lektüre: Auch Eva Herden hat ein Eigenleben. Ach, und die Einschätzung der Arbeitsbelastung bei freien Journalisten (S. 343) spricht dafür, dass der Autor - er schreibt unter Pseudonym - sich damit durchaus auskennt. Und das Buch ist etwas langatmig, eine Kürzung um etwa ein Viertel hätte dem Ganzen gut getan.


Januar 2022

Kultur in Berlin

Anna Dorothea Therbusch. Eine Berliner Künstlerin der Aufklärungszeit. Noch bis zum 10. April in der Berliner Gemäldegalerie. Therbusch wurde im Jahr 1721 in Berlin geboren. Ihr Vater bildete sie und ihre Geschwister in der Malerei aus, aber sie heiratete einen Gastwirt und bekam fünf Kinder! Also: keine Zeit zum Malen. Erstmal. Aber ab ihrem 40. Geburtstag widmete sie sich umso energischer der Malerei und unternahm mehrjährige Reisen an süddeutsche Fürstenhöfe und nach Paris. Und mit 46 Jahren gelang ihr als eine von sehr wenigen Frauen die Aufnahme in die damals bedeutendste europäische Kunstakademie, die Pariser Académie royale de peinture et de sculpture. Die muss damals eine ziemliche Machobande gewesen sein: Frauen waren von den Preisausschreibungen und den Aktklassen ausgeschlossen. Und das Gemälde, das Therbusch als erstes einreichte, wurde mit der Unterstellung abgelehnt, sie als Frau könne es nicht selbst gemalt haben. Sie reichte ein neues Bild ein und wurde aufgenommen. Dann kehrte sie zurück nach Berlin und wurde eine gefragte Porträtmalerin. Sie malte unter anderem Henriette Herz, Friedrich II. und den Arzt Christian Andreas Cothenius. Damit wurde sie auch zu einer bedeutenden Chronistin der Zeit der Aufklärung. Und sie malte sich selbst, 12 Bildnisse sind erhalten. Besonders schön ist das Aushängeschild dieser Ausstellung: Die nicht mehr junge Therbusch in einem großartigen weißen Seidenrock, einem dünnen Tuch und mit Monokel - und mit einem sehr direkten Blick voll Witz und Charme.

Neue Krimis

Johann Palinkas, Coup. Polen schießt über der Ostsee einen russischen Jet ab und im Baltikum wächst Furcht vor einem Gegenschlag. Die EU gerät ins Wanken: Wer hilft wem, und wer wiegelt bloß ab? In diesem Chaos versucht die Bundeswehr einen Putsch. Der Autor erzählt aus mehreren Perspektiven: Aus der Sicht korrupter Politiker, und aus der Sicht einiger Menschen, die nun reagieren: Julius Graf ist ein aufstrebender Hauptmann der Bundeswehr und Adjutant des Generalinspekteurs. Emilia Berg ist Journalistin und Grafs Freundin. Richard Hartig ist deutscher Botschafter in Lettland.

Ein militärischer Putsch in Deutschland ist ein mutiges Szenario für ein Buch und mit der Begleitung unterschiedlicher Menschen hat der Autor einen interessanten Weg gefunden, um das Geflecht aus Intrigen, in dem sich die Geschichte entwickelt, darzustellen. Er erzählt in vielen kurzen Kapiteln, im Titel meist Datum, Uhrzeit und Protagonist. So verliert man nicht den Faden. "Coup" ist das Debut eines sehr jungen Autors und es ist wirklich bemerkenswert, wie er Intrigen zeichnet oder das Innere der Bundeswehr beschreibt, etwa die Motivation, Soldat zu werden (S. 170) - seine eigene Zeit beim freiwilligen Wehrdienst soll ihn zum Buch inspiriert haben. Nur recht selten stolpert man, etwa dass Hartig seine Tochter nicht warnt, ist sehr unwahrscheinlich (S. 307 ff.). Trotzdem ist die Lektüre nervig, und das liegt an Palinkas Schreibstil. Die Sätze sind umständlich, die vielen Partizipien und Adjektive stören. Etwa: "Berg warf einen letzten hastigen Blick über ihre Schulter auf den Betonvorsprung und den darauf liegenden USB-Stick." (S. 203) - Und wie schaut wie über die Schulter nach unten? Auch die Emotionen sind nicht überzeugend dargestellt, "Halt suchend griff sie nach Leos zitternder Hand." (S. 231) Und ein Wort wie "ausgeknipst" statt "getötet" (S. 359) ist einfach schlecht. Wenn der Verlag einen Autor aufbauen will, sollte er mehr ins Lektorat investieren.

Mittel.

Romy Hausmann, Perfect Day. Ann und ihr Vater hören Lou Reed und warten auf den Pizzadienst. Stattdessen kommt die Polizei und verhaftet den Vater. Er soll seit 14 Jahren Mädchen entführt und ermordet haben. Für Ann ein Schock. Ihr Vater ist ein international bekannter Anthropologe und Philosoph und hat sie nach dem Tod ihrer Mutter allein großgezogen. Nun setzt sie alles daran, seine Unschuld zu beweisen. Dabei gerät sie selber in Gefahr.

Solides Thrillerhandwerk, man erkennt auch Hausmanns Handschrift mit der Erzählung aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeiten, wobei sie den Leser mehrmals schön an der Nase herumführt (wer wird S. 262 eigentlich interviewt?) Aber manchmal verhält sich die Protagonistin einfach unwahrscheinlich doof (S. 70, warum fotografiert sie die Unterlagen nicht einfach ab; S. 359 ff.), was zwar die Handlung im Spannungsbogen weiterbringt, aber beim Lesen etwas nervt.

Mittel.


Dezember 2021

Kultur in Berlin

Die Neue Nationalgalerie ist nach sechs Jahren Sanierung endlich wieder offen!

Die Skulptur „Têtes et Queue“ (Köpfe und Schwanz) von Alexander Calder (1898–1976) wurde zur Eröffnung der Neuen Nationalgalerie im Jahr 1968 aufgestellt und kehrt zur Wiedereröffnung zurück. Schon das ist einen Besuch wert. Aber drinnen kann man noch mehr Werke von Calder bewundern – und sogar mit ihnen spielen. Die Ausstellung Minimal / Maximal in der Glashalle im Erdgeschoss zeigt nicht nur große Skulpturen und Mobiles, sondern auch winzig kleine Plastiken, eine Art Löffel mit hochgebogenem Stil, an dem verspielte Gewichtlein hängen, eine tanzende Frau, ein Mensch an einem dreieckigen Tisch – vielleicht sehen andere Menschen darin aber auch ganz anderes? Spaß: ein von Calder entworfenes Schachspiel, mit dem man auch spielen darf (also zu zweit kommen!) Einige Werke sind beweglich und werden bis zu viermal täglich für die Ausstellungsbesucher aktiviert.

Im Untergeschoss werden in der Ausstellung „Die Kunst der Gesellschaft“  wieder die „Hauptwerke des Klassischen Moderne“ gezeigt, etwa 250 Gemälde und Skulpturen aus den Jahren 1900 bis 1945. Die Werke von Otto Dix, Hannah Höch, Ernst Ludwig Kirchner, Lotte Laserstein, Renée Sintenis, Conrad Felixmüller und anderen reflektieren die gesellschaftlichen Prozesse dieser bewegten Zeit: Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg; Reformbewegungen, Verfemung der modernen Kunst, Holocaust. Die Ausstellung setzt teils bekannte, teils unbekannte Schlaglichter: Die wachsenden Städte, Orte von Umbruch und Zersplitterung. Die weiblichen Modelle der Brücke, teils verstörend jung. Die Kolonien. Politik und Propaganda. Die Kunst nimmt die politischen und sozialen Verhältnisse auf und spiegelt sie wider.

Das Bröhan-Museum in Berlin-Charlottenburg veranstaltet vom 6. Oktober 2021 bis zum 16. Januar 2022 die Ausstellung „BRÖHAN TOTAL!“. Der Sammler Karl H. Bröhan wäre am 6. Juli 2021 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigt das Museum in dieser Jubiläumsausstellung so viele Stücke wie nie zuvor.

Bröhan wurde in Hamburg geboren und kaufte aus Liebhaberei Kunst und Antiquitäten vor allem des Jugendstils, Art Déco und der Berliner Secession. Das war auf dem Kunstmarkt kaum gefragt, aber Bröhan sah in der Epoche um 1900 einen kaum bekannten Schatz, „der nur darauf zu warten schien, gehoben zu werden.“ Im Jahr 1965 zog er nach West-Berlin und dort wurde er zum passionierten Kunstsammler. Nach acht Jahren eröffnete er in Berlin-Dahlem ein Privatmuseum und baute zusammen mit seiner Frau, der promovierten Kunsthistorikerin Margrit Bröhan die Sammlung weiter aus. Noch einmal acht Jahre später schenkte er seine Sammlung dem Land Berlin. Zwei Jahre danach, im Jahr 1983, wurde das Bröhan-Museum in Charlottenburg eröffnet, das Karl H. Bröhan bis zu seinem Tod im Jahr 2000 geleitet hat.

BRÖHAN TOTAL! zeigt so viel wie noch nie von der Sammlung: Schaudepotbereiche mit Höhepunkte der Kollektion, selten gezeigte Schätze, Räume zum französischen Art Nouveau, zu den reformbewegten Entwürfen des deutschen Jugendstils, zum Art déco und zur funktionalistischen Formgebung der 20er Jahre, Gemälde der Berliner Secession und ausgefallene Sammlungsblöcke wie Tierfiguren. Ausgewählte Neuerwerbungen der letzten Jahre zeigen zudem die Entwicklung der Sammlung auf. Es werden Gemälde, Grafik, Möbel, Porzellan sowie Metall- und Glaskunst zu sehen sein.

Im Juni 2021 schenkte ein privater Sammler aus Berlin-Schöneberg seine Kollektion von über 100 farbenprächtigen Gläsern des Münchner Designers Jean Beck (1862-1938) dem Museum – diese hatte ihn einst zum Sammeln inspiriert. Die Ausstellung zeigt diese und zwei weitere „Satellitensammlungen“ – Sammlungen, die unmittelbar vom Bröhan-Museum inspiriert sind.

Zum Hingucken: Eine Wand mit 32 Bestecksets (Messer, Gabel., Löffel), zeitgenössische Karikaturen zu Jugendstil und Art Déco, Bröhan Fun Facts, und die Porzellanvögel, sehr wirklichkeitsgetreu – mit Artentafel zum Überprüfen der eigenen ornithologischen Kenntnisse.


Neue Krimis

Martin von Arndt, Wie wir töten, wie wir sterben. Bonn, 1961. Dan Vanuzzi, ein zu alter Boxer, sucht für den französischen Auslandsnachrichtendienst zwei Männer in Deutschland. Sie gehören zur algerischen Befreiungsarmee und sollen Kriegsverbrechen an französischen Soldaten verübt haben. Ephraim Rosenberg, Agent des Mossad, will den ehemaligen KZ-Kommandanten Arthur Florstedt finden und nach Israel entführen. Florstedt verantwortet auch die Ermordung von Rosenbergs Familie im Holocaust. Vanuzzi und Rosenberg kennen sich, und nun arbeiten sie zusammen. Aber was ist real?

Rosenberg und teilweise Vanuzzi tauchen schon in älteren Thrillern von Arndts auf, nämlich Tage der Nemesis (derzeit leider nicht lieferbar), Rattenlinien und Sojus. Aber das aktuelle Buch versteht man auch, ohne die drei anderen gelesen zu haben. Hier liest man abwechselnd die Perspektiven von Vanuzzi und Rosenberg; was tun und lassen sie, erfüllen sie überhaupt ihre Aufträge? Und was steckt eigentlich dahinter? Was dürfen und, ja, was wollen sie wissen? Und auch diese Frage stellt sich: Was ist real? Bei alledem schafft es der Autor, geschichtliche Hintergründe über den Krieg zwischen Frankreich und Algerien und das Problem "entnazifizierter" Nationalsozialisten, über Folter, Traumata und über die Fragen von Moral und Verantwortung bei der Arbeit als Agent zu erzählen, ohne den Leser zu langweilen, sei es mit moralinsauren Vorträgen, sei es mit Verschwörungstheorien. Ein sehr spannender Agententhriller.Toll.

Heinrich Steinfest, Amsterdamer Novelle. Der Kölner Roy Paulsen sieht sich auf einem Foto durch Amsterdam radeln. Allerdings war er noch nie in Amsterdam, und er fährt auch nicht Rad. Das Foto lässt ihm keine Ruhe, er reist nach Amsterdam und sucht das Haus im Hintergrund des Fotos. Und nun wird es gefährlich.

Ein echter Steinfest, dieses schmale Büchlein von gut 100 Seiten: Eine nicht - naja vielleicht doch ein bisschen - abstruse, eine nicht ganz diesseitige Geschichte über die Reise eines Mannes zu sich selbst, was bei Steinfest auch oft heißt: Zur Liebe seines Lebens. Paulsen erlebt Haarsträubendes, von einem Foto, das nicht sein kann, über einen sintflutartigen Regenguss bis zu einem sehr gefährlichen Ereignis, in das er auf seiner Suche hineinplatzt. Eines folgt aus dem anderen und am Schluss stimmt wieder alles. Ein großes Lesevergnügen. Sehr gut.

Fabio Lanz, Ein kaltes Herz. Sarah Contis erster Fall. Sarah Conti hätte Pianistin werden können, aber nun übt sie nur noch manchmal Klavier und ist hauptberuflich Ermittlerin der Zürcher Kriminalpolizei. Da hat sie schon viele Mordopfer gesehen, aber noch keines wie den stadtbekannten Anwalt: Ihm wurde das Herz herausgerissen. Conti und ihr Team recherchieren bei Witwe und Sohn des Opfers, in seinem sonstigen Umfeld, und in seiner Vergangenheit. Dabei decken sie ein übles Geflecht auf - und dann wird Sarah Conti von der Jägerin zur Gejagten.

Sarah Conti könnte eine wunderbare Ausnahmeerscheinung unter Krimiermittlerinnen werden: Sie interessiert sich für Musik, Literatur und Kunst, sie spielt sogar hervorragend Klavier. Und sie hat zwar Probleme, aber nicht zu viele - die versoffenen einsamen Wölfe oder meinetwegen Wölfinnen sind auf Dauer doch recht langweilig. Stattdessen hat sie Freundinnen, isst gut und geht gern aus. Schon deshalb hoffe ich, dass sie noch viele weitere Fälle löst. Ein kaltes Herz ist klug konstruiert, manchmal glaubt man das Erstlingwerk zu bemerken, wenn es etwa zu oft einen überraschenden Knall o.ä. tut (S. 102, 156, 179, 202 u.ö.), wenn der Autor mit seiner Kenntnis der Musen etwas zu dick aufträgt (Kafka-Beginn S. 57 u.ö. oder die detaillierten Klavieranalysen), oder wenn kleinere Flüchtigkeitsfehler durchgerutscht sind, was aber auch dem Lektorat geschuldet sein mag, z.B. "das Bootshaus war gröer" (S. 272). Aber der Autor schreibt unter Pseudonym und dies Buch scheint nur sein Erstlingswerk unter diesem Pseudonym zu sein. Die Geschichte ist vielleicht keine riesengroße Überraschung, aber doch ungewöhnlich genug für eine vergnügliche Lektüre, und ich hoffe auf weitere Fälle. Gut.

Ann-Kristin Gelder, 21 Tage. Louisa soll sterben, in 21 Tagen. Das steht in einer Mail an sie. Sie ist Anfang 30, arbeitet in einer Werbeagentur, hat heißen Sex mit ihrem Chef und eine beste Freundin. Aber nun die Mail. In dieser wird ihr nicht nur ihr baldiger Tod angekündigt, sondern es werden auch die Todesumstände beschrieben. Und genau die erinnern Louisa an etwas, das sie vor 15 Jahren getan hat. Aber wer kann das wissen? Dann kommt die nächste Mail. Und die übernächste. Und so weiter. Die Mails sind nicht alles: Ihre beste Freundin glaubt ihr nicht, jemand scheint in ihrem Haus gewesen zu sein, und sie sieht immer wieder eine dunkle Gestalt, die andere Leute aber nicht sehen.

Ein dunkles Geheimnis und eine aktuelle Bedrohung - und ein Zusammenhang zwischen beidem, der nicht klar ist: Ein düsterer Ausgangspunkt für einen spannenden Thriller, und Louisas Fesselung in ein fieses Spiel ist eigentlich spannend. Aber die Autorin setzt in ihrem Thrillerdebut zu sehr auf billige Mittel, immer wieder lässt sie Louisa völlig idiotisch handeln und dann sich selber fragen, warum sie bloß so gehandelt habe. Das könnte man geschickter machen. Auch die Fragen von Reue und Schuld werden nicht gerade tiefsinnig abgehandelt: Louisa empfindet Reue unwahrscheinlich spät (S. 314); Schuld empfindet man eigentlich nicht, man hat sie allenfalls; und das Ende wirkt wie eine etwas billige Reinwaschung. Also: Kein Tiefgang, aber durchaus eine nette Unterhaltung für ein verregnetes Winterwochenende auf dem Sofa. Ganz gut.

November 2021

Neue Krimis

Regina Nössler, Katzbach. Isabel Keppler findet eine Leiche in ihrer Wohnung. Eigentlich lebt sie dort nur mit Goldhamster Godzilla. Ohne Leiche. In der Katzbachstraße in Berlin-Kreuzberg. (Ich kenne diese Straße zwischen den Yorckbrücken und der Dudenstraße. Die Yorckbrücken sind im Regen melancholischer als alles andere, und in der Nähe der Dudenstraße liegen die Gebrüder Grimm begraben und es spukt. Aber das nur nebenbei, es hat mit dem Krimi nichts zu tun.) Dort also wohnt sie als Fredis Untermieterin im Souterrain und hat zweieinhalb Jobs, alle nervtötend: Büro, Veranstaltungsagentur (eigentlich auch Büro), und Gesellschafterin bei einer alten Frau, die seltsame Dinge erzählt und wenig nett ist. Nun ist aber auch Isabell Kepler kein wirklich netter Mensch: Garstig zu allen Leuten, nicht ganz ehrlich außerdem. Sie geht oft auf Vernissagen, trinkt ein bisschen zu viel und kifft. Diese Routine wird unterbrochen, als Vermieter Fredi sie damit beauftragt, einen gewissen Daniel zu beobachten, der einen Schreibworkshop leitet. Dann wird alles irgendwie bedrohlich. Sie wird überfallen. Bekommt seltsame Botschaften. Und diese Leiche liegt in ihrer Wohnung in der Katzbachstraße. Woher kommt die bloß?

Regina Nössler in Hochform: Wieder hat sie einen Krimi vorgelegt, dessen Protagonistin mehr als skurril ist, und bis zum Schluss weiß man nicht, was eigentlich passiert ist. Das Buch beginnt "danach", das nächste Kapitel spielt drei Tage vor Heiligabend, das übernächste Anfang Oktober. Mit vielen Rückblenden entspinnt sich eine schräge Geschichte um eine schräge Hauptperson, und trotz der vielen Zeitebenen wird es nie wirr, sondern immer spannender. Toller Krimi!

Anke Küpper, Der Tote vom Elbhang und Tod an der Alster. Der Tote vom Elbhang bildet den Auftakt einer Krimireihe um Hauptkommissarin Svea Kopetzki. Sie ist aus dem Ruhrgebiet in die Hamburger Mordkommission gekommen und muss gleich mal diesen höchst merkwürdigen Fall lösen: Erstaunlich saubere Menschenknochen, in ein Fell eingewickelt und vergraben auf einem Grundstück, das zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben ist. Ausgerechnet am Falkensteiner Ufer, einer wunderschönen Straße an der Elbe im Stadtteil Blankenese. Ein bekanner Investor würde eine Rekordsumme für das Anwesen zahlen, dabei steht bloß ein gammeliges Haus drauf - warum? Und warum ist der Noch-Besitzer so seltsam? Und was wollten die beiden jungen Mädchen auf dem Grundstück, als sie die Knochen fanden? In Tod an der Alster hat Svea Kopetzki sich in Hamburg anscheinend gut eingelebt und auch mit ihrem neuen Freund Alex läuft es gut. Aber dann läuft eine Schönheitschirurgin vor einen Bus und stirbt. Aber woran? Am Unfall wohl kaum - sie hat nämlich Stichspuren am Hals. Irgendwas stimmt mit ihrer Praxis nicht, in der auch die Mutter von Kopetzkis Ex in Behandlung gewesen war. Und damit nicht genug an emotionalen Verwicklungen für Kopetzki: Auch ihre junge und eigentlich fitte Mitarbeiterin Franzi und Kollege Temme haben irgendwelche Probleme mit Privatleben und Beruf.

Eine Krimiserie, die in Hamburg spielt - reiht sich gut in die schöne Mode der lokalen Krimis ein. Die Nebenschauplätze wie die Wohnungsnot und die Gegensätze zwischen arm und reich passen ins Stück. Die Bücher sind solides Krimihandwerk - mehr allerdings auch nicht: Die Abneigung gegenüber dem Hamburger "Schnöselmilieu" geht sicher auch auf Kopetzkis gescheiterte Beziehung zu einem Mann aus eben diesem Milieu zurück, ist auch ohne dies nachvollziehbar, wirkt aber immer etwas aufgesetzt, etwa wenn Kopetzki nach einem Besuch im Laufe ihrer Ermittlungen denkt, "Diese parfümierte Haushälterin heute Nachmittag, zum Kotzen" (Elbhang S. 110). Auch Schubacks Reaktion ist arg einfach (Elbhang 211) und wenn die Kommissarin dann staunt, weil noch nie jemand so prompt auf ihren Bluff angesprungen war, liest sich das wie eine Erklärung der etwas zu einfachen Handlung. Und wenn B. über seinen nackten, haarlosen Unterarm fährt, als streichele er eine Kaschmirziege (Alster 185 f.), ist das ein lustiges, aber völlig schiefes Bild. Aber das sind eher Ausnahmen, im Großen und Ganzen lesen sich die Bücher schnell und gut und sind eine nette Unterhaltung für einen langen Herbstabend mit einer Tasse Tee auf dem Sofa.


Kultur in Stuttgart

Noch bis zum 22. Februar 2022 zeigt die Stuttgarter Staatsgalerie die Ausstellung „Becoming Famous. Peter Paul Rubens“. Rubens (1577–1640) war der wohl erfolgreichste Maler des Barock und ist noch heute hinlänglich bekannt. Aber diese Themenstellung ist wirklich ungewöhnlich und eröffnet einen neuen Blick auf seine Bilder und seinen Werdegang: Wie hat er es geschafft, dass man ihn in ganz Europa gefeiert hat?

Die Ausstellung zeigt, dass einige Voraussetzungen zusammenkamen: Startkapital, künstlerisches Talent und großer Ehrgeiz, erfolgreiches Netzwerken, sowie einflussreiche Freunde und Förderer. So lernte er auf der Lateinschule gehobene Konversation und wurde als 14-Jähriger Page bei Marguerite de Lignes, bei der er das höfische Leben und die Regeln der politischen Repräsentation kennenlernte. Aber er beschloss auch früh, Maler zu werden, obwohl diese Ausbildung nicht standesgemäß war.

Im Jahr 1600 verließ Rubens Antwerpen, um in Italien die Kunst der Antike, der Renaissance und der Zeitgenossen zu studieren. Er wurde Hofmaler des Herzogs von Mantua, porträtierte Angehörige der einflussreichsten Familien Genuas und stellte sich erfolgreich dem Wettbewerb mit anderen Künstlern. Nach acht Jahren kehrte er nach Antwerpen zurück und baute eine Werkstatt mit tüchtigen Mitarbeitern auf.

Selten liest man solches über einen Künstler wie bei den Stuttgarter Ausstellungmachern über Rubens: „Eine prägnante Bildsprache wird sein Markenzeichen. Die prominente Platzierung seiner Werke in Kirchen oder hochrangigen Sammlungen und die weite Verbreitung seiner Bilder machen Rubens zu einer begehrten Marke. Er reagiert auf Angebot und Nachfrage, indem er günstigere Kopien seiner berühmten Bilderfindungen fertigen lässt. Auch bei der Massenproduktion der Bilder stehen Innovationsanspruch und künstlerische Qualität im Vordergrund. Rubens bleibt ein Leben lang Suchender nach der perfekten, emotional anrührenden Form und dem überzeugenden Bild. Schnell sind seine Motive in ganz Europa bekannt, was nicht zuletzt an der umfangreichen Kupferstichproduktion liegt.“

Zum Hingucken:

Die Stuttgarter Ausstellung zeigt eine Serie von elf römischen Imperatoren, die der noch junge Rubens mit Hilfe seiner Mitarbeiter nach einer bekannten Publikation gestaltet hat. Solche Bilder waren in vornehmen Häusern sehr beliebt. Es ist nicht ganz sicher, ob alle von Rubens sind. Die Staatsgalerie hat sie kunsttechnologisch untersucht, und wer ein bisschen Geduld mitbringt, kann diese Untersuchung auf einem Bildschirm nachverfolgen – toll gemacht und hochinteressant! Fazit: Die Herrscherportraits entstanden als Gesamtwerk (wieso steht da „beauftragt“?), wahrscheinlich von einer Person in einer Werkstatt: Dafür sprechen Übereinstimmungen bei Bildträger, Komposition und charakteristische Schichtfolgen; Tafelherstellung und Grundierung; auch die Imprimatur. Ausgeführt wurden die Malereien dann von unterschiedlichen Malern. Eine vergoldete Beschriftung stammt wiederum von einer einzigen Person.

Mein Lieblingsbild – und das Titelbild der Ausstellung ist aus der Zeit in Italien das Gemälde „Geronima Spinola Spinola mit ihrer Enkelin Giovanna Serra“ - Angehörige der Genueser Oberschicht. Die Großmutter hält ihre Hand über das Handgelenk der Enkelin. Das Kind schaut höflich, die Großmutter streng; sie nimmt auch den größten Raum des Bildes ein. Wenige Jahre später sollte das Mädchen wie seine Großmutter in ein Kloster eintreten.

Kultur in Dresden

Das Dresdner Albertinum wurde zwischen 1559 und 1563 als Zeughaus errichtet und im 19. Jahrhundert zum Museum umgebaut. Seither heißt es dem sächsischen König Albert zu Ehren „Albertinum“. Beim Bombenangriff auf Dresden im Jahr 1945 wurde es weniger als andere Museumsbauten der Stadt beschädigt. In der DDR fanden hier die Kunstausstellungen statt. Beim Hochwasser im August 2002 wurde das Kulturgut evakuiert und danach wurde ein flutsicherer zweigeschossiger Werkstatt- und Depotkomplex über dem Innenhof mit einer 72 Meter langen 2700 Tonnen schweren Stahlkonstruktion errichtet.

Das Albertinum beherbergt eine Sammlung von Skulpturen ab 1800 und Kunst von der Romantik bis zur Gegenwart: Romantik, Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Kunst der DDR und Kunst der Gegenwart. Zwei besonders wichtige Künstler sind der Romantiker Caspar David Friedrich sowie der „Zeitgenosse“ Gerhard Richter, der aus Dresden kommt.

Zum Hingucken:

Ungewöhnliche Gegenüber: einerseits „Kreuz im Gebirge“ von C. D. Friedrich (1807/8), andererseits „Kreuzwegstation“ von Hermann Nitsch (1961). Beide Bilder versuchen, so die Texttafel im Museum, eine neue, sehr individuelle (jeweils) moderne Sicht auf die Religion, sie nehmen traditionelle christliche Motive auf und brechen mit ihnen, und sie loten die Darstellungsmöglichkeiten der Kunst ihrer Zeit neu aus: Das Kreuz im Gebirge präsentiert ein Landschaftsbild als Altarbild und der Kreuzweg ist eines der ersten Schüttbilder des Künstlers und teils mit Blut gemalt.

Niedrig gehängt – für Kinder: „Im Albertinum hängen die Gemälde im Rayski-Raum tiefer. Dafür hat das Museum ein Team an Fachleuten gewinnen können: eine Gruppe von fünf Kindern.“ Meist hängen Museumsbilder angenehm hoch für mittelgroße Menschen. Hoch bedeutet leicht einmal: pathetisch, wichtig, für Erwachsene. Ferdinand von Rayski hatte Humor, seine Adelsportraits sind etwas übertrieben und damit ironisch. Aber er hat auch einen Stieglitz (Distelfink) so gemalt, dass der dasitzt in der Haltung eines Adligen, der portraitiert wird: Anschauungsunterricht für Kinder über den Umgang mit Autoritäten.

Die 48 Portraits bedeutender Männer von Gerhard Richter sind schwarzweiß und alle in ähnlicher Form portraitiert. Man muss zu ihnen hinaufschauen, und ihre Blickrichtung wandelt sich von Profil zu frontal zu Profil. Richter hatte sie für die Biennale in Venedig 1972 gemalt. Der dortige deutsche Ausstellungsbau war 1938 im NS-Stil umgestaltet worden, und darauf hatten später mehrere Künstler Bezug genommen. Auch Richter, und zwar sehr subtil, indem er eben Männer portraitiert - nach dem Krieg fehlten die Väter und viele Söhne konnten sie danach nicht als moralische Vorbilder akzeptieren – und Richter zeigt Männer, die besondere Leistungen erbracht haben. Diese wirken weder streng noch böse; Kafka etwa nicht unheimlich, sondern sanft und verletzlich. Figuren zur Identifikation.

Bis zum 6. Februar 2022 läuft noch die Ausstellung „Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland“ im Albertinum. Was ist Freiheit, wovon träumst du, was ist Heimat, was gibt dir Hoffnung, was fühlst du jetzt?, das alles fragen die Ausstellungsmacher. Über 140 Gemälde der Romantik werden in einer Ausstellungsarchitektur von Daniel Liebeskind gezeigt, die dieser wie ein Labyrinth gestaltet hat, mit Themenräumen wie Selbstportraits, Nachtlandschaften, Religion (davon hätte ich mir mehr gewünscht), Friedrich, Carus, Iwanow... Besonders beeindruckend nicht ein Bild aus der Romantik (1789 bis 1849), sondern ein Video von 2007 von Guido van der Werve, „Nummer acht, everything is going to be alright“: Der Künstler geht über den zugefrorenen Bottnischen Meerbusen. Hinter ihm fährt ein Eisbrecher. Man mag kaum hinschauen – das Eis scheint unendlich, das Schiff riesig, das unter ihm aufbrechende Meer unheimlich, der Mensch davor winzig und zerbrechlich.

Lieblingsbild? „Bildnis einer Dame mit Zigarette“ von Oskar Zwintscher.

Wer die Dresdner Rüstkammer im Residenzschloss besucht, lernt spätestens dort, dass Plattner nicht nur der Nachname des SAP-Mitbegründers ist, sondern auch ein Handwerksberuf: Ein Plattner ist ein Schmied, der sich auf die Herstellung von Plattenpanzern spezialisiert hatte. Die Rüstkammer mit ihren Rüstungen und Waffen lässt den Besucher nicht kalt. Es erfreut zunächst, dass die lutherische Kirche in Kursachsen von Herrschern mit so guten Namen wie Friedrich dem Weisen, Johann dem Beständigen und Johann Friedrich dem Großmütigen etabliert wurde. Aber der Anblick so vieler Tötungsinstrumente verursacht einiges Unbehagen. Dies steigert sich, wenn die Opfer personalisiert werden. Die vielen Schwerter, Spieße und Dolche sind schlimm genug, aber irgendwie auch anonym, man kann angesichts der hohen Handwerkskunst leicht von ihrer Verwendung abstrahieren. Entsetzlich berührend dagegen das Richtschwert mit dem Namen des Scharfrichters „CONRADUS POLS“ (Konrad Polster) und der Aufschrift „CAVE CALVINIANE – D.N.K.“ (Hüte dich, Kalvinist – Dr. Nikolaus Krell). Der Kurfürst Christian I. neigte zum Kalvinismus, und als er starb, begannen orthodoxe Lutheraner, Kalvinisten zu verfolgen, so auch den kursächsischen Kanzler Dr. Nikolaus Krell. Und der wurde am 19. (9.) Oktober 1601 mit eben diesem gezeigten Schwert in Dresden geköpft.

Beim „Langen Gang“ in der Rüstkammer handelt es sich um eine etwa 100 Meter lange Galerie. Er ist ein sehr bedeutendes Zeugnis der Renaissance-Architektur in Sachsen. Kurfürst Christian I. ließ ihn um 1588/90 vom Architekten Paul Buchner erbauen, um das Residenzschloss mit dem Stall zu verbinden. Zunächst diente er als Ahnengalerie 46 (teils sagenhafter) wettinischer Herrscher bis eben zu Christian I. 1733 ließ August III. das „Königliche Leibgewehr“ aufstellen, eine sehr bedeutende Sammlung von bis zu 1800 Feuerwaffen, die auch gebraucht wurden. Beim Bombenangriff vom 13./14. Februar 1945 wurden der Bau und die Wandmalereien schwer beschädigt. Die Waffen waren allerdings vorher ausgelagert worden. Nach dem Krieg wurden sie in die Sowjetunion überführt und 1958/59 vollständig zurückgegeben. Heute sind in der Gewehrgalerie fast 500 prunkvolle Handfeuerwaffen ausgestellt, wie im ursprünglichen Konzept geordnet nach geographischer Herkunft: auf der Südseite Waffen aus dem deutschsprachigen Raum, auf der Nordseite aus anderen europäischen Gebieten. Eines der Ausstellungsstücke, ein beschrifteter Lauf (in der dänischen Kollektion die Nummer 21) gehörte ursprünglich einem sächsischen Soldaten. Aber während der gescheiterten Belagerung von Riga (1700) soll August der Starke damit Enten gejagt haben. Würden doch alle Menschen Brüder werden und nicht einander, sondern stattdessen Enten schießen! - Die kann man sogar essen.

Das Verkehrsmuseum zeigt Sachen zum Staunen, Lachen und Weinen. Alles im Rahmen der Geschichte der Fortbewegung zu Wasser, zu Lande – auf der Straße und auf Schienen – und in der Luft. Es ist auch ein Museum für Kinder, sie können viel anfassen und ausprobieren. Zum Beispiel, ob Autos oder Eisenbahnen schneller sind, indem sie kleine Modelle auf einer schiefen Ebene hinabfahren lassen: Die Eisenbahn ist schneller, denn der Widerstand ist geringer.

Viele, viele Dinge zum Betrachten: Die Taschenuhr eines Lokomotivführers - auf dem Führerstand einer Dampflok gab es keine Uhr, aber so konnte er den eigenen Fahrplan kontrollieren. Eine Replik (1989) der ersten funktionstüchtigen deutschen Dampflok „Saxonia“, im Einsatz ab 1836. Ein Schienenzeppelin – ein Propellertriebwagen, der schneller war als ein Flugzeug! Plakate zum Thema „Sicherheit für Eisenbahner“ – dass ich nicht lache: Steckt die Frauen nicht in hochhackige Pumps – lasst sie Sneakers oder Turnschuhe tragen! Das ist besonders einfach und besonders sicher! Texte: Die Deutsche Reichsbahn war das profitabelste Unternehmen der Zwischenkriegszeit; im Jahr 1935 erreichte das Schienennetz mit rund 68700 Kilometern seine größte Ausdehnung jemals.

Bedrängend ist ein Raum über Deportationen zur Zeit des Nationalsozialismus. Millionen Menschen wurden im Zweiten Weltkrieg in Konzentrationslagern ermordet, etwa drei Millionen von ihnen wurden in überfüllte Güterwaggons gepfercht und mit der Eisenbahn in den Tod transportiert. Die Deutsche Reichsbahn stellte dem Reichssicherheitshauptamt für jeden beförderten Menschen ein Ticket 3. Klasse in Rechnung. In den wenigen Nachkriegsprozessen zeigte sich, so die Texttafel, dass die Eisenbahner wussten, „welchen Zweck die unwürdigen Menschentransporte hatten. Von Widerstand aus den Reihen der Reichsbahner ist kaum etwas bekannt.“ So viel Bedrückendes: Ein schwarzer Streifen an der Wand mit einigen Zahlen, Daten und Fakten über Transporte im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Der Auszug aus einer Häftlingstransportliste. Besonders bewegend ein Video: der Bericht eines alten Mannes, der als kleiner Junge mit seiner Familie erleben musste, wie sie „abtransportiert“ wurden – allein dieses Wort spiegelt die Perversität und das Grauen wider. Man hört dem Mann zu, manchmal bricht ihm fast die Stimme, man möchte weinen, und was er erzählt, lässt einen nicht los: Der Transport im Waggon mit einem Eimer, der bald von menschlichen Ausscheidungen überquoll, die hinterhältige Ermordung seines Vaters, der eine Spritze mit Vitamin C erwartete und stattdessen eine Giftspritze bekam, der Raub des Gepäcks, das entgegen der Versprechungen nicht mitfuhr.

Dann wieder Schönes: Fahrräder, eine Draisine, ein Hochrad, und, ach, Mode für Frauen, die in früheren Zeiten sicher und „anständig“ radfahren wollten: Hosen (Skandal!?) und eine sehr schicke Jacke – doppelreihig, besonders gut bei heftigem Fahrt- oder Gegenwind.

Motorräder, Autos, Flugzeuge, und weitere interessante Texttafeln, etwa über die Zwangsverschleppung deutscher Fachleute aus der Luftfahrtindustrie in die Sowjetunion und ihre Rückkehr.

Leider schon vorbei: Eine Ausstellung über das Projekt "Mit Wiederverwendung Zukunft bauen" des Teams Zirkuläres Bauen des Zentrum für Baukultur Sachsen, einer Einrichtung der Stiftung Sächsischer Architekten: Lauter Sachen, von Fenstern über Steine bis zu Lichtschaltern, die beim Rückbau (Abbruch) abgefallen sind, die nun neue Besitzer suchen. Geniale Idee - könnte man da nicht eine bundesweite (mindestens) Datenbank machen? Oder reicht ebay Kleinanzeigen? - Naja, wohl nicht, sieht jeder, der durch Neuköllns Straßen läuft und hie und da offensichtlich herrenlose Haufen von Bauschutt sieht.


Oktober 2021

Neue Krimis

Susanne Saygin, Crash: Isa Kurzeck hatte jahrelang zur Firma Nolden-Bau recherchiert und musste schließlich fliehen. Nach einiger Zeit auf den Hebriden erfährt sie, dass Obergangster Christoph Nolden tot ist. Und dass Mira verschwunden ist, Mira, die bei den Recherchen ihre Assistentin war. Isa will herausfinden, was passiert ist, kehrt zurück und recherchiert weiter. Dabei trifft sie auf Torsten Wolf, Mitarbeiter bei Nolden Bau. Der soll Christoph Noldens Nachfolger werden. Und bemerkt, dass irgendetwas mit der Firma nicht stimmt. Kurzek und Wolf recherchieren weiter und stoßen auf etwas ganz anderes, was weit über wirtschaftliche Interessen und Verbrechen hinausgeht.

Klug konstruierter Krimi. Die Autorin erzählt wechselnd aus der Sicht von Isa Kurzeck und Torsten Wolf, und obwohl die Rollenverteilung eigentlich klar ist - die gute Rechercheurin und der böse Bauunternehmer - sind die Ambitionen der Protagonisten und damit die Sympathien nicht so klar. Man bangt mit beiden, hofft mit beiden, rauft sich die Haare über beide. Lange liest man das Buch auf Betrug und Mord in der Baubranche, bis man mit der Protagonistin merkt, dass da eigentlich etwas ganz anderes im Hintergrund steht. Das ist überraschend, spannend und beklemmend.

Sehr guter Krimi.

Frank Göhre, Die Stadt, das Geld und der Tod: Die Leiche von David, 16, wird in einem Park in Hamburg-Eimsbüttel entdeckt, mit zu viel Amphetaminen im Blut. Davids Mutter ist die alleinerziehende Kristina Wójcik, sein Vater der verurteilte Schläger und Schmuggler Ivo Jasari, derzeit in Santa Fu, Hamburgs bekanntestem Gefängnis. Ivo war Ende der 1980er aus Rumänien nach Hamburg gekommen und dort an Nicolai geraten, der ihn unter seine Fittiche nahm, sie wurden Partner und machten viel Geld auf dem Kiez. Nicolai stieg in die feine-unfeine Hamburger Gesellschaft auf, Ivo wurde nicht so fein. Und nun wird Ivo aus dem Gefängnis entlassen und Nicolai weiß etwas über Davids Tod.

Frank Göhre flicht auf knapp 160 Seiten ein böses Gespinst aus Gewalt, Abhängigkeiten, Gier und Angst. Mit seinen kurzen Sätzen, kurzen Absätzen und kurzen Kapiteln entwickelt er im Stakkato eine bitterböse Geschichte um das Hamburger Rotlichtmilieu und vor allem um die Banken- und Immobilienbranche. Aber die vielen Protagonisten machen das Ganze unübersichtlich und einige der nebeneinanderher laufenden Geschichten bleiben ungelöst, das ist nicht so befriedigend.

Guter Krimi.

Andreas Pflüger, Ritchie Girl: Paula Bloom war im Jahr 1936 als junge Frau aus Deutschland geflohen und  1945 kehrt sie als amerikanische Besatzungsoffizierin zurück. Sie wurde im "Camp Ritchie", einem Ausbildungslager des US-Militärgeheimdienstes, ausgebildet und kommt in ein Camp der U.S. Army in der Nähe von Frankfurt. Dort wird sie damit konfrontiert, dass verschiedene Nachrichtendienste ehemalige Nazis enagieren, natürlich auch die Amerikaner. Und Paula Bloom soll nun herausfinden, ob ein gewisser Johann Kupfer tatsächlich im Zweiten Weltkrieg der Top-Spion gewesen war, als der er sich ausgegeben hatte. Als erstes findet sie aber heraus, dass er den Mann gekannt hatte, den sie liebte.

Ein Spionageroman, der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spielt, mit Personen, die real existiert haben - ein äußerst spannendes Setting. Genau so spannend die Erzählweise, etwa die Schwierigkeiten herauszufinden, ob jemand Spion war oder nicht, und wenn ja, auf welcher Seite er stand (spannende Szene S. 229 ff.) Und Pflügers Schreibstil, kurze Sätze, wirre Bilder, die in den Bann ziehen "Eine Dissonanz der Kapelle, die Parade geriet aus dem Tritt." (255) Auch die Institutionen wie Camp Ritchie, in dem viele Emigranten ausgebildet wurden wie etwa Stefan Heym oder Klaus Mann, Unternehmen wie IG Farben, und viele prominente Menschen wie Oskar Schindler, Henry Ford und viele Künstler machen neugierig. Aber das ist gleichzeitig eine der beiden großen Schwierigkeiten im Buch: Es gibt einfach zu viele Prominente, die Paula Bloom mal so eben trifft bzw. getroffen hatte (auch Nixon, Dulles, Lindbergh...). Ihr Vater ist einer realen Person nachempfunden, wie Andreas Pflüger im Nachwort verrät, es wäre also - vielleicht - realistisch. Aber es wirkt unecht und hölzern; der Gipfel ist die Hinrichtungsszene (404 ff.) Die andere Schwierigkeit sind die vielen oberlehrerhaften Dialoge und Gedanken, in denen Paula Bloom und andere Gute sich gegen Nationalsozialismus etc. wenden. Ich teile die Ansichten des Autors, aber es nervt, sie dauernd lesen zu müssen (210 f. und noch viel öfter). Selten sind bereichernde Hinweise, etwa zur Frage der Rolle von Richard von Weizsäcker (96, 456) oder Pullach als Quellort des Wenzbaches (453). Dass Sperber im Gegensatz etwa zu Bussarden nicht kreisen (223), sondern im Ansitz oder oder aus kurzem Anflug jagen, ist demgegenüber egal. Das Buch ist  gut, aber ich fand das Nachwort am interessantesten. Ich empfehle eher Pflügers Reihe über Jenny Aaron.

Guter Krimi.

Anna Karolina, Auf Tod komm raus: Start zu einer neuen Serie um die Ex-Polizistin Ebba Tapper: Sie war dabei, bei der Polizei Karriere zu machen. Dann ereignete sich etwas, sie flog raus und fing an zu trinken. Da tritt die berühmte Anwältin Angela Köhler an sie heran: Die nämlich verteidigt den Ex-Fußballer Nicolas Moretti, der seine Zwilllingsschwester ermordet haben soll, und sie engagiert Ebba Tapper für ihre Kanzlei, damit sie in dieser Mordsache für sie ermittelt. Für Tappert eine Herausforderung, denn sie wird mit ihren ehemaligen Kollegen konfrontiert.

Anna Karolina folgt auf knapp 430 Seiten einer alkoholkranken Ermittlerin und spinnt sehr gekonnt mehrere Handlungsstränge mit- und nebeneinander. Sie erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Sicht des angeblichen Mörders Nicolas Moretti und der Ermittlerin, und dabei führt sie die Polizei, die Ermittlerin und den Leser gekonnt an der Nase herum. Immer wieder gibt es eine überraschende Wendung, immer wieder neue Erkenntnisse, bis zum überraschenden Schluss. Allerdings fallen auch einige Ungereimtheiten auf, wieso wusste Ebba Tapper nichts von Köhlers Situation, und der Schluss ist denn doch zu unwahrscheinlich.

Insgesamt ein guter Krimi.


Kein Krimi, ausnahmsweise

Frisch erschienen: Bodo Kirchhoff, Bericht zur Lage des Glücks. Ein Mann flieht vor der Liebe, vor der Erinnerung an eine Liebe, indem er eine Reise tut, die er einst mit der Geliebten getan hatte. Was für eine Idee von einem Trainingsprogramm, sich eine Liebe abzugewöhnen! Dieser Mann berichtet nun von der ersten Reise, von der zweiten Reise, und von seinen Erzählungen darüber. Das ergibt ziemlich viele Zeitebenen, und merkwürdigerweise versteht man sie als Leser und kommt nicht durcheinander, denn in jeder Ebene berichtet er einem anderen Gesprächspartner. Man fühlt mit dem Berichtenden, obwohl er nicht sympathisch ist, der alte weiße Mann, der eine junge schwarze Frau liebt. Diese Frau ist für ihn unfassbar, man kann aber nicht sagen, dass sie sich ihm entzieht, das würde sie zum re-agierenden Objekt machen, sondern ihre Existenz ist einfach außerhalb seines Zugriffs, sie ist Herrin ihrer selbst. Wie ihm auch die anderen Frauen seltsam überlegen scheinen. Kirchhoff schreibt über das Scheitern des Mannes mit feiner Selbstironie und Distanz. Dieser Mann ist auf der Flucht vor der Liebe, obwohl er liebt. Und zwei Frauen lieben ihn oder liebten ihn zumindest, was sich darin zeigt, dass sie ihn erkennen, denn beide fragen ihn, was in einer gewissen Nacht in Mailand geschehen sei. Und er entrinnt der Liebe nicht, obwohl er vor ihr flüchtet: Er findet zu sich selbst und überlässt seinen Bericht der rechten Person. Tolles Buch, berührend und, ja, spannend.


September 2021


Kultur in Stuttgart

Das Landesmuseum zeigt noch bis zum 24. April 2022 die Ausstellung FASHION?!Was Mode zu Mode macht. Mode geht Alle an, egal ob man morgens irgendwas aus einem Klamottenhaufen herausfischt und hineinschlüpft, oder das maßgeschneiderte Kostüm vom Zedernholzbügel anzieht. Die Stuttgarter Ausstellung stellt gute Fragen: "Wer entscheidet eigentlich, was ´in` oder ´out` ist, und warum ändert sich die Bedeutung von Kleidungsstücken überhaupt?" Ein Kopftuch etwa werde je nach Trägerin - Queen Elizabeth, Bäuerin, Grace Kelly, arabische Mädchen - ganz unterschiedlich wahrgenommen. Die Ausstellung zeigt Modegeschichte von den 1950er Jahren bis heute, darunter Entwürfe bekannter Designer und Modehäuser. Sie zeigt Modekommunikation anhand von Magazinen, Modefotografen und Social-Media-Aufritten.

Früher zählte die Mode- und Textilindusterie mit Webereien und Manufakturen zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen Baden-Württembergs, aber der Textilmarkt hat sich geändert und viele Unternehmen sind in Konkurs gegangen. Heute gibt es im Ländle noch Unternehmen für Unterwäsche, Sportmode und Trikotage. Und ein paar Kleinunternehmen, die sich "Nachhaltigkeit" auf die Fahnen geschrieben haben: Wiederbelebt etwa kauft weggeworfene Stoffe auf - durchaus edle Ware, die Industrie wirft jedes Jahr Tonnen weg - und macht daraus zeitlose Mode, in Stuttgart, Deutschland, unter fairen Arbeitsbedingungen. Future Fashion benennt die sozialen und ökologischen Ungerechtigkeiten entlang der textilen Wertschöpfungskette und zeigt nachhaltige Alternativen. In der Werkstatt für textiles Gestalten und Modedesign im Werkstatthaus Stuttgart kann man Nähen und Stricken und noch viel mehr lernen.

Neue Krimis

Orkun Ertener, Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf). Paul und Finn sind seit der ersten Klasse befreundet und stehen kurz vor dem Abitur. Vor zwei oder drei Jahren hat Paul Khalil angeschleppt. Der weiß schon, was er nach dem Abi studieren will, während Paul und Finn  erstmal eine große Reise machen wollen. Aber dann passiert etwas und fortan kann Paul sich nur noch an das erinnern, was bis zu jenem Tage geschehen war und an das, was er an jedem neuen Tag erlebt - aber am darauffolgenden Tag hat er die vorangegangenen Tage vergessen. In der Reha bekommt Paul einen Brief von Khalil, und der kündigt etwas Schreckliches an. Paul überzeugt Finn, dass sie Khalil finden müssen, um das Schreckliche zu verhindern. Sie reisen von Köln über Berlin und London nach Hamburg zum G20-Gipfel. Dort finden sie Khalil und etwas passiert.

Das Buch ist sehr, sehr spannend, und zwar auf unterschiedliche Arten: Man fühlt mit den Jugendlichen mit, wie sie erwachsen werden oder auch nicht, ärgert sich mit Finn über seine nervtötend verständnisvollen Eltern (S. 53), trauert mit den Jugendlichen über ihren ungeschickten - vielleicht auch mehr als das - ersten Sex, ärgert sich über Nina, man fragt sich, was Khalil vorhat, und ob Paul und Finn ihn stoppen können. Man staunt, dass Paul Dinge neu versteht, die er schon als Jugendlicher erlebt hatte, so etwa das Verhältnis zu seiner Mutter (z.B. S. 167. 174). Kurz: Auf vielen Ebenen berührend und überraschend.

Toll.

Helga Glaesener, Die stumme Tänzerin. Hamburg, Ende der 1920er. Paula Haydorn, reiche Eltern, will unabhängig sein und heuert bei der Kriminalpolizei an. Ihre Eltern sind entsetzt. Bei der Kripo gibt es seit kurzem eine "Weibliche Kriminalpolizei". Die entstellte Leiche einer Prostituierten wird gefunden, Paula mischt sich in die Ermittlungen ein, leistet gute Arbeit und kommt sehr schnell in die Mordkommission. Martin Broder leitet die Ermittlungsgruppe, er ist kein Fan von Frauen in diesem Job, außerdem leidet er unter den Folgen des Ersten Weltkriegs. Paula Haydorn und ihre Kollegen recherchieren zunächst im Rotlichtmilieu, dann geht Paula Haydorn im Alleingang weiteren Spuren nach und es wird gefährlich.

Ein historischer Kriminalroman, der schön das Hamburg der 1920er Jahre nachzeichnet, die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges, die Gegensätze von arm und reich, von Rotlicht und Bürgertum und die Herausforderungen für Frauen in einem Beruf, der bis dahin ein typischer Männerberuf war samt den persönlichen Herausforderungen im Umgang mit der widerständigen Familie. Das Buch ist recht spannend, es gibt mehrere überraschende Wendungen, nur die Figuren bleiben etwas hölzern.

Ganz gut.

Wolf Harlander, Systemfehler. Daniel macht Marketing für Computerspiele. Seine Schwester Sabine ist Chirurgin. Nelson fängt beim BND an. Und ihr aller Leben wird durcheinandergewirbelt, als mitten in der Urlaubszeit europaweit das Internet zusammenbricht. Daniel wird verdächtigt, mit dem Zusammenbruch zu tun zu haben. In Sabines Krankenhaus versagen die Apparate und Menschen sterben. Nelson, der eigentlich aus ganz anderen Gründen zum BND gegangen ist, vermutet einen Anschlag mit einem Computervirus. Daniels Sohn macht Unfug - und nun ist der BND hinter Daniel her.

Eine geniale und wichtige Idee für einen Krimi. Auch gut, das Ganze von verschiedenen Standpunkten aus zu erzählen. Aber auch dieser Krimi ist hölzern erzählt: Man fühlt nicht mit den Personen mit. Daniel als Vater ist so nett zu seinem Sohn Ben, man möchte beide verprügeln. Die Wanderung von Daniels Familie ist kaum vorstellbar, die Leute müssten meiner Ansicht nach viel mehr Hunger und Durst haben (S. 166). Und dass der BND so wenig IT-Spezialisten hat, dass der Neuling Nelson sofort mit einem derartigen Fall betraut wird, ist auch unglaubwürdig.

Ganz gut.

August 2021

Neue Krimis

Ingo Bott, Pirlo - Gegen alle Regeln. Dr. Anton Pirlo hieß mal anders. Nur will man als Strafverteidiger nicht unbedingt, dass alle Welt weiß, dass man mit dem Khatib-Clan verwandt ist. Aber plötzlich ist der Job weg. Dann kriegen seine Brüder Ärger. Und zu allem Überfluss soll er ihre Schulden bezahlen. Dazu muss er mit seiner Partnerin Sophie Mahler seinen neuen, einzigen Fall gewinnen. Aber die Mandantin bestreitet zwar vehement, dass sie ihren Mann umgebracht hat, ist aber ansonsten wenig kooperativ.

Sehr spannend, sehr lustig, gut und spannend geschrieben. Wie noch mehr Krimiautoren hat auch Dr. Ingo Bott halblange Haare und ist Jurist. Milieukrimis machen einfach Spaß; immer mehr Juristen schreiben Krimis, was sich natürlich irgendwie anbietet; wer sonst kann einen Abrechnungsbetrug so schön schildern? (S. 147 ff.) Dies Buch ist der erste Fall um den Strafverteidiger Pirlo, er endet mit einem kleinen Cliffhanger; der zweite Band soll in einem Jahr erscheinen (August 2022) und eine Leseprobe ist gleich mit abgedruckt. Man darf gespannt sein.

Sehr gut.

Ule Hansen, Neuntöter / Blutbuche / Wassertöchter (Trilogie). Emma Carow wurde mit 19 vergewaltigt, hat ihren Vergewaltiger hinter Gitter gebracht und ist Polizistin geworden, Fallanalytikerin. Nun ist sie Serienmördern auf der Spur - und ihr Vergewaltiger, inzwischen aus dem Gefängnis entlassen, ist ihr auf der Spur. Im ersten Band der Trilogie (Neuntöter) geht es um Leichen, die in Panzertape einbandagiert sind; dies Buch hatte gleich den Stuttgarter Krimipreis erhalten. Im zweiten Band (Blutbuche) geht es um zerrissene Frauen. Und im dritten Band, der bei den diesjährigen Stuttgarter Kriminächten vorgestellt wird, wird eine Frau vergewaltigt. Dabei werden ihr Schnittwunden zugefügt, die denen ähneln, die Emma Carow bei ihrer eigenen Vergewaltigung zugefügt wurden. Carow ist sicher, dass ihr Vergewaltiger auch diese Tat begangen hat. Aber niemand glaubt ihr.

Drei wirklich spannende Bücher. Ja, Serienmörder sind nur in Krimis häufig. Ja, Frauen tauchen in Krimis sehr oft als Vergewaltigungsopfer auf. Aber: Diese Krimis sind zwar gut recherchiert, so etwa unterscheidet das Autorenduo Astrid Ule und Eric T. Hansen zwischen Profiling und Operativer Fallanalyse (auch wenn die eher angelsächsische Methode des Profiling wenig erklärt wird)  und der langwierige Polizeialltag mit Datenerfassung wird klar. Das stört die Spannung nicht, im Gegenteil, man möchte wissen, wie es weitergeht und fühlt mit Carow. Die Autoren schreiben sehr anschaulich, man hat sofort Bilder im Kopf, und das ist die große Stärke dieser Trilogie, die man in einem Rutsch hintereinander weg lesen kann.

Sehr gut bis gut.

Heinrich Steinfest, Die Möbel des Teufels. Leo Prager war als junger Mann nach dem Einsturz der Reichsbrücke im Jahr 1976 aus Wien geflüchtet und blieb nach einigen Wirren 44 Jahre lang auf einer spärlich bewohnten Insel im Südpazifik hängen. Nun kehrt er zurück, weil er allmählich erblindet und noch einmal dem Ort seiner Kindheit und Jugend begegnen will - und weil seine Schwester ermordet wurde und er sie zu beerdigen hat. Wer aber ermordet eine über 60 Jahre alte pensionierte Parlamentsstenografin? Hat das Ganze mit ihrer freiberuflichen Arbeit als Rentnerin zu tun? Mit ihrem Privatleben? Prager engagiert Frau Wolf und Cheng, er entdeckt einen alten Roman mit scheinbar prophetischem Potential, er lernt Frauen kennen und Architekten.

Ein typischer Steinfest: liebevoll, umständlich, mit absurden Details wie einem Elefanten auf der Insel, mit der Feier einer etwas altmodischen Weiblichkeit wie einem Wäschegeschäft und daneben außerordentlich tüchtigen und unkonventionellen Frauen und einer männlichen Jungfrau, mit einer wundervoll versponnenen Handlung und mit dem üblichen Einschlag von Übersinnlichem oder zumindest nicht wirklich Erklärbarem. Und: Endlich mal ein Krimi, in dem das Phänomen des Traumas nicht durch Dramatisierung verfälscht wird. Ich habe nur Kleinigkeiten zu meckern: Wie hat Leo Prager eigentlich filmen können, als er damals, äh, beschäftigt war, bzw. wer hielt die Kamera? Ein paar Flüchtigkeitsfehler, die dem Lektorat durchgerutscht sind, etwa steht "gemäß" mit Dativ, nicht mit Genitiv, wie auf Seite 61 unten; und eine Steigerung des Perfekt gibt es auch nicht, also: er hatte Wein getrunken, nicht aber getrunken gehabt (S. 162); und auf Seite 232 überlegt er, wem er seine Nachtzigarette widmet, Seite 255 scheint dagegen die Mittagszigarette noch "frei" gewesen zu sein. (Ich bin übrigens Nichtraucher.)

Sehr gut.

Bernhard Aichner, Gegenlicht. Berlin, Sommer, ein Mann und eine Frau sitzen im Garten einer Jugendstilvilla, als ein Mann vom Himmel fällt. Ein blinder Passagier aus einem Flugzeug.  Pressefotograf Bronski und Redakteurin Spielmann fahren hin, machen die Geschichte - und plötzlich sterben lauter Menschen, die damit zu tun hatten. Bronski und Spielmann machen sich auf die Suche nach der Geschichte hinter der Geschichte und reisen nach Afrika, dorthin, wo der Mann als blinder Passagier ins Flugzeug gestiegen war.

Auf Seite 65 fehlt unten eine Dialogzeile, aber das ist der einzige Fehler, den ich im Buch entdeckt habe. Abgesehen von dieser lässlichen Winzigkeit sind Aichners Dialoge wie immer exzellent, er beherrscht die Kunst des Dialogschreibens, kurze Sätze, furztrocken und lakonisch. Aichner rollt eine Geschichte auf um Macht und Gier und Skrupellosigkeit, und es ist spannend. Während in der ersten Geschichte um den Pressefotografen Bronski das Handeln der Personen oft nicht nachvollziehbar war, ist das diesmal nur noch selten so, beispielsweise fragt man sich, warum Bronskis Tochter scheinbar traumafrei ist und Journalistin werden will, und warum sie plötzlich die Redaktion verlässt, um jemand aufzusuchen. Aber insgesamt scheinen sich Herr Aichner und Herr Bronski miteinander angefreundet zu haben: Die Reihe verspricht Spannung.

Sehr gut bis gut.

Anne Nordby, Eis.Kalt.Tot. Kopenhagen ist kalt. Seltsam drapierte Leichen tauchen auf.Jesper, Polizist, ist neu in Kopenhagen, und der Anfang wird ihm nicht leicht gemacht: Es gibt ein Leck bei der Polizei, die Presse weiß zuviel, und seine Chefin Kirsten sieht ihn im Gespräch mit einem Journalisten, mit dem er mal in der Schule gewesen war. Die Polizei engagiert die attraktive Superrecognizerin Marit, die jedes Gesicht wiedererkennt, auch wenn sie es nur einmal gesehen hat, und die mit dem attraktiven, gut gelaunten Pressefotografen Kjell auf einem Hausboot wohnt. Aber auch sie hat etwas zu verbergen. - Diese Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, aus der Sicht (späterer) Mordopfer, Polizisten, Mörder... Nach und nach entdecken die Ermittler Zusammenhänge zwischen den Morden.

Eigentlich interessant: Kopenhagen, eine Super-Recognizerin, Legenden der Inuit, Öko-Verbrechen. Aber ich habe mit niemand mitgefühlt, der Horror, den die Ermittler angesichts der Morde empfinden, kommt nicht rüber. Vielleicht liest es sich im Original besser, aber auf Deutsch ist es maniriert und langweilig. Schon die vielen Adjektive stören. Z.B. S. 277: "Genervt brachte Kirsten Marit fort... Daraufhin wandte sich Marit automatisch in Richtung... Marit bedachte Kirsten mit einem besorgten Blick... Erschöpft stieß Kirsten Luft aus... Marit nickte mitfühlend... grausige Girlande... entgegnete Kirsten gereizt... fühlte sich plötzlich unendlich müde...": Mal liest, was die Personen tun und fühlen, aber es bleibt bei einer Beschreibung, man bleibt distanziert, denkt, aha, sie ist also erschöpft, und dieser Gedanke unterbricht den Lesefluss. Vielleicht ändert es sich später, aber die Bösen sind hässlich (S. 76), das ist zu einfach.Ich habe gut 300 Seiten gelesen, immerhin, aber dann aufgegeben.

Nicht gut.

Thomas Lang, Goldberg und der unsichtbare Feind. Minkin, Stuttgarter Ermittler und ein großer Loser vor dem Herrn, bekommt kurz vor dem ersten Lockdown einen neuen Auftrag von Goldberg: Er soll nach Belgien und Abbé Jean finden, einen sehr alten Trappisten und Bierbrauer, der maßgeblich mit dem D-Day zu tun hatte - was ihm ein paar Leute sehr, sehr übel nehmen. Minkin trinkt und fragt sich durch die Lande, lernt einen interessanten Portier kennen und schließlich auch den Abt.

Schön lakonisch geschrieben und nicht nur für Bierliebhaber ein großes Vergnügen (ich zum Beispiel mag Bier gar nicht, wohl aber dies Buch). Herrlich durchgeknallt ist die Idee des überraschenden Retters (S. 122). Gute Idee, die Wehrmacht als tüchtig darstellen zu lassen, aber die Führung durch das Bier-Desaster lächerlich zu machen - eine wirksamere Kritik am Krieg, als es eine allgemeine Abwertung der Soldaten wäre. Nur ein paar Kleinigkeiten zu mäkeln: Beim Handymodell dürfte es sich um das Siemens SL (nicht SM) 45 gehandelt haben (S. 24), statt Bachtölpel meinte der Autor wohl Basstölpel (S. 165), und die Kommentare des Autors sind witzig, aber auf Dauer ein bisschen zu viel. Auch dieser Autor hat halblange Haare und ist Jurist.

Gut.

 

Kultur in Schleißheim

Museum im Alten Schloss Schleißheim. Ökumenische Sammlung Gertrud Weinhold – Das Gottesjahr und seine Feste. Hierzulande kennt jeder Kreuze oder Weihnachtskrippen, aber das religiöse Jahr beinhaltet noch viel mehr Kalenderfeste als Weihnachten, und es gibt auch noch viel mehr Ritualgegenstände und Andachtsmittel als Kreuze oder Krippen; und die Feste werden in verschiedenen Ländern und Gruppen ganz unterschiedlich dargestellt und gefeiert. Die Berliner Mäzenin Prof. E. h. Gertrud Weinhold (1899–1992) hat auf ihren Reisen in alle Welt Tausende solche Bilder und Skulpturen zusammengetragen und damit zum ersten Mal so unterschiedliche religiöse Volkskulturen dokumentiert. Ihre Sammlung und Präsentation ging durch Erbvertrag an den Freistaat Bayern über und nun zeigt das Museum im Alten Schloss auf 2000 Quadratmetern mehr als 6000 von ihren Objekten. Der Leitgedanke ist eine vergleichende ökumenische Schau des auf der Grundlage der Heiligen Schriften entwickelten religiösen Festwesens.

"Die Inszenierung des ´Gottesjahres` im Dialog der Kulturen war seinerzeit geradezu vorausschauend und birgt heute das didaktische Potential für Schule und Erwachsenenbildung zum besseren Verständnis der Konfessionenvielfalt moderner Gesellschaften", schreiben die Ausstellungsmacher. Nun ja: Erwachsene begreifen sehr wohl, dass es eine Ausstellung über Glaubensformen ist, eigentlich über die Menschen und ihren Glauben, aber für Kinder geht es ganz unmittelbar um die Inhalte. Wer also die Darstellung der Passionsgeschichte mit einem Kind betrachtet, muss sich mit dem eigenen Glauben oder Nicht-Glauben auseinandersetzen: Was bedeutet das stellvertretende Opfer, was die Kreuzigung, was glaubt man, was nicht, und wie erklärt man es, verständlich, und erklärt man es neutral? Eine spannende und herausfordernde Ausstellung!


Museum im Alten Schloss Schleißheim. Es war ein Land ... – Sammlung zur Landeskunde Ost- und Westpreußens. Diese Ausstellung zeigt die Entwicklung der alten Kulturlandschaft ab der Missionierung und Kolonisierung durch den Deutschen Orden. Der war 1190 zur Pflege verwundeter Kreuzfahrer gestiftet und 1198 zu einem geistlichen Ritterorden erhoben worden. 1226 bat Konrad von Masovien ihn um Hilfe gegen die heidmnischen Prussen; 1283 unterwarfen die sich und nahmen den christlichen Glauben an. Der Deutsche Orden schuf einen straff organisierten Staat und wurde neben der Hanse im 14. und 15. Jahrhundert die beherrschende Handelsmacht. Der Bund der Hanse war eine ökonomische Lobby für zahlreiche Städte unter der Führung von Lübeck; der Deutsche Orden war nichtstädtisches Mitglied und sein Hochmeister zählte zu den "Häuptern der Hanse".1410 aber wurde der Deutsche Orden in der Schlacht bei Tannenberg von Polen und Litauen besiegt, damit begann sein Niedergang.

Später galt Ostpreußen als "Kornkammer Deutschlands", bis ins 20. Jahrhundert waren die wichtigsten Wirtschaftszweige Getreide- und Kartoffelanbau, Viehzucht und Fortstwirtschaft. Eine wilde Landschaft: Wer weiß, dass es 1940 in Ostpreußen rund 1300 Elche gab? Er wurde zum Symboltier Ostpreußens, die Elchschaufel ist das Brandzeichen für Trakehner Pferde. Die Sammlung zur Geschichte und Kultur Westpreußens umfasst 400 Objekte. Man bestaunt die Bernsteine, Kinder begeistern sich für die Versteinerungen in ihnen, wunderbar ist der Glasschrank, in dem sie liegen, samt Tafeln, auf denen steht, in welchem Stein welches Tier gefangen ist - nur wäre es schön, wenn so etwas auch für Kindergröße erreichbar wäre, so dass man sie nicht hochheben muss. Erwachsene bestaunen dagegen das besondere Kunsthandwerk. Man lernt dank der Ausstellungsstücke und der informativen Texttafeln viel über Backsteingotik (Backsteine sind weicher als Natursteine, daher hat die Backsteingotik weniger komplizierte Bauformen als die französische Kathedralgotik), über religiöse Vielfalt in Ost- und Westpreußen, über die vielen Kriege und Eroberungen, aber auch über Künstler, Musiker, Wissenschaftler und Philosophen, die aus der Albertus-Universität Königsberg hervorgingen - die Universität stand nach dem Willen ihres Stifters Herzog Albrecht allen Gesellschaftsschichten offen. Nix wie hin!


Kultur in Stuttgart

Kunstmuseum Stuttgart. Zwischen System und Intuition: Konkrete Künstlerinnen. Zwölf konkrete Künstlerinnen werden ausgestellt und es ist das erste Mal in Deutschland, dass eine Gruppe konkreter Künstlerinnen Thema einer Ausstellung ist. Es sind Marcelle Cahn, Geneviève Claisse, Sonia Delaunay, Clara Friedrich-Jezler, Lily Greenham, Katarzyna Kobro, Verena Loewensberg, Vera Molnar, Aurelie Nemours, Charlotte Posenenske, Sophie Taeuber-Arp und Mary Vieira. Sie haben Beziehungen untereinander, zu Stuttgart beziehungsweise der Region um Stuttgart, und zur Sammlung des Kunstmuseums Stuttgart. So sammelten Heinz und Anette Teufel konkrete Kunst, Heinz Teufel zeigte im Jahr 1980 als erster Galerist konkrete Kunst - und die Sammlung der Teufels gehört zum Kunstmuseum Stuttgart. Die konkreten Künstlerinnen mussten lange auf ihre Würdigung warten, Verena Loewensberg verkaufte ihr erstes Werk, da war sie 38. Und Aurelie Nemours wurde erst mit 94 bekannt - durch eine Einzelausstellung im Centre Pompidou in Paris. Die Bilder von Aurelie Nemours und die Mode von Sonia Delaunay sind am schönsten, behaupte ich. Hingucken und ausprobieren: Die Sitzgelegenheiten, gestaltet von Kunststudentinnen der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Stühle, Rollen und Kugelscheiben mit aufgeschnallten Shaumstoffpolstern! Noch bis zum 17. Oktober 2021.

Kunstmuseum Stuttgart. Kamm, Pastell und Buttermilch. Willi Baumeister, Adolf Hölzel und Fritz Seitz. Man unterscheidet Kunst und Kunsthandwerk, ja, aber Kunst ist auch Handwerk, mal mehr, mal weniger. Willi Baumeister etwa sah sich auch als Handwerker, er stand immer sehr positiv zu aller Maltechnik und probierte verschiedene Materialien und Techniken, schraffierte Bilder mithilfe eines Metallkamms und mattierte schwarze Flächen mit Buttermilch. Das Kunstmuseum zeigt Werke der drei verbundenen Künstler (Hölzel war Baumeisters Lehrer, Seitz sein Schüler) in verschiedenen Räumen, die jeweils Techniken gewidmet sind: Kammzug, Sand und Spachtelmasse, Buttermilch, und Pastell. Noch bis zum 26. September 2021.


Juli 2021

Neue Krimis

Max Annas, Der Hochsitz. 1978, ein Dorf in der Eifel, nah der Luxemburgischen Grenze. Sanne und Ulrike sind ungefähr elf Jahre alt, sie haben Osterferien. Sanne muss viel auf dem Hof helfen, aber in der freien Zeit fahren sie mit ihren Rädern hin und her und verbringen Stunden auf einem nahen Hochsitz. Dort reden sie über Gott und die Welt und versuchen, ihr selbstgebasteltes Sammelalbum für die Fußball-WM zu füllen, wenn es sein muss, mit geklauten Bildern aus geklauten Hanutas. Bei der Post hängt ein Fahndungsplakat mit Fotos von RAF-Mitgliedern, eine Bank wird ausgeraubt, ein Motorradfahrer erschossen, die verrückte Gaby Teichert springt in den Bach, zwei merkwürdige Frauen geistern im Wald umher, und ein Amerikaner bereitet etwas vor.

Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Am Nahesten ist man an Sanne, die in der Ich-Form erzählt; die anderen bleiben in der dritten Person. Es passiert viel und man fühlt - und bangt manchmal auch - mit den beiden Mädchen mit, am Schluss auch mit dem Amerikaner. Der Autor lässt seltsame Dinge passieren, immer mehr passt irgendwie zusammen. Aber man wünscht sich doch, dass weniger lose Enden blieben - oder liegt man mit den Ahnungen richtig?

Gut.

J.C. Tudor, Schneewittchen schläft. Gabe ist auf dem Heimweg, da sieht er ein kleines Mädchen im Rückfenster des Autos vor ihm - seine fünfjährige Tochter Izzy. Ihre Lippen formen das Wort "Daddy". Der Akku seines Handys ist leer, er fährt zu einer Raststätte und ruft zuhause an, und am Telefon meldet sich die Polizei. Die nächsten drei Jahre verbringt er damit, die Autobahnen abzufahren, immer auf der Suche nach diesem Auto. Und seiner Tochter. Fran und Alice sind ebenfalls auf den Straßen Englands unterwegs. Sie werden verfolgt. Fran weiß, was mit Izzy geschehen ist, und sie weiß auch, was geschehen wird, wenn sie es sagt.

Eigentlich ein gut geschriebener Thriller mit einer mehreren parallel laufenden spannenden Handlungssträngen und ein paar wirklich überraschenden Wendungen. Aber manches ist sehr unwahrscheinlich, etwa Gabes langes Schweigen über sein Geheimnis gegenüber seiner Frau, oder Katies Verwandtschaft. Und die Szene S. 442 ff., obwohl es schon einige Hinweise gegeben hatte, ist einfach lächerlich und passt gar nicht.

Geht so.

Bernd Ohm, Sechs Tage im Herbst. Henning Kollwey ist wohl situiert, verheiratet, hat zwei Töchter. Und plötzlich wird auf ihn geschossen. Der Anschlag muss mit seiner Vergangenheit zu tun haben, mit etwas, was er weiß - aber worin besteht dieses Wissen? Er gräbt nach und muss feststellen, dass innerhalb kürzester Zeit mehrere ehemalige Kameraden ums Leben gekommen sind, alles Menschen, mit denen er seit Jahrzehnten keinen Kontakt hatte - und die der RAF sehr nahe standen. Wie er auch, damals.

Das Thema ist spannend: Ein Altlinker, ehemals der RAF Nahestehender, wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Kollwey ist ein vom Extremismus Fortbekehrter, ein zur Vernunft Gekommener, der nun ein gutes Leben lebt. Aber die Wandlung bleibt grau, man vollzieht sie nicht nach. Vielleicht soll sie in den Dialogen deutlich werden, aber viele Dialoge sind Erklärdialoge, etwa S. 56-70 zwischem ihm, dem Altlinken, und Jenny, der auch linken Tochter eines der just ermordeten Kumpanen, die allerdings unglaubwürdig gefasst ist angesichts der Tatsache, dass ihr Vater just ums Leben gekommen is. Oder zwischen ihm und dem Politiker Jochen Lohgerber (S. 246 ff.) Für die Bekanntgabe der unterschiedlichen Positionen hätten eine oder zwei  Seiten gereicht. Wendungen wie die, dass Jenny den Protagonisten begleitet (S. 178), sind unwahrscheinlich. Immerhin entspinnt sich keine Liebesgeschichte.

Geht so.

Henri Faber, Ausweglos. Noah schlägt die Augen auf, er ist schwer verletzt und wird ins Krankenhaus gebracht. Aber er war in der Wohnung seiner Nachbarin aufgewacht - und die hat neben ihm gelegen, ermordet. Ihre Wunden weisen auf einen Serienmörder hin, der schon mehrere Frauen getötet hat. Der Polizist Elias ist seit Jahren auf der Spur dieses Mörders, er hält Noah für einen wichtigen Zeugen. Aber Noahs Frau Linda fragt sich, ob er ein Monster ist. Und was ist eigentlich aus dem Journalisten geworden, der auf der Spur des Mörders war? Und Elias´ ehemaligem Kollegen Mats?

Ein klug konstruierter Krimi um einen Serienmörder in Hamburg. Seine Opfer sind weiblich - wie so oft in Krimis, aber eben auch in der Realität. Der Autor schreibt viele Konfliktlinien: Linda ist eine erfolgreiche Wirtschaftsprüferin, ihr Mann Noah ein erfolgloser Autor - wer kümmert sich mehr um den anderen? Elias war bei der Mordkommission, der Serienmörder war sein Fall und der seines Freundes Mats, aber eine Reihe bösartiger Artikel stellten die Polizei bloß, und die beiden wurden ins Einbruchdezernat abkommandiert. Mats ist irgendwo versackt und Elias kommt jetzt wieder zur Mordkommission, wo Probleme mit dem Leiter lauern. Alle erzählen in der Ich-Form, und trotzdem weiß der Leser immer weniger, wem er eigentlich trauen kann, was geschehen ist und wer die Wahrheit sagt - oder nicht. Ganz guter Krimi, zwar nicht wirklich Tiefgang, aber er liest sich locker weg, macht Spaß und ist spannend.

Ganz gut.

 

Juni 2021

Neue Krimis

Johannes Groschupf, Berlin Heat. Berlin, der erste Sommer nach der Corona-Pandemie.  Es ist heiß, Touristen wollen feiern, und Tom Lohoff besorgt ihnen Wohnungen, Drogen und Adressen für Sex-Clubs. Dummerweise ist er ein spielsüchtiger Pechvogel und hat Schulden bei Krasniqi, einem sehr, sehr bösen Gangster. Gerade als er versucht, das Geld zusammenzugewinnen, sprechen ihn zwei Männer an und fragen ihn, ob er einen Bekannten von ihnen für einige Tage unterbringen kann. Tja: Der Bekannte ist ein stadtbekannter Rechtsaußen-Politiker, und der ist plötzlich - entführt.

Nach Berlin Prepper schafft Groschupf es auch bei Berlin Heat, dass man einem völlig schrägen Loser atemlos zur Seite stehen möchte - wenn man ihn nicht gerade schütteln will, um ihn zur Vernunft zu bringen. Der liebenswerte Süchtige und Dieb stolpert in ein Unglück nach dem anderen, trifft eine falsche Entscheidung nach der anderen, und gerät in die Politik, ohne es zu wollen. Und lernt nebenher lauter tolle Frauen kennen. Hart, spannend und komisch.

Sehr gut.

Andrea Di Stefano, Buona Notte. Der Gitarrist ist tot. Und Lukas Albano Geier, Ex-Zeugenschützer, Musiker, ein Deutscher am Lago Maggiore, wartet vergeblich auf die Kriminalkommissarin Cristina Conte. Sie scheint verschwunden. Geier forscht nach und das wird gefährlich.

Spannender Krimi, der sich gut liest. Klar strukturiert, gut geschrieben. Dazu gute Charaktere und schöne Einzelheiten wie die Musik und der Uhu.

Sehr gut bis gut.

Anne Goldmann, Alle kleinen Tiere. Rita, Ela, Marisa und Tom: Vier Menschen in der Krise. Und alle irgendwie mit einander verbunden. Es geht um üble, allerübelste Nachrede, um Wohnraum und seine Bewirtschaftung, und um explodierende Schlagsahne. Der seltsame Titel wird auf S. 76 erklärt.

Vier ganz gute Geschichten, auch der Plot, wie sie zusammenhängen, ist interessant. Aber das Buch ist etwas mühsam zu lesen, die Autorin macht es spannend, indem sie dem Leser Informationen vorenthält, und das ist bei vier Menschen und ihren unterschiedlichen Geschichten etwas nervig.

Geht so.


Mai 2021

Neue Krimis

Berhard Aichner, Dunkelkammer. David Bronski ist Mitte 40, kommt aus Tirol, ist Witwer und lebt als Pressefotograf in Berlin. Der einzige ihm nahestehende Mensch ist seine Schwester. Quasi-privat fotografiert er tote Menschen, die Fotos entwickelt er in seiner Dunkelkammer. Überraschend ruft ihn ein alter Bekannter von früher an. Der ist inzwischen obdachlos, säuft, und erzählt ihm, dass er beim Einbuch in eine leerstehende Wohnung er eine Leiche gefunden habe, die da seit 20 Jahren unentdeckt herumgelegen habe. Bronski könnte damit einen Coup landen, aber er kann es nicht allein, seine Chefredakteurin drückt ihm eine Journalistin aufs Auge, ausgerechnet aus dem Kulturteil. Und dann entdeckt Bronski, dass der Fall mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Und das verschweigt er seiner Chefin.

Dunkelkammer ist der erste Band einer neuen Reihe um den Pressefotografen David Bronski. Aichner spinnt einen düsteren Roman um ihn, um den Fall und um seine Vergangenheit. Da ist ein Gegner, der ihm immer einen Schritt voraus ist, und man rätselt lange, ob der auch mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Das Buch liest sich sehr gut, immer wieder Dialoge zwischen unterschiedlichen Protagonisten, unterschiedliche Blickwinkel, das macht das Ganze spannend. Auch der wirklich böse Gegner, der böse um des Böseseins zu sein scheint, ist eine gute Idee. Aber er wirkt nicht wirklich überzeugend, und auch die Reaktionen der Guten kann man oft nicht nachvollziehen, etwa Bronski (239 ff.) oder Mona (333 ff.).

Ganz gut.

Bernhard Jaumann, Caravaggios Schatten. Die Kunstdetektei von Schleewitz bekommt ihren zweiten Fall, und der geht ihrem Chef Rupert von Schleewitz näher, als ihm lieb ist: Ein alter Schulfreund bittet ihn zum Gang durch die Gemäldegalerie im Potsdamer Schloss Sanssouci, und dort, vor Caravaggios Bild "Der Ungläubige Thomas", bleibt der Freund stehen, sagt ein paar Worte und sticht auf das Bild ein. Damit nicht genug: Als das Bild zum Restaurieren gebracht wird - wird es entführt.

Auch Jaumann hat es schwer. Der erste Band um die Kunstdetektei von Schleewitz, Der Turm der blauen Pferde, war spannend, und die Auflösung überraschend. Aber während der erste Band von einem Bild handelt, das es tatsächlich gegeben hat und das verschollen ist, geht es bei Caravaggios Schatten um den Ungläubigen Thomas, ein bekanntes Gemälde von Caravaggio. Das behindert ein bisschen die Phantasie, man denkt nicht mehr, so hätte es gewesen sein können, sondern man vergleicht die Geschehnisse im Buch mit denen, die tatsächlich passieren könnten. Und das ist sehr unwahrscheinlich, und schlimmer, nicht nachvollziehbar. Auch das Verhalten des Rupert von Schleewitz ist nicht nachvollziehbar, trotz aller Andeutungen - die letztlich bloß dazu führen, dass man den Grund für das Attentat vorausahnt.

Geht so.

Kai Hensel, Terminal. Jana hat das Internat geschmissen und ist nach Berlin gegangen, um für ihren Traum, die Teilnahme an einer Motorradralleye, Geld zu verdienen. Aber in Berlin gerät sie in Machenschaften um den neuen Flughafen. Dessen Baumängel sind Selbstläufer und der Flughafen bringt Unglück über immer mehr Menschen.  Auch Jana gerät in seinen Bann.

Die Geschichte von Jana ist recht spannend, ebenso die Geschichte eines Flughafens, der immer neue Mängel bekommt, als eine Art Eigenleben. Aber beide Geschichten werden bloß angedeutet. Schade, denn gerade letztere hat eigentlich Potential. Heinrich Steinfest hat mal so etwas über den Stuttgarter Bahnhof geschrieben, da wurde das Absurde aber viel konkreter. Hier wird es nur angedeutet (z.B. S. 134), schade. Ganz gut geschriebener Krimi, der leider etwas wirr ist. Geht so.

Geht so.

 

April 2021

Neue Krimis

Steffen Kopetzky, Monschau. Deutschland 1962, die Zeit des Wirtschaftswunders und des Wettrüstens. Und da brechen in der Eifel, im Kreis Monschau, die Schwarzen Pocken aus. Eigentlich waren sie in Deutschland fast ausgerottet, aber ein Monteur hat sie aus Indien mitgebracht.

Vom Autor des vorliegenden Romans, Steffen Kopetzky, erschien im März 2020 ein Artikel im Spiegel über den Ausbruch der Pocken im Kreis Monschau, ein Jahr später erschien der vorliegende Roman, der die historischen Gegebenheiten aufnimmt, sogar einige Namen und Personen wie den mutigen Arzt Günter Stüttgen, der im Krieg in der Eifel Leben von Freund und Feind gerettet hatte und nun, 20 Jahre später, zurückkehrt, um wiederum Leben zu retten. Dessen Assistent und Doktorand Constantin Orfanos heißt im Roman Nikolaos Spyridakis, und die  Otto Junker GmbH, der größte Arbeitgeber der Region, der Hochtemperaturöfen herstellt und in alle Welt verkauft, heißt im Roman Rither-Werke. Ausgedacht (wahrscheinlich) hat sich der Autor die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Assistenten und der Erbin der Rither-Werke, beider Liebe zum Jazz und eine noch ganz andere Gefahr, in der Stüttgen schwebt.
Ein spannendes Buch, das die schreckliche Aktualität eines kaum bekannten Ereignisses zeigt, aber nicht daraus lebt - auch ohne die Aktualität durch die Corona-Pandemie wäre es ein sehr guter Roman. Monschau ist kein Krimi im eigentlichen Sinn, mit Mord und Aufklärung, aber es hat die Spannung eines Krimis - werden die Ärzte siegen, werden sie die Menschen zur Vernunft anhalten, werden die Menschen akzeptieren, dass ihr geliebter Karneval im Jahr 1962 ausfällt?
Toll.

Axel Simon, Goldtod. Berlin, 1889. Ein goldlockiger Junge verschwindet, taucht wieder auf und schweigt fortan. Mehrere Bankiers werden ermordet. Irgendwie sind Diamanten im Spiel. Deutsche wollen Bodenschätze aus Afrika. Der zweite Fall des versoffenen Privatermittlers Gabriel Landow: Und der sieht mehr, als er sehen soll, und er sieht gleichzeitig mehr und weniger als die Polizei.

Wie bei Eisenblut, seinem ersten Krimi um Landow, arbeitet der Autor auch in Goldtod auf mehreren Ebenen: Er folgt Landow und seinem Kompagnon Orsini beim Versuch, das Rätsel um die Mordserie an Bankiers zu lösen, und darunter brodelt eine Geschichte um verschwundene Kinder und eine weitere um Kolonialismus. Eigentlich eine gute Idee, mehrere Geschichten zu erzählen, von denen der Ermittler nur einen Teil versteht, indem man auch anderen Personen folgt; die TV-Serie Goliath mit Billy Bob Thornton erzeugt auf ähnliche Art Spannung, vor allem bei der 2. Staffel, als es oberflächlich um Drogenhandel, Machtkämpfe zwischen Kartellen und die Unterwanderung von Politik und Verwaltung geht, und daneben, von Goliath nicht bemerkt, um eine grauenvolle Geschichte von Amputationen. Aber Goldtod ist etwas wirr, die einzelnen Stränge sind nicht klar genug, so verliert man leicht den Überblick.

Geht so.

Matthias Wittekindt, Vor Gericht. Berlin und nahe bei Dresden, 1990 und jetzt. Jetzt: Manz ist im Ruhestand und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Dresden und  rudert mit ein paar anderen älteren Männern auf der Elbe. Dann bekommt er plötzlich einen Brief: Er soll in Berlin als Zeuge zu einem Vorgang von 1990 aussagen; eine alte Frau war erwürgt worden, er ermittelte, aber wenige Wochen später war er mit Familie in die Nähe von Dresden gezogen. Nun gibt es neue Möglichkeiten bei der DNA-Analyse und der Fall wird neu aufgerollt. Manz lässt sich die alten Unterlagen schicken und rekapituliert den Fall und sein damaliges Leben.

Wittekind schreibt immer so seltsame Bücher mit Personen, in die man sich nicht so recht einfühlen kann. Das ist hier nur zum Teil der Fall, er lässt den Leser an Manz´ Überlegungen teilhaben, an seinen erwachenden Erinnerungen, an seinen Gefühlen. Man fragt sich, wer es gewesen sein kann, wer den Mord begangen hat, aber vor allem lebt man mit der Arbeit von Polizisten und Wissenschaftlern. Spannendes Buch.

Sehr gut.

Karsten Dusse, Achtsam morden am Rande der Welt. Björn Diemel hat eine Midlife-Krise und sein Achtsamkeits-Coach rät ihm, auf dem Jakobsweg zu pilgern. Diemel macht sich auf den Weg, aber jemand scheint ihn ermorden zu wollen.

Karsten Dusse hat´s nicht leicht: Sein erstes Buch der Achtsam morden-Reihe um den Rechtsanwalt Björn Diemel war ein origineller Bestseller, und daran werden nun seine weiteren Bücher gemessen. Schon der zweite Band, Das Kind in mir will achtsam morden, fiel demgegenüber etwas ab, und der dritte Band, Achsam morden am Rande der Welt, erst recht. Dabei ist es eine gut geschriebene leichte Krimi-Lektüre. Aber während der erste Band das Prinzip der Achtsamkeit herrlich durch den Kakao zog und spannend und lustig war, weil plötzlich lauter Leichen Diemels Weg pflastern, während er nach den Prinzipien der Achtsamkeit lebt und handelt, und damit die Prinzipien der Achtsamkeit vielleicht nicht ad absurdum geführt aber doch sehr veräppelt werden, funktioniert dieses im vorligenden Band nicht. Dusse hätte die Prinzipien der Religion und des Pilgerns durch den Kakao ziehen können, aber das geschieht nicht. Im Grunde ist es ein Krimi, der zufällig auf einer Pilgerfahrt spielt, und ab und zu kommt ein Satz zur Achtsamkeit oder zum Pilgern drin vor. Aber es ist nicht wirklich lustig. Auch fehlen Details aus Diemels Welt, im ersten Band etwa ist Diemels Ärger mit der Kanzlei, in der er arbeitet, sehr unterhaltsam, und Details wie, dass er seinem Arbeitgeber durch Halbwelt-Mandanten viel Umsatz brachte, gleichzeitig aber eben wegen dieses Umgangs in der Kanzlei geächtet war, hatten den ersten Band abgerundet. Oder die Idee, sich mit Gangstern zu treffen, und sie im Kindergarten auf Kinderstühle zu setzen, war ein Detail von der Art, wie man es jetzt vermisst. Das vorliegende Buch ist zu einfach. Nichtsdestotrotz, es liest sich gut.

Ganz gut.

Tom Hillenbrand, Montecrypto. Das Flugzeug von Gregory Hollister, einem kalifornischen Start-up-Unternehmer, ist über dem Meer abgestürzt. Man findet vom Flugzeug ein paar Trümmer und von Hollister einen Teil eines Fingers von ihm. Hollister soll ein ungeheures Vermögen hinterlassen haben, das aus Bitcoins besteht. Hollisters Schwester beauftragt Privatdetektiv Ed Dante mit der Suche. Und der fliegt durch die Weltgeschichte, Los Angeles, New York, Frankfurt, Zug... Aber er ist nicht der einzige: Ein weltweiter Hype setzt ein, und lauter Nerds und Geeks wetteifern darum, Hollisters Schatz zu heben. Und mit der Zeit fragt er sich, ob es wirklich nur um Bitcoins geht.

Was passiert mit Bitcoins, wenn der Besitzer das Passwort vergisst? Wenn er stirbt, ohne das Paswort zu hinterlassen? Gute Idee für einen Thriller, solches ist schon vorgekommen. Oder auch, dass jemand sein eigenes Passwort vergisst. Hillenbrand schreibt darüber, und er schreibt flüssig, allerdings nerven manchmal Anglizismen und andere Holprigkeiten, die vielleicht von einem längeren Auslandsaufenthalt des Autors herrühren (Jemand hat einen Punkt, S. 144, 381 u.ö., sitzen konjugiert man mit dem Hilfsverb haben, nicht sein (S. 177), es geht nicht um die ganzen anderen Coins, sondern um alle anderen Coins (S. 179), "präferiertes" Heißgetränk klingt affig (S. 349)): Da hätte ein Lektor aufpassen sollen. Tom Hillenbrand hat einen Thriller geschrieben, gute Idee, solides Handwerk, zwar literarisch nichts Besonderes, macht aber Spaß zu lesen.

 

 

Ganz gut.


Kultur und so

Vormerken: Dienstag, 28. April 2021, 18 Uhr: Berliner Religionsgespräche zum Thema Antisemitismus // Livestream aus der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.


März 2021

Neue Krimis

Merle Kröger, Die Experten. Deutschland und Ägypten, Anfang der 1960er Jahre. Rita Hellberg, noch minderjährig, besucht ihre Eltern in Ägypten. Dort arbeitet ihr Vater als Ingenieur. Und der entscheidet: Die Familie gehört zusammen und Rita muss bleiben. Sie liebt ihre kleine Schwester, vermisst ihren großen Bruder, der in Deutschland geblieben ist, und wird von ihrer Mutter zum Putzen abkommandiert. - Der damalige Präsident Nasser will eine afrikanische Rüstungsinsdustrie aufbauen und Ritas Vater arbeitet an einem Jagdbomber mit. Rita genießt das Leben in diesem Land im Umbruch und im Aufbruch, aber sie erlebt Anschläge mit und allmählich wird ihr klar, dass sie auch mitten in einem Konflikt steht.

Stefanie Schulte Strathaus ist Filmkuratorin. Sie gab den Anstoß zu diesem Buch, ihr Großvater war ein solcher "Experte" wie Rita Hellbergs Vater, und ihre Mutter lebte als Kind in Ägypten. Über diese Geschichte ist sie gestolpert und Merle Kröger hat daraus ein höchst spannendes Buch gemacht, einen Roman mit dokumentarischen Aspekten. In eine Abfolge realer historischer Ereignisse hat sie die Familie Hellberg hineingedichtet, eine Familie, die viel von der Familie von Frau Schulte Strathaus hat. Mich hat dieser Thriller gefesselt, mit seinem kaum bekannten geschichtlichen Hintergrund, mit den Familienmitgliedern, die alle glaubhaft waren, mit Rita, die erwachsen wird und nicht mehr weiß, auf was sie sich verlassen kann.

Toll!

Christoph Wortberg, Trauma. Anfang einer neuen Serie um die Münchener Mordermittlerin Katja Sand. Zwei Tote: Einer in einem See ertrunken, der andere in einem Kühlschrank erstickt. Beide Todesarten haben mit Traumata der Getöteten zu tun. Und es gibt noch etwas anderes, das sie verbindet. Dennoch ist Sand die Einzige, die an Mord, nicht an Selbstmord glaubt. Aber sie leidet selber unter einem Trauma, und dann ist auch noch ihre Tochter in der Pubertät.

Eine spannende Geschichte: Zwei Tote, eine Ermittlerin, und keiner, der ihr glaubt. Traumata, die Geschichte der Traumaforschung und die Auswirkungen von Traumata werden kurz und knapp und verständlich (S. 272 ff.), und die Ermittlungen sind interessante. Aber die Auflösung des Falles ist nicht überzeugend, es wirkt so, als hätte der Autor sich etwas möglichst Spektakuläres über Traumata ausdenken wollen. Kein Buch, das ich behalten und ein zweites Mal lesen würde. Dennoch ist dieses Buch eine recht spannende Lektüre für einen oder zwei freie Tage. Und im September soll Katja Sands zweiter Fall erscheinen.

Mittel bis gut.

Ada Fink, Blütengrab. Mecklenburg, August 1975 und Mai 1993. Mädchenleichen mit germanischen Runen in die Haut geritzt auf Gräbern aus blühenden Ebereschenzweigen. Kommissarin Ulrike Bandow und ihr neuer Kollege Ingo Larsen aus dem Westen sollen ihren ersten gemeinsamen Fall aufklären. Beide kämpfen auch gegen dunkle Schatten aus ihrer Vergangenheit. Nun ermitteln sie bei "Gewalt-Nazis" und "Öko-Nazis", bei Schlägern und Preppern, und folgen Spuren in die deutsch-deutsche Vergangenheit.

Spannender Krimi, spannendes "Personal", wenn auch nicht immer überzeugend und manchmal vielleicht etwa klischeehaft (Polizisten als einsame Wölfe.) Fink wechselt die Sichtweisen, wenn etwa ein junger und etwas doofer Mann namens Marc sich durch jemandes Blicke genervt fühlt, dann "glotzt" der Mensch (S. 328); sie fühlt sich in ihre Personen ein (guter Gedanke mit dem Wettbewerb des Unglücks, S. 329 f.). Oft könnte sie anschaulicher schreiben, statt z.B. "einen für die siebziger Jahre typischen Anzug" könnte sie diesen Anzug beschreiben (S. 364). Die Auflösung finde ich nicht sehr befriedigend, die Motive nicht nachvollziehbar. Das Ende dagegen, der Ausblick für die beiden Mädchen, gefällt mir, obwohl er eigentlich sehr problematisch ist. Insgesamt eine angenehme Unterhaltung für einen oder zwei freie Tage.

Ganz gut.


Febuar 2021

Neue Krimis

Catrin George Ponciano, Leiser Tod in Lissabon. Lissabon, 1975 und Lissabon, in einem Sommer, ungefähr heutzutage. In einer Kirche wurde ein Mensch erstochen, der Bankier Elías Inácio. Er hatte sich mit seinem Bruder, dem Bildhauer Jósua Inácio gestritten. Inspetora-Chefe Dora Monteiro aus dem Morddezernat der Kriminalpolizei Lissabon, die ihren Tag mit Pralinen beginnt, Flamenco tanzt und gelegentlich Besuch von einem zahmen Raben namens Alfonso-Henrique bekommt, und, ach, sich ab und zu ein amouröses Abenteuer gönnt, Dora also stößt auf ein altes Foto. Darauf ein ehemals mächtiger und seit Jahren für tot gehaltener Mann. Sie verfolgt diese Spur und gerät in ein altes Netzwerk, das in die Zeit des Militärputsches, der Nelkenrevolution, hineinführt.

Spannendes Thema: Der Militärputsch und seine Folgen. Die Protagonistin Dora wird hoffentlich noch mehr Fälle lösen, sie ist eine gute Figur, die Spaß macht, keine alte Alkoholikerin und auch kein unreifer Idiot: Ihre Macken sind gerade so, dass sie interessant ist. Das Buch liest sich gut. Aber es bleibt nicht im Gedächtnis, es sind ein paar Figuren zu viel und ein überraschendes Ende ist zwar gut, aber die losen Enden, die dorthin führen, hätte man schon gern früher gesehen. Das könnte allerdings auch der Tatsache geschuldet sein, dass der leise Tod in Lissabon Poncianos Krimi-Debut ist. Ich hoffe auf weitere Fälle.

Ganz gut.

Olivia Monti, Sterbewohl. Deutschland, in der Zukunft. Das Land ist nur noch eine Scheindemokratie. Der Staat will Rentenzahlungen vermeiden und veranstaltet für ältere Menschen Sterbeseminare in Luxushotels. Dort sollen sie freiwillig eine Giftpille namens Sterbewohl einnehmen. Nadja, Anna, Max und Fred leben in einem Mietshaus mit vier Wohnungen, sie sind über 65 und bekommen die Einladung fürs Seminar, im Hotel Paradies auf Fehmarn. Sie wollen noch nicht sterben, fahren trotzdem hin, wann werden einem schon ein paar Tage Luxushotel bezahlt, und merken, dass da was nicht stimmt. Manche Alten freuen sich zu sehr aufs Sterben, andere wollen nicht sterben und verschwinden plötzlich. Was ist da los?

Monti greift ein wichtiges Thema auf, eigentlich zwei: Erstens die leeren Rentenkassen und die Würde der alten Menschen und zweitens, das aber eher am Rande, die Frage eines selbstbestimmten Todes. Eine gute Idee, die Themen in einen gut lesbaren Krimi zu verpacken. Aber die Autorin findet den Ton nicht, sie erzählt weder ironisch, obwohl Ironie und Satire gut zum Thema passen würden, noch macht sie es besonders aufregend, etwa mit Cliffhangern, sympathischen Protagonisten, unsympathischen Antagonisten o.ä. Es gibt solche Figuren, aber sie bleiben seltsam gleichgültig. Das Handeln der vier Alten wird nicht nachvollziehbar, die Frage nach des bösen Morlocks paranormalen Fähigkeiten wird nicht verfolgt, und so stellen sich weder wirklich Spannung noch Mitgefühl ein.

Nicht so gut.


Januar 2021

Neue Krimis

Jan Seghers, Der Solist. Berlin, September 2017. Der erste Fall eines Ermittlers namens Neuhaus, der von Frankfurt in die neue Berliner "Sondereinheit Terrorabwehr" geht. Die sitzt in einer Baracke auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Und dann beginnt eine Mordserie: ein jüdischer Aktivist, eine muslimische Anwältin, und noch mehr Menschen sterben. Neuhaus ist eher ein Solist. Seine Kollegen trauen ihm noch nicht so recht, nur die junge Deutschtürkin Suna-Marie. Er versucht herauszufinden, was die Fälle verbindet, aber die Kollegen sind nicht immer eine Hilfe. Dafür gibt es Gründe.

Der Polizist ist Sohn einer RAF-Sympathisantin. Ebenso ungewöhnlich ist der Hintergrund von Suna-Marie, Spitzname Grabowski nach einem blinden alten Maulwurf, ihre Eltern haben ein Blumengeschäft in der Sonnenallee; türkische Blumenläden scheinen mir eher unwahrscheinlich, als ich in der Sonnenallee lebte, gab vielmehr ein alteingesessener (wenn auch deutscher) Blumenladen auf. Suna-Marie ist emanzipiert, lebhaft, und bietet dem eigenwilligen Polizisten Paroli. Auch in diesem Buch  spielen Rechtsextreme eine böse Rolle, wie in vielen Krimis in dieser Zeit, wirkt hier aber nicht gekünstelt. Dennoch sind die Figuren ein bisschen "geplant", der einsame Musik hörende Bulle (der seine Schallplatten seltsamerweise in einer großen Ledertasche unterbringen kann, S. 51), die emanzipierte (Deutsch-)Türkin mit Eltern, die einander und ihre Kinder so innig lieben, dass die Tochter sich nicht getaut, zu heiraten und Kinder zu bekommen (S. 103). Schön ist das Neuköllner Lokalkolorit, der Autor hat gut recherchiert, nur steht das Hotel Mercure nicht am Hermannplatz, sondern am Rollberg. Sonst stimmt es, sogar die Telefonzelle am Herrfurthplatz mit den Büchern zum Tauschen. Aber können sich Polizisten das Saint Amour leisten, in dem die Frösche einverstanden sind, totgestreichelt zu werden, damit Menschen ihre Schenkel verspeisen können? (S. 192 ff.) Gut geschrieben, gute Dialoge (S. 107 f.), und die Weißstörche (S. 106) würde ich auch gern sehen.

Gut bis sehr gut.

Thomas Ziebula, Abels Auferstehung. Leipzig, Februar 1920. Paul Stainer ist nicht mehr nur durch den Krieg traumatisiert, sondern auch durch den gewaltsamen Tod seiner Frau. Und nun muss er gleich mehrere Morde aufklären; die Leiche eines Soldaten weist frische Wunden von einer Mensur auf - er war Mitglied einer jüdischen Studentenverbindung gewesen und Stainer recherchiert nun zu radikalen Rechten in Leipzig. Ein weiterer toter Soldat wird in Basel aus dem Rhein geborgen und die junge Journalistin Marlene Wagner will herausfinden, ob es vielleicht ihr vermisster Bruder ist, und recherchiert dann auch zu den Morden. Sie schreibt einen polemischen Artikel über Mensuren und gerät in den Fokus der radikalen Rechten, und sie verfolgt die Spur eines Zigarettenetuis, das der eine Soldat bei sich hatte, Werbegeschenk eines Leipziger Rauchwarenhändlers. (Fellhändlers!)

Ziebula lässt wieder die Zeit um 1920 auferstehen, die Recherchen im rechtsradikalen Milieu lesen sich spannend. Aber die Geschichte ist etwas wirr, mehrere Handlungsstränge laufen nebeneinander, es steuert nicht wirklich auf das Ende zu, obwohl das wiederum überraschend ist und dadurch interessant, das könnte man mit mehr Klarheit in der Geschichte besser genießen. Die Sprache ist etwas gekünstelt ("etwas Triumphierendes funkelte in seinen eisblauen Augen", S. 214), eine Sexszene ist schlecht geschrieben ("Er nahm sie auf eine Art, die Marlene nicht wirklich genießen konnte" und dann eine Aufzählung, warum denn nicht - es fehlte bloß noch die Nummerierung dieser Gründe, S. 215), der Feminismus wirkt unecht ("´... das wird unseren Lesern gefallen und unserem Chef auch.` ´Und unseren Leserinnen hoffentlich auch.`" S. 187, ähnlich S. 251, und "´Fräulein` kann ich nicht leiden." S. 208) Gab es wirklich vor 100 Jahren Diskussionen um gegenderte Sprache? Der Autor hat das Buch Gerdrud Senftleben gewidmet, der Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Sie wurde aber erst 1906 geboren, im Jahr 1920 war sie gerade mal 14. Das ist wie das Buch im Ganzen: Irgendwie steht man dahinter und findet es richtig, irgendie passen die Dinge aber auch nicht so wirklich zusammen. Der erste Band der Reihe um Paul Steiner war deutlich besser. Warten wir den dritten Band ab.

Mittel bis gut.

Volker Kutscher, Olympia. Der achte Fall des Gereon Rath. In Berlin finden die Olympischen Spiele statt. (Kleine schulmeisterliche Fußnote: Kutscher schreibt immer "Olympiade", wenn er die Spiele meint. Dabei bezeichnet dies Wort den Zeitraum zwischen zwei Spielen.) Im Olympischen Dorf ereignet sich ein Todesfall, und Gereon Rath wird dorthin abkommandiert, um ihn in verdeckter Mission aufzuklären. Die Machthaber, Raths Auftraggeber, glauben, dass Kommunisten die Spiele sabotieren und in der Tat findet Rath im Dorf einen Mitarbeiter mit kommunistischer Vergangenheit, der am Tatort war. Die SS verhört und foltert den Verdächtigen, aber dann geschieht der nächste Mord. Rath steht unter Druck. Auch privat läuft es nicht so rund: Er musste amerikanische Olympiatouristen bei sich aufnehmen und daraufhin hat seine Ehefrau Charly die gemeinsame Wohnung verlassen. Und der frühere Ziehsohn Fritz ist mit dem Jugendehrendienst im Olympischen Dorf, kommt den Ereignissen zu nahe, und gerät auch ins Blickfeld der SS.

Gut konstruiert. Auch geschichtlich interessant, es macht Spaß, einen Krimi vor diesem Hintergrund zu lesen. Aber kein "großer" Krimi: Mir fehlt der Mut zur Bosheit. Gereon Rath und vor allem Charly Ritter sind etwas zu gut. Der Krimi ist politisch korrekt und ich will das eigentlich nicht als Schimpfwort verstanden wissen. Zum Beispiel sterben viele Leute, die nur zum Sterben im Buch auftauchen,  und sonst keine Rolle haben. "Nur" eben, das Mörderische im Nazi-Regime zu zeigen. In diesen Szenen werden ihre letzten Gedanken beschrieben, so dass man solidarisch mit den Opfern ist. Aber es ist eben auch etwas langweilig. Man muss nicht darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist. Man fühlt mit den Menschen mit, die gegen das NS-Regime sind: Das ist ein Verdienst des Autors, seine Absicht sowieso. Aber man vergisst sie auch schnell. Und der "gemeine Nazi" ist vielleicht auch nicht so doof wie beschrieben, auch wenn man sichs so wünschte (S. 286).

Gut bis sehr gut.


Dezember 2020

Neuer Krimi

Wolfgang Schorlau, Kreuzberg Blues. Georg Dengler und seine Freundin Olga haben auf etwas schräge Art einen Haufen Geld verdient, aber sie können sich nicht drauf ausruhen, denn eine Freundin von Olga bittet sie um Hilfe: Sie lebt in Kreuzberg, zwischen Townhouses, Plattenbauten, Türkischer Community und Schwarzem Block - und ein Bauunternehmer will die Mieter aus zwei Häusern loswerden und die Kita daneben abreißen. Dengler und Olga fahren nach Berlin, müssen plötzlich um das Recht auf Wohnen kämpfen und dann tauchen da plötzlich noch ganz andere Menschen und Mächte auf.

Schon das dritte Buch über die Methoden von Immobilienhaien, nach "Die Schlange" von Martin Wehrle und "Gott wohnt im Wedding" von Regina Scheer: ein fettes Problem, kennt wohl jeder in der Großstadt und man kann nur hoffen, dass man in einer Wohnung lebt, die kein solcher Hai "entmieten" will. Auch wenn Georg Dengler im neuen Krimi von Wolfgang Schorlau noch andere Gegner hat. Scheer hat die beste Literatur gemacht, Schorlau aber hat das kurzweiligste Buch geschrieben. Wieder greift der Autor  Personen der Zeitgeschichte auf,ist etwa äußerst kritisch gegenüber dem früheren Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen (Herr Meesen, z.B. S. 186), aber auch wieder gegenüber dem früheren Chef des Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz Helmut Roewer (Harry Nopper, z.B. S. 188, man kennt ihn aus "Die schützende Hand"). Wie immer sieht Schorlau große Verschwörungen hinter der Politik (z. B. zum Wandel der Einstellung gegenüber Geflüchteten S. 248), aber was solls, es könnte ja sein, es gibt ein paar kleinere Ungenauigkeiten (S. 116: Nicht Paragraph im Grundgesetz, sondern Artikel). Aber Kreuzberg Blues liest sich einfach sehr gut, nimmt sogar schon Corona auf, hat mit dem Immobilienmarkt ein wichtiges und aktuelles Thema und ist sehr spannend. Was will man mehr? Toller Krimi!


Oktober/November 2020

Neue Krimis

Heinrich Steinfest, der Chauffeur. Paul Klee ist Chauffeur. Er wirkt ganz zufrieden, nach Abitur, ein paar Semestern Jura, mit wenig Privatleben, aber immer zwei Büchern gleichzeitig zum Lesen. Doch dann geschieht ein Unfall und er trifft die falsche Entscheidung. Er hört auf, Chauffeur zu sein, kauft ein kleines Haus und macht daraus ein Hotel, zusammen mit der Maklerin, in die er sich verliebt. Und dann geschieht noch etwas, und er macht sich auf eine Suche.

Typisch Steinfest, eine Mischung verschiedener Genres, ein bisschen Krimi, ein winziges bisschen Fantasy, aber vor allem Roman. Endlich mal wieder ein Buch, das ich nicht weglegen mochte aber natürlich weglegen musste, denn ab und an esse, schlafe oder arbeite ich ja auch. Und ich freute mich immer darauf, weiterlesen zu können. Wie immer und immer besser kommt Steinfest bei seinen Erklärungen vom Hundertsten ins Tausendste, und alles macht Spaß. Ich habe einiges nachrecherchiert, andere Leser wohl auch, etwa auf S. 196 erwähnt er ein Buch "Als die Libellen starben", als ich das bei Google eingab, wurde es gleich ergänzt, wenn auch mit "sterben", und dabei gibt es das Buch nicht einmal. Und auf S. 216 recherchiert Klee bei Wikipedia den Ort Wesenufer: Der Ort verfüge (a propos: das Wort "verfügen" nutzt Herr Steinfest viel zu oft, gegen Ende hatte der Lektor vielleicht nicht mehr genug Zeit?) "über einen einzigen Schriftsteller", da lacht man sich schon mal schlapp, und noch viel mehr, wenn man nach dem Schriftsteller guckt: Der heißt Martin Selle und hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag, demzufolge er mit seinen Büchern "Multiwert" bieten will, er absolvierte sogar mal eine Ausbildung zum Akademischen Immobilienfachberater. Das alles ist so schön, das hätte sich Steinfest auch ausdenken können - aber Selles Eintrag gibts schon seit 2011; im damaligen Eintrag steht auch noch: "Schüler verleihen Martin Selle für seine Geschichten Auszeichnungen wie ´Ehrenautor der Schüler der HS Esternberg für die meistgelesensten [sic!] Bücher an der Schule`." Der Chauffeur ist ein tolles Buch.

Christian von Ditfurth, Terrorland. In Berlin explodiert ein Bus mit Touristen, aber nicht nur Touristen. Mehrere Diplomaten werden ermordet, vor allem Russen. Kommissar Eugen de Bodt und sein Team verstehen es nicht, de Bodt hat immerhin eine Idee, aber ob die stimmt?

Solides Thrillerhandwerk, eigentlich auch spannend, aber viiiel zu lang, ich habs bei Seite 300 (von insgesamt 442) gesteckt. De Bodt mit seinen Hegel-Zitaten ist originell, die Dialoge sind spritzig, aber es trägt nicht über diese Länge. Ein paar Unstimmigkeiten (dass ein Killer vergisst, sich zu ent-parfümieren (S. 245) ist sehr unwahrscheinlich, und "Erika" ist, finde ich, ein Name, der zu einer Berufsmörderin nicht passt. "Killerin" ist auch eine Berufsbezeichnung, über die ich immer stolpere, obwohl es sie schon seit Kill Bill 2 gibt. Mittel.

Tilman Spreckelsen, die Nordseefalle. Der junge Anwalt Theodor Storm (ja, genau DER, der war tatsächlich nicht nur Schriftsteller, sondern auch Anwalt, auch wenn dieser Fall Spreckelsens Erfindung ist) hat einen neuen Fall: Der versoffene Tagelöhner Hinrich Dahl wird eines Morgens mit einem blutigen Messer neben der Leiche eines fremden Mannes gefunden. Zunächst kann Dahl sich an nichts erinnern. Dann aber doch, und Storm und sein Schreiber Peter Söt reisen nach Wyk auf Föhr, wo der dänische König, der Dichter Hans Christian Andersen und ein freundlicher Ex-Kommilitone Storms sich aufhalten. Es geht um Aquavit, eine Schatzkarte der verschwundenen Insel Rungholt und die royale Vaterschaft...

Spreckelsen lässt den Schreiber aus seiner Sicht erzählen, so folgt man Storm und kommt ihm dennoch nicht zu nahe. Und das Ende ist überraschend. Ein guter Krimi, der am Meer spielt, gerade das Richtige für ein paar freie Tage in den kommenden Herbststürmen.

Amelie Fried, Die Spur des Schweigens. Julia, knapp 40, schlägt sich mühsam als freie Journalistin durch. Sie bekommt einen Auftrag, von dem weder der Chefredakteur noch sie überzeugt zu sein scheinen, aber sie macht sich an die Arbeit: In einem wissenschaftlichen Institut soll es sexuelle Übergriffe geben. Erst glaubt sie es nicht, aber dann sind betroffene Frauen bereit zur Aussage - und sie lernt den Hauptverdächtigen kennen, den sie sehr attraktiv findet. Und sie stößt auf die Verbindung zu ihrem Bruder Robert, der seit 12 Jahren verschollen ist.

Mehrere Geschichten laufen parallel, aber man verliert nicht den Überblick. Julia und ihre Recherche, die Geschichte um ihren Bruder, und das Schicksal ihrer Mutter, und dazwischen Geschichte um Liebe und Freundschaft. Klare Handlungsstränge, wobei mich persönlich die Liebesgeschichten am wenigsten interessieren, aber man muss ja erklären, warum Julia den Hauptverdächtigen so attraktiv findet. Julia gerät in viel Schlamassel, und ob sie da wieder rauskommt, ist spannend. Solides Handwerk, guter Krimi.

Petra Hammesfahr, Nach dem Feuer. Die Polizei rettet einen Jungen davor, sich in einen brennenden Wohnwagen zu stürzen. Er kommt ins Krankenhaus und Hauptkommissarin Rita Voss versucht herauszufinden, wie er heißt, woher er kommt, und was passiert ist. Sie weiß bald nicht mehr, ob er geistig zurückgeblieben oder hochintelligent ist. Der Junge hat ein schreckliches Geheimnis. Und er scheint in großer Gefar zu schweben.

Mehrere Handlungsstränge, und man findet erst allmählich heraus, wer was getan hat, und warum. Das ist eigentlich spannend. Aber die viele Personen und ihre Beziehungen zueinander sind ziemlich wirr. Ich habe es nur bis Seite 214 geschafft und dann abgebrochen. Mittelmäßig.


Letzter Museumsbesuch vor dem Lockdown II: Museum Ritter

Das Museum Ritter in Waldenbuch mit seiner Kunst, so quadratisch wie die Schokoladentafeln, zeigt von Mitte Oktober 2020 bis zum 11. April 2021 zwei Ausstellungen. Im Obergeschoss "Promenades en carré" von Vera Molnar. Die Künstlerin gilt als besonders wichtige Vertreterin der konstruktiv-konkreten Kunst und sie ist eine der ersten Künstlerinnen überhaupt, die Werke mit dem Computer schuf. Sie wurde 1924 in Budapest geboren und lebt seit 1947 in Paris. Sie ist mit mehreren Werken in der Sammlung Marli Hoppe-Ritter vertreten. Man sieht violette Kreise und Halbkreise, verrückte Rauten, grüne, blaue und rosa Quadrate, seltsame gerade Formen, man hat Lust,m davorzustehen und sich zu versenken in die Bilder. Im Erdgeschoss HIGHLIGHTS. Lichtkunst aus der Sammlung etwa mit "LOVE" von Maurizio Nannucci gleich am Beginn, farbige Neonröhren vereinen die vier Buchstaben des Wortes Love zu einem Quadrat. Gregorio Vardagnegnas "Relief Lumineux" erinnert an Werke Piet Mondrians, Werner Bauer schuf Leuchtkästen mit Acrylglas und Folien, die Licht sammeln und leiten. Ein großes Vergnügen, hoffentlich kann man im Dezember wieder hin!


August 2020

Neue Krimis

Tommie Goerz, Meier. Meier hat zehn Jahre gesessen, für einen Frauenmord. Den hatte er aber gar nicht begangen. Aber dann hatte er Zeit, für Gymnastik, zum Nachdenken und für Pläne: Seilspringen ohne Seil, Sit-ups; Gerechtigkeit, Wiedergutmachtung, Geduld; Kontakte knüpfen, verbotene Dinge lernen. Nun ist er frei. Und das ist gar nicht so einfach.

Meier hat studiert, Physik, Philosophie, fiel im Knast einem Tschetschenen auf, und das hat Folgen, im Knast und danach, was Goertz wunderbar lakonisch beschreibt. Ein leider viel zu kurzes Buch voller Überraschungen, Wendungen, Tricks, ganz ohne moralische Vorträge, und doch fragt man sich, was ist Recht und Unrecht, wie weit darf man gehen in der Not. Vor allem ist es richtig spannend. Toller Krimi.

Zoe Beck, Paradise City. Deutschland, 22. Jahrhundert oder später. Das Leben konzentriert sich um Frankfurt, die elektronische Patientenakte ist Alltag, jeder trägt ein Bodycase mit sich herum und KOS, ein Gerät, das Bescheid gibt, sobald man irgendein Medikament braucht. Zum Beispiel. Liina ist Rechercheurin bei einem der letzten unabhängigen Nachrichtenportale. Ihr Chef schickt sie in die Uckermark mit einem Auftrag, den sie überflüssig findet. Aber dann hat er einen seltsamen Unfall und eine Kollegin wird ermordet. Und Liina vermutet, dass eine Person, der sie einmal sehr nahe stand, darin verwickelt ist.

Ein spannender Krimi. Man wird hineingeworfen in eine Welt nach Pandemien, mit gestiegenem Meeresspiegel und einwandernden Wildtierarten - auch dem Goldschakal, der in Deutschland tatsächlich schon gesichtet wurde. Die Autorin reflektiert Datenschutz und Datensicherheit, man ist hin- und hergerissen zwischen Nutzen und Schaden einer elektronischen Überwachung, und kann eine medizinische Totalüberwachung etwas anderes als ien Alptraum sein? Die Protagonistin weiß, wie sie staatlicher Überwachung entkommen kann, aber staatliche Kräfte wissen auch, wie sie die Protagonistin austricksen können. Ohne und mit Gewalt. Guter bis sehr guter Krimi.

Max Annas, Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit. Der zweite Fall der Morduntersuchungskommission um Otto Castorp, der Eheprobleme hat und trinkt, und der eigentlich nur ein aufrechter Polizist sein will. Melchior Nikoleit war Bassist in einer Punk-Band in Jena. Und IM der Stasi. Er wird ermordet. Vorher waren die Bandmitglieder verhört und verprügelt worden. Und davor waren sie hier und da eingebrochten, um zu gucken und vielleicht eine Flasche Bier zu klauen. Melchiors Vater gerät in Verdacht, er hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Und vom Vater eines anderen Bandmitglied, einem NVA-Major, taucht bei einem dieser Einbrüche ein Foto auf, das ihn mit ein paar anderen Soldaten zeigt, gegen Ende des Krieges, posierend mit der Leiche eines Engländers.

Interessantes, spannendes Thema: Polizeiarbeit in der DDR, Nachhall von Verbrechen von Wehrmachtssoldaten. Die Geschichte spielt 1985 in der DDR, der Autor hat sie Matthias Domaschk (https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/matthias-domaschk) gewidmet, der 1981 starb, der Mitglied der Jungen Gemeinde Jena war, und besonders spannend in diesem Krimi ist der Umgang der Jungen Gemeinde mit der Stasi. Überhaupt überzeugt an diesem Roman vor allem die Beschreibung der Atmosphäre in einer Familie, in einer Kirchengruppe, und in einer Punkband, während das Verbrechen als solches eher wirr wirkt - aber das ist auch kein Wunder angesichts so unterschiedlicher Möglichkeiten. Auch sind trinkende Ermittler mit Eheproblemen in Krimis recht weit verbreitet. Aber, wie gesagt, die Atmosphäre hat mich ins Buch gezogen.Gut bis sehr gut.

Juli 2020

Neue Krimis

Hannah Häffner, Nordsee-Nacht. Sommer 1987, ein Ferienlager in Hulthave an der Nordsee. In einer Nacht verschwindet Friederike Baumgart, ein schüchternes kleines Mädchen. Spurlos. Kommissar Ulrich Wedeland und Betreuerin Sascha Götz suchen sie - vergeblich. Und siewerden die Erinnerung nicht los. 25 Jahre später liegt eine erwachsene Frau am Strand von Hulthave, sie lebt, kann sich aber an nichts erinnern, sagt sie. Ist es Friederike? Wedeland und Sascha kehren nach Hulthave zurück, um endlich die Wahrheit herauszufinden. Er hat das Gefühl, nicht gut genug ermittelt zu haben, sie leidet unter Schuldgefühlen wegen eines Moments der Unachtsamkeit, den sie verschweigt.

Die erste Hälfte des Buches erzählt die Ermittlungen im Jahr 1987, die zweite Hälfte das Geschehen 25 Jahre später. Friederikes Verschwinden hat sich wie ein Schatten über das Leben von Wedeland und Götz gelegt. Autorin Hannah Häffner beschreibt in ihrem ersten Roman die ermüdenden Ermittlungen, und sie zeigt die tiefen Spuren, die so ein Fall bei allen Beteiligten hinterlässt. Man fühlt mit, wenn sie sich nach 25 Jahren wieder nach Hulthave aufmachen, auch wenn es immer mal ein bisschen hakt, warum hat der Kommissar gerade diese Geliebte, warum hat die Betreuerin ausgerechnet eine Familie zustande gebracht, aber keine Arbeit. Das Buch liest sich gut, die immer wieder neuen Erkenntnisse bieten Überraschungen. Solides Krimihandwerk. Ganz gut.

Tommie Goerz, Sandmann. Friedo Behühtuns´ neunter Fall: Ein Mann kommt abends nach Hause und findet Frau und Sohn niedergestochen in ihrem Blut liegen; der Sohn ist tot, die Frau stirbt bald darauf. An der Garderobe hängt eine Spieluhr, sie spielt den "Sandmann", ein Schlaflied, etwa sieben Minuten lang, die Tat muss  also wenige Minuten vor der Ankunft des Mannes geschehen sein. Die Ermittlungen zeigen Abgründe in der Familie, aber wer war der Täter?

Wieder ein Krimi, in dem das Privatleben des Kommissars zwar keine Rolle spielt, aber weiten Raum einnimmt. Aber das nervt nicht, im Gegensatz zu den Gedanken, etwa  über die gendergerechte Sprache und Entfernung von Gomringers Gedicht (S. 54) oder die AfD in Sachsen (S. 218). Während man vielleicht etwas über das Privatleben einen Kommissar wissen möchte, der einen Fall nach dem anderen löst (der vorliegende Krimi ist sein neunter), fühle ich mich durch die Ausführung der politisch korrekten Gedanken, obwohl ich sie teile, bevormundet. Ansonsten ist der Krimi gut, dem Autor gelingt es, die Spannung zu halten, während er die Ermittlungen erzählt, einige Ermittlungsansätze versprechen Erfolge und laufen dann ins Leere, andere ziehen sich über Monate hin. Ganz guter Krimi.

Matthias Wittekindt, Die Brüder Fournier. Die Brüder Iason und Vincent Fournier wachsen in Envie, einem Vorort von Brüssel, auf. Envie bedeutet auf Französisch Lust, etwa die Lust, etwas zu unternehmen. Aber der Ort Envie ist langweilig und die Brüder wachsen eher vernachlässigt auf. Vincent soll Jura studieren, der verhaltensauffällige Iason die Konditorei der Eltern übernehmen. Sie treffen sich mit Freunden, leben sich auseinander, finden wieder zusammen, probieren Drogen, Iason gerät in Kreise reicher Leute, die exklusive Parties veranstalten. Dann aber sterben nacheinander zwei Jugendliche aus ihrem Freundeskreis, sie werden erfroren aufgefunden, Drogen im Blut.

Spannendes Buch mit Stoff zum Nachdenken. Dabei macht es einem der Autor nicht leicht, es gibt eigentlich keine wirkliche Sympathiefigur. Man denkt über die Jugendlichen nach, aber man fühlt nicht mit ihnen. Man betrachtet die Wege der Jugendlichen mit einem gewissen Verständnis, aber mit Distanz. Nur selten wird sie überwunden, etwa wenn der Leiter der Anstalt, in der Iason eine Zeitlang lebt, über ihn spricht - dann wünscht man sich, dass Iason hier Leben lernt. Selten, dass Psychologen/Psychiater etc. in Krimis vernünftig und nachvollziehbar argumentieren - hier ist es der Fall. Ein sprödes, sehr gutes Buch.

Juni 2020

Neue Krimis

Elisabeth Herrmann, Requiem für einen Freund. Der sechste Fall des Berliner Anwalts Joachim Vernau: Zu seinem größten Erstaunen meldet sich ein Finanzbeamter an: Betriebsprüfung. Der prüft, verbeißt sich in eine Jahre alte Restaurantquittung - und liegt kurz darauf erschossen in Vernaus Büro. Die Behörden behaupten einen Selbstmord, Vernau glaubt das nicht, fängt an zu recherchieren und entdeckt, dass der Prüfer ganz eigene Recherchen verfolgt hatte, die auch einen alten Freund Vernaus betreffe.

Spannender Krimi. Der Anwalt ist einigermaßen arm, einigermaßen ehrlich, und einigermaßen unglücklich getrennt, und während so eine Konstellation leicht einmal überflüssiges Beiwerk ist und nervt, ist es hier Teil der Geschichte. Diese entwickelt sich nach und nach und trägt die fast 500 Seiten. Die Personen wirken authentisch, man fühlt sich in ganz unterschiedliche Charaktere hinein. Sehr gut.

Andrea Di Stefano, Tutto Bene. Ein Lago-Maggiore-Krimi. Lukas Albano Geier hat den Polizeidienst als Agentenführer hinter sich gelassen und ist an den Lago Maggiore gezogen, um nur noch Musik zu machen. Dann aber taucht eine Leiche auf, auf deren Arm seine alte Mobilfunknummer geschrieben steht.

Der Autor ist zu zweit: Die Brüder Andreas und Stephan Lebert schreiben unter dem Pseudonym Andrea Di Stefano Romane. Dieser hier ist wirklich gut gelungen. Man folgt dem Ex-Polizisten bei seiner Spurensuche, bekommt mit ihm Herzklopfen, wenn er seine alte Liebe wiedersieht, und ein ungutes Gefühl, wenn er über die Ethik der Tätigkeit eines Agentenführers grübelt. Dennoch kein Lehrstück mit erhobenem Zeigefinger. Stattdessen ein überraschender Schluss. Sehr guter Krimi.

Stefan von der Lahr, Das Grab der Jungfrau. Wissenschaftler der Universität Berkeley entdecken einen Papyrus mit einer Information, die ein grundlegendes Dogma der Kirche wiederlegen könnte. Einer der Forscher bringt das Schriftstück nach Rom, um diese Information in der Vatikanischen Bibliothek zu ergänzen. Das ruft gewisse kirchliche Kräfte, weitere Wissenschaftler und die Mafia auf den Plan - und der Papyrus wird geraubt. Commissario Barielle von der römischen Polizei und Monsignor Montebello von der vatikanischen Bibliothek versuchen, das Rätsel zu lösen.

Dieser Roman ist die überarbeitete Fassung eines schon 2015 im Verlag Antike erschienenen Krimis. Die Geschichte ist interessant, gar spannend. In der Art folgt der Autor einem ähnlichen Schema wie seinem 2019 erschienenen Buch Hochamt in Neapel. Aber während im Hochamt die Religion etwas Erfrischendes hat, wirkt sie beim Grab der Jungfrau öde, die guten Priester sind zu gut, der afrikanische Papst hat reine Hände, das Dogma ist sauber. Politisch korrekte Schwarzweiß-Malerei. Nicht so gut.

Jan Costin Wagner, Sommer bei Nacht. Jannis, fünf Jahre alt, verschwindet. Die Ermittler Ben und Jan finden bald Parallelen zu einem anderen Fall, auch einem verschwundenen Jungen. Und zu weiteren Fällen. Sie schleppen aber selber eine Last mit sich.

Wagner schreibt aus der Sicht der unterschiedlichen Personen. Dadurch entstehen viele teils sehr kurze Kapitel, und man fühlt mit. Man ahnt, was so ein Fall mit allen Beteiligten macht, wer überhaupt beteiligt ist. Das tut auch weh, weil Wagner einige sehr aktuelle Begebenheiten aufgreift. Aber nicht alles überzeugt. Zum Beispiel überzeugt mich der Hintergrund des Ermittlers Christian mich nicht. Der seines Kollegen Ben schon eher. Aber dessen Handeln am Schluss und Christians Reaktion darauf wiederum nicht. Ich habe allerdings das Gefühl, dass der Leser damit einverstanden sein soll, und das stößt mich ab. Die Figur des Landmann finde ich überflüssig. Dennoch: Dieser Krimi hat literarischen Anspruch, den er erfüllt. Er ist spannend, und diese Spannung gewinnt er nicht durch eine verborgene Lösung - die kennt man schnell - sondern durch das Mitgefühl mit den Personen und die Frage, ob am Schluss Gerechtigkeit widerfährt. Sehr gut bis gut.


Mai 2020

Neue Krimis

Karsten Dusse, Das Kind in mir will achtsam morden. Dies Buch beginnt, wo "Achtsam morden" aufgehört hat: Björn Diemel führt nun die beiden Mafia-Clans, den Chef des einen hatte er um die Ecke gebracht, den des anderen im Keller seines Kindergartens eingesperrt. Nun will er nicht mehr morden. Erstmal macht er mit seiner (Ex-)Frau und der gemeinsamem Tochter Urlaub, dummerweise gerät er mit einem Kellner aneinander und verliert die Selbstbeherrschung. Wieder erpresst seine Frau ihn zu einem Achtsamkeitstraining. Und sein bewährter Therapeut Joschka Breitner hilft ihm, sein inneres Kind zu entdecken und sich mit ihm zu versöhnen. Allerdings ist es recht aufsässig, dies innere Kind.

Ein zweites Buch mit demselben Thema, nach demselben Muster: ein Abklatsch? Die Vermutung lag nahe, wurde aber zum Glück getäuscht: Björn Diemel hat neue Probleme, man ist gespannt auf die Lösung, an die Stelle der Dialoge mit dem Therapeuten treten Dialoge mit dem inneren Kind, die sehr lustig sind. Der Abschluss ist nicht so hingeschludert wie im ersten Buch. Stattdessen eine äußerst innovative Sex-Szene! Kein Tiefgang, aber sehr gute Unterhaltung. Und der Autor kennt sich mit Achtsamkeit gut aus. Sehr guter Krimi!

Martin Wehrle, Die Schlange. Zwei Ich-Erzähler: Hauptperson ist Susanne Mikula, ehemalige Journalistin, die in Notwehr getötet hatte und jetzt ein Trauma plus Geldprobleme hat und herumhängt. Da bekommt sie einen ungewöhnlichen Auftrag: Sie soll für die Hamburger Immobilienfirma StageBau interne Recherchen anstellen: Wer mobbt alte Mieter aus den Wohnungen, die dann luxussaniert werden und der Firma viel Geld bringen? Mikula recherchiert, alle Spuren scheinen ins Nichts zu führen, und schließlich gerät sie selbst in große Gefahr. Der andere Ich-Erzähler entpuppt sich (sehr bald, darum wird hier nicht zuviel verraten) als ein Profikiller, der sich über seine neuesten Aufträge wundert.

Eigentlich ein wahnsinnig interessantes und aktuelles Thema. Außerdem eine Geschichte um eine Journalistin, wenn auch nur um eine ehemalige - das würde mich natürlich brennend interessieren. Aber die Handlung ist sehr mühsam konstruiert, und die Journalistin macht Fehler, die einfach nicht glaubwürdig sind, und so kam keine Spannung auf, obwohl ich die Lösung nicht vorausgeahnt hatte. Der Profikiller ist die deutlich interessantere Figur, aber das genügt nicht. Nicht so guter Krimi.

Heidi Troi, Feuertaufe. Lorenz Lovis kündigt bei der Staatspolizei Brixen und kehrt in das Dorf zurück, in dem er aufgewachsen ist. Sein Großonkel hatte ihm auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, seinen Hof zu übernehmen, aber Lovis ist widerwillig und hat keine Ahnung. Und der Hof ist verschuldet. Aber er hat einen fitten Knecht, und eine Frau stellt ihr Pferd auf dem Hof unter und hilft dafür auch. Sie schlägt vor, dass er als Privatermittler Geld verdient. Und prompt bekommt er einen Auftrag von Baron Cavagna. Aber dann kommt der ums Leben und Lovis steht unter Verdacht. Und was sollen eigentlich die toten Uhus?

Ein malerischer Hof in Südtirol - nein, glücklicherweise nicht. Das Leben als Bauer ist hart, nicht alles funktioniert öko, und ein arbeitsloser Ex-Polizist hat es nun einmal nicht leicht. Das kommt ehrlich rüber, und in der Tat, man fühlt mit Lorenz Lovis mit. Aber man fiebert nicht mit ihm. Es gibt ein paar nette Ideen, das Huhn Alma zum Beispiel, aber ein (Ex-)Polizist, der kein Smartphone hat und nicht einmal Messenger-Dienste kennt: sehr unglaubwürdig. Und der Verlauf des Krimis ist allzu vorhersehbar. Nicht gut, aber auch nicht schlecht.

Romy Hausmann, Marta schläft. Nadja hat gerade die vierte Panikattake innerhalb von drei Wochen erlitten. Sie ist gestürzt und die blonde Perücke ist ihr vom Kopf gerutscht. Nun macht sie, dass sie wegkommt. Nelly hatte sich vor fünf Jahren in einen verheirateten Mann verliebt - und wurde erschlagen aufgefunden. Irgend jemand versucht immer wieder, einen Brief zu schreiben, um etwas zu erklären. - Wie in Hausmanns Erstling "Liebes Kind" spielen sich mehrere Geschichten ab, deren Zusammenhänge sich nur langsam dem Leser erschließen.

Die (gesamte!) Geschichte ist sehr gut, dieser Thriller liest sich zwar nicht so weg wie eine durchgehend erzählte Geschichte, man stockt, man überlegt, wie die Menschen und Ereignisse miteinander verknüpft sind. Spannend genug. Besonders gut finde ich aber die Personen. Selten las ich so intensiv und glaubwürdig dargestellt, wie Traumate und Träume, das Verhalten, Gesellschaft und Einsamkeit da sind und wirken. Sehr guter Krimi.


April 2020

Neue Krimis

Frank Göhre, Verdammte Liebe Amsterdam. Die Polizei ruft Schorsch Köster an: Sein Bruder Michael wurde auf einem Autobahnrastplatz tot aufgefunden, erschlagen. Eigentlich hatten die beiden seit Jahren nichts miteinander zu tun, aber Schorsch will wissen, was passiert ist und spürt dem Leben seines Bruders hinterher.Schorsch hat eine Kneipe, einen Musikschuppen in Hamburg, Michael suchte verschwundene Menschen, als letztes eine 15-Jährige. Nun macht auch Schorsch sich auf die Suche, in Amsterdam, und das wird ziemlich gefährlich. Gute Geschichte, schön düster geschrieben, unterhaltsame Dialoge in Szenesprache, viele Überraschungen. Es entspinnt sich noch eine Nebenhandlung aus der Kindheit der Brüder, noch düsterer als die Gegenwart. Und die Hauptperson ist auch kein großer Held. Toller Krimi.

Mark Fahnert, Lied des Zorns. Auftakt zu einer Reihe um Wiebke Meinert, ehemalige Elitesoldatin und Schwester der Geheimagentin Saskia Meinert. Saskia hat Karriere gemacht, Wiebke einen Absturz. Dann erfährt Wiebke, dass ihre Schwester Saskia mit einer Autoexplosion ermordet wurde. Saskia hatte ihr noch eine Botschaft gesandt. Sie war einer Verschwörung auf der Spur, es geht um einen terroristischen Anschlag. Wiebke will den Mord an Saskia aufklären und den Anschlag verhindern. BND, Verfassungsschutz, Mossad, Islamisten… Syrien, Stockholm, London, Hamburg, Berlin… Ein Wirrwarr an Parteien, Orten und Menschen. Autor Mark Fahnert, seit 20 Jahren bei der Polizei, führt den Leser mit einer strikt durchgetakteten Chronologie durch das Gedränge. Dennoch sind es viele Parteien, viele Antagonisten, man verliert leicht den Überblick, falls man das Buch nicht in einem Rutsch durchliest. Ein paar Kleinigkeiten hemmen auch den Lesefluss (S. 30: So ein langer SMS-Dialog während eines Vortrags würde auffallen.) Eine Reihe um Zwillingsschwestern zwischen Liebe und Rivalität, zwischen Karriere und Absturz, ist eine Idee, die Spannung verspricht. Aber man kommt der Hauptperson Wiebke nicht nahe, sie wird weder Sympathie- noch Antipathieträger, und bleibt seltsam starr. Im Großen und Ganzen solides Thrillerhandwerk, aber nicht mehr.

Michael Wallner, Shalom Berlin. Auftakt zu einer neuen Reihe um Alain Liebermann, Jude, Mitglied des (fiktiven) Mobilen Einsatzkommandos Staatsschutz, und Spezialist für Terrorbekämpfung in Berlin. Hanna Golden, Journalistin, veröffentlicht einen Artikel über die Schändung eines jüdischen Friedhofs in Berlin. Daraufhin wird sie in übelster Weise erst bedroht und dann überfallen. Liebermann übernimmt den Fall. Die Idee einer Krimireihe um einen jüdischen Staatsschutz-Ermittler ist eigentlich gut. Sie bietet Raum für spannende Geschichten um Terrorismus und für lustige und wehmütige Geschichten um eine jüdische Mischpoke. Aber der erste Band ist noch sehr konstruiert, die Lösung hat mich nicht überzeugt. Auch passen die Leute eigentlich nicht zusammen, vor allem Alain und Diana. Und warum Hanna Golden mit dem Mann, der sie vergewaltigt hatte, in eine Wohnung geht, wird auch nicht klar. Mittel bis gut.

Axel Simon, Eisenblut. Dreikaiserjahr, 1888: Slevogt soll eine flache Ledermappe überbringen. Landow, adelig, lebt als versoffener Ermittler in Berlin. Orsini, einarmiger Ex-Artist, überlebt als Taschendieb. Eine flache Ledermappe verbindet sie, eine Spionin mit fast übermenschlichen Fähigkeiten ist zu aller Unglück hinter der Mappe her. Und in einem teuren Club besprechen Regierende und Industrielle den Krieg. Axel Simon beschreibt Personen, Kleidung, Gerüche und malt damit sehr lebendig das Leben vor über 130 Jahren. Er erschafft in diesem Leben Personen, viele mit unglücklichem Schicksal, die nicht verstehen, zumindest lange Zeit nicht verstehen, worum es gerade geht in ihrem Leben; vor allem Landow steht ungewollt an wichtiger Stelle und begreift lange nicht, was eigentlich hinter seinem neuen, lukrativen Rechercheauftrag steckt und was seine Familie damit zu tun hat. Aber auch als Leser wird man immer wieder an der Nase herum geführt, was manchmal die Spannung erhöht (Schuss auf Orsini, S. 33 ff), gelegentlich aber auch bloß verwirrt (Farbe, S. 296). Im großen und ganzen ein spannender Krimi, der aber ein eigentliches Thema, nämlich des militärisch-industriellen Komplexes, nur streift. Das mag Absicht sein, weil es die Spannung erhöht; Man weiß lang nicht, worum es geht. Guter Krimi, aber er bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück.



März 2020

Neue Krimis

Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo, Der freie Hund. Commissario Morello ermittelt in Venedig. Allerdings unfreiwillig - Morello kommt aus Cefalù auf Sizilien und will wieder zurück, aber er hatte korrupte Politiker verhaftet und ist nun vogelfrei, ein „freier Hund“ für die Cosa Nostra. Und weil die außerhalb Siziliens keine Amtspersonen ermordet, hat Morellos Chef ihn nach Venedig zwangsversetzt. Da sitzt er nun und hasst die Stadt, außerdem hat er als Sizilianer bei seiner Polizei dort einen schweren Stand. Dann wird der Anführer einer Bürgerinitiative gegen die Kreuzfahrtschiffe ermordet. Der war jung, schön, und stammt aus einer reichen und mächtigen Familie. Mehrere Menschen haben ein Motiv: Eifersucht, Geld, Zorn. Morello ermittelt und muss lernen, dass in Venedig ganz eigene Regeln gelten... Aber er hat eine intelligente Kollegin und eine interessante Nachbarin. Jeder kennt die Fotos mit den riesenhaften Kreuzfahrtschiffen neben den wundervollen alten Bauten in Venedig. Gute Idee, darum einen Krimi zu schreiben! Morello ist eine sympathische Figut, man fühlt mit ihm, der ausgerechnet in Venedig arbeiten muss, welch ein Glück, dass es auch da guten Espresso gibt! Und interessante Frauen! Das Buch liest sich gut, ist spannend, und eine pfiffige Journalistin ist naturgemäß eine Figur, die mir sehr gefällt. Aber was machen eigentlich die beiden Männer in den dunklen Anzügen? Guter, sehr guter Krimi.

Kultur in Potsdam

Gerade hat das Museum Barberini geschlossen, erstmal bis zum 17. März 2020, hoffentlich kann man bald wieder hin, gerade läuft die Schau Monet. Orte, und die ist so wunderbar, dass man es eigentlich gar nicht in Worte fassen kann. Claude Monet (1840 bis 1926) malte viele Landschaften, und Orte waren für ihn von entscheidender Bedeutung: Die Landschaft war vorgegeben, aber das Licht änderte sich je nach Wetter, Jahreszeit und Tageszeit. Er suchte sich oft Landschaften oder vielmehr Topographien aus, die nur schwer umzusetzen waren. In über 100 Bildern, mit Schlüsselwerken aus allen Schaffensphasen, spürt die Ausstellung den Orten nach, die seine Malerei bestimmt haben. Einige kannte ich und war sehr berührt: Der Bahnhof St. Lazare in Paris, die Ufer der Seine... Noch bis zum 1. Juni 2020. Übrigens ist auch die Website hervorragend, und es gibt sogar eine App.


Februar 2020

Neue Krimis

Regina Nössler, die Putzhilfe. Dr. Franziska Oswald flüchtet aus dem Münsterland nach Berlin: Sie verlässt ihren Mann Johannes, ihr Haus, ihre Nachbarn und ihre Stelle an der Uni. Von nun an nennt sie sich Marie Weber, sie zieht in ein Wohnklo und bekommt eine Stelle als Putzhilfe bei Frau Mangold. Aber sie hat etwas zu verbergen, Frau Mangold hat etwas zu verbergen, und dann langweilt sich die junge Sina und fängt an, Franziska zu verfolgen. Richtig spannend! Mit Wendungen, mit denen ich nicht gerechnet hätte, und es gibt viele! Die Autorin beherrscht ihr Handwerk, und nebenbei ist es zwar leichte, aber keine seichte Unterhaltung, und es ist auch noch gut geschrieben. Toller Krimi!

Marc Elsberg, Gier. Im Epilog wird geerntet, und die Erträge der Bauern sind unterschiedlich reich. Warum? Viele Jahrzehnte später: Zu wenige Menschen besitzen zu viel, die Welt ist ungerecht, eine Finanzkrise wie 2008 droht. In Berlin wird ein Gipfel veranstaltet, bei dem die Reichen und Mächtigen eine Lösung finden wollen, und um den herum Protestierer aller Seiten Chaos organisieren. Elsberg lässt den Leser in dieses Szenario eintauchen. Er verfolgt mehrere Parteien: Die Freundin oder eher Geliebte eines der Reichen und Mächtigen, ein Killerkommando, eine Polizistin. Und vor allem den jungen Krankenpfleger Jan, der zufällig Zeuge eines Unfalls wird, bei dem ein Nobelpreisträger und sein Assistent sterben. Jan aber sieht, dass es Mord ist und kein Unfall. Die Ermordeten hatten bei dem Gipfel sprechen wollen. Worüber? Jan tut sich mit dem Freund  des Toten zusammen, einem Mathematiker und Spieler. Von da an werden beide verfolgt. Spannend, lehrreich, manchmal auch ein bisschen belehrend und moralisierend. In deutschen Krimis gibt es oft Erklärdialoge, hier auch, ist nicht so mein Fall. Aber da es um Mathe, Wirtschaft und Politik und Gesellschaft handelt und eine Theorie im Zentrum steht, ist es wohl unvermeidbar. Bei den Schaubildern hätte er nicht jede einzelne Ähre aufzeichnen, sondern lieber die jeweilige Anzahl hinschreiben sollen. Wäre einfacher gewesen. Trotzdem: Der Autor ist sehr einfallsreich: um eine These herum einen spannenden Krimi zu schreiben - darauf muss man erst mal kommen. Ebenso darauf, wie die Protestierenden Drohnen nutzen.


Januar 2020

Bug auf der Website?

Für das seltsame Design der ersten Seite meiner Homepage mit den drei viel zu großen Fotos untereinander bitte ich um Entschuldigung - laut Strato könnte es ein Bug sein. Ich hoffe, er wird bald gefixt.


Neue Krimis

Thomas Ziebula, Der rote Judas. Leipzig, Januar 1920. Paul Steiner kehrt aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück: Er hat ein Trauma, seine Frau hat einen Anderen. Aber er wird wieder in der Polizeidienst zurückberufen und als Kriminalinspektor mit einer Reihe sehr hässlicher Morde konfrontiert. Nach und nach kommt er einer unheimlichen „Operation Judas“ auf die Spur und gerät selbst in Gefahr. Spannender Krimi, interessante Themen: Kriegstraumata, Arbeitslosigkeit und Armut nach dem Ersten Weltkrieg, und die Fronten zwischen SPD, Kommunisten und Konservativen. Der Autor versetzt den Leser in die damalige Zeit, mit Worten wie Kraftdroschke oder Fedora-Hut (endlich dürfen auch Männer sich über ihre Kleidung Gedanken machen) und mit dem Aufkommen von Spurensicherung, Büroklammern und der Untersuchung von Blutgruppen. Polizeiarbeit, Geschichte und Politik spannend und klug gemischt: Sehr gut!

Michael Lüders, Die Spur der Schakale. Oslo, im Winter. Hauke Ingstad liegt tot im Garten von Berit Berglund. Er war stellvertretender CEO eines norwegischen Finanzdienstleisters, sie ist Chefin einer kleinen Geheimdiensteinheit. Und sie ist Mentorin von Sophie Schelling, einer deutschen Investigativ-Journalistin, die vor der NSA nach Oslo geflohen ist. Weitere Morde geschehen, und Berglund, Schelling und Kollege Harald Nansen (Geheimpolizist pakistanischer Herkunft) versuchen herauszufinden, was dahinter steckt: Scheinbar will jemand an die Daten und das Vermögen Norwegens. Dies ist Lüders´ zweiter Krimi um Sophie Schelling. Die Handlung des Thrillers ist nicht einfach gestrickt, mit fast 400 Seiten ist er auch nicht gerade dünn. Aber die Fronten sind von Anfang an recht klar: Eine Schattenbank ist, so einer von Lüders´ Helden, ein Finanzdienstleister, der gewaltige Geldmengen bewegt, aber juristisch gesehen keine Bank ist und nicht der Bankenaufsicht unterliegt. Lunds Tod (S. 274 ff.) erinnert schwer an den von Uwe Barschel, bis hin zum Namen des Hotels, „Beau-Rivage“; die Schattenbank BlackHawk an BlackRock, und Elendilmir an Facebook. Das alles ist mir etwas zu einfach. Trotzdem solide Unterhaltung: Mittel bis gut.


Kultur in Potsdam

Bis zum 2. Februar dauer(te)n zwei besondere Ausstellungen im Museum Barberini in Potsdam. Van Gogh. Stillleben. Der Künstler selbst sah Stillleben als Experimente und Wegweiser. Er hat über 170 von ihnen gemalt, Holzschuhe, Birnen, und natürlich die berühmten Sonnenblumen. Davon gleich eine ganze Serie aus sieben Bildern, "Ikonen der Kunstgeschichte", eines in Privatbesitz, eines - das schönste, mit dunkelblauem Hintergrund - im Krieg verbrannt, und die übrigen fünf sicherlich nie alle auf einmal in einem Museum zu sehen, in Potsdam hängen immerhin all ihre Fotos und ein kurzer Text: Die funf Museen haben sich "zu einer virtuellen Ausstellung zusammengschlossen und präsentieren die Gemälde seit 2017 unter #SunflowersLive und so kann man sie dank Internet sogar von zu Hause aus bewundern, wenn auch nur virtuell. Chefkurator Michael Philipp hat diese Ausstellung mit 27 Gemälden verantwortet. Sie repräsentieren van Goghs gesamtes Werk des Künstlers "von den in dunklen Erdtönen gehaltenen Studien des Frühwerks der Jahre 1881 bis 1885 bis zu den in leuchtenden Farben gemalten Obst- und Blumenstillleben, die in den letzten Lebensjahren in Arles, Saint-Rémy und Auvers entstanden sind." Die Ausstellung gruppiert die Bilder chronologisch nach Wohnorten des Künstlers, je mit einem Einführungstext im ersten Raum und dann einem bei den dort entstandenen Bildern. Ich mochte die blühenden Kastanienzweige besonders gern, das größte seiner späteren Stillleben und besonders expressiv, entstanden Ende Mai 1890 in Auvers.

Die andere Ausstellung zeigt Künstler aus der DDR, Werke aus der Sammlung des Museum Barberini - ein Schwerpunkt der Sammlung. In dieser Ausstellung kann man wichtige Themen der Kunst in der DDR und nach 1989/90 neu entdecken. Der Staat wollte die Kunst ideologisch beeinflussen, Künstler wollten autonom sein. Landschaften waren wohl harmlos ... Man konnte viel damit assoziieren und darstellen, und man konnte mit Form und Farbe experimentieren. Mir gefiel besonders von Wolfgang Mattheuer, Spätes Licht II, ein etwas trauriger Blick aus dem Fenster einer braunen Wohnung... Aaber drinnen scheinen Lichter durch den Vorhang, auf dem Tisch steht eine Vase mit Blumen und draußen scheint das Licht hinter den Bäumen durch. Also doch nicht so traurig. - Passt zum Buch, das ich gerade lese: Die Gewitterschwimmerin von Franziska Hauser, toll!

Am 22. Februar beginnt im Barberini die Ausstellung Monet, Orte.


Kultur in Tübingen

Noch bis zum 15. März zeigt die Kunsthalle Tübingen Tanz! Max Pechstein. Bühne, Parkett, Manege. Pechstein war ein leidenschaftlicher Tänzer und am Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte der Tanz eine überraschende Blüte, und inspirierte Kunst und Kultur, auch immer wieder Pechstein.  Die Kunsthalle zeigt in Kooperation mit den Kunstsammlungen Zwickau rund 70 Arbeiten in Form einer chronologisch-thematischen Präsentation, dazu auch Tanzdarstellungen anderer Expressionisten sowie kulturhistorische Exponaten wie Fotografien, Filme und historische Kostüme. Die Bilder waren schön und interessant, aber richtig toll waren vor allem die Texte - der Katalog lohnt sich zu kaufen!


Kunst in Esslingen

Hey, das hatten wir auch, als ich klein war! Der Kunstverein Esslingen hat mit Hans Erich Slany – Das Werk in der Villa Merkel eine großartige, sehr interessante Werkschau des Industriedesigners Hans Erich Slany gezeigt. Slany war ein sehr wichtiger Produktgestalter, sicher jeder hat etwas von ihm: Den Teppichroller, die Kaffeemühle, den Locher... Die Schau ist sehr interessant, viel zu sehen, viele Erinnerungen werden wach... Und Slany schien sehr menschenfreundlich, seine Produkte sollten angenehm im Umgang sein.


Dezember 2019

Neue Krimis

Jessica Barry, Freefall. Allison überlebt einen Flugzeugabsturz in den Rocky Mountains. Sie schlägt sich durch die Wildnis. Aber sie wird verfolgt und der Verfolger holt auf. Zwischen diesen Szenen werden Erinnerungen erzählt, sie denkt zurück, nach und nach versteht man, wie sie in diese Situation gekommen ist. Gleichzeitig glaubt ihre Mutter Margaret nicht, dass Allison tot ist und forscht nach - und gerät selbst in Gefahr. Die Widmung für die Mutter der Autorin passt zu dem Schluss des Krimis… Sehr spannend, liest sich sehr gut, überraschende Wendungen: Wie ein Thriller sein sollte.

Thomas Meyer, Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin. Motti Wolkenbruch, orthodoxer Jude und nach einer Affäre mit einer Schickse von der Familie verstoßen, wird von einer Gruppe Juden aufgenommen. Sie verfolgen die jüdische Weltverschwörung, sind aber ein hoffnungsloser Haufen desorganisierter Loser. Bis Motti kommt und Chef wird. So wünscht man sich die jüdische Weltverschwörung! Herrlich lustiger Krimi fast ohne Tote, nur manchmal etwas nervig, wenn der Autor mit dem Holzhammer politische Korrektheit predigt. Trotzdem sehr lustig.

Eva Rossmann, Heißzeit 51. Hochwasser, Klimawandel. Eine Umweltaktivistin hält auf dem Markusplatz in Venedig ein Schild hoch, das Bild läuft viral, aber die junge Frau ist am nächsten Tag tot. Die Wiener Journalistin Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krajner wollen den Mord aufklären. Es soll viele Mira Valensky-Fans geben; mir liegt zumindest dieses Buch gar nicht, ich fand es schulmeisterlich, allein die lehrreichen Dialoge, in denen der Klimaawandel erklärt wird... Mir fehlt auch Handlung. Ich habe es nur bis Seite137 geschafft.

Marion Schmid, Ausgekocht. Paula Dahme ist von Australien nach Berlin zurückgekehrt, dort lebt sie in einem Altbau in der Weichselstraße und hat einen Zeitungskiosk gepachtet. Ihre Hausgemeinschaft ist so skurril, wie ihre Kunden es sind. ber dann stürzt erst eine blonde Spanierin aus dem Fenster, und dann verschwindet eine taubstumme Polin, und der Polizist scheint Paula zu verdächtigen. "Die Hofgemeinschaft hatte sich zum Kreis geschlossen, Jolande schluchzte, die Witwe sang, und der Kater war tot." (S. 22) In diesem Buch wird viel gestorben, manch Tier und Mensch scheidet dahin, und die Ich-Erzählerin ist mitten drin und wundert sich. Ein skurriles Buch, das in Berlin-Neukölln spielt und trotz einer gewissen Spröde gut lesbar ist. Die Entwicklungen sind anfangs ziemlich rätselhaft, werden dann aber um so lustiger und makaberer.

Kai Bliesener, Das Brandt-Attentat. Deutschland 1969 und 2019, immer abwechselnd erzählt. Im Jahr 1969 soll ein Attentat auf Willy Brandt verübt werden. Es wird vertuscht. Im Jahr 2019 werden einer jungen Journalistin in Stuttgart anonym Hinweise zu diesem Attentat zugespielt. Menschen geraten in Gefahr. Ich habe nur bis Seite 104 gelesen. Dabei hätte mich eine Geschichte um eine Stuttgarter Journalistin natürlich brennend interessiert. sme ist eine Art Selbstverlag, man merkt deutlich das fehlende Lektorat ("Bleistifte kreisten wartend über dem Papier" S. 12, "Mariannengraben" mit Doppel-n S. 28 etc.) Und der lehrerhafte Ton gegen rechts nervt auch ("Für Emma Berg war es nicht nachvollziehbar, wie Menschen trotz der Vergangenheit des Landes, mit Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Hass auf Minderheiten, diesem Sumpf Nährboden bieten konnten." S. 32) Das weiß ich, das brauche ich nicht dauernd zu lesen. Und die Kommata sind auch falsch. Wer mal ein richtig gutes (Sach-) Buch über ein Attentat über einen Politiker lesen will, lese von Henning Sietz, Attentat auf Adenauer.

Bernhard Aichner, Der Fund. Rita, Verkäuferin in einem Supermarkt, findet etwas in einem Bananenkarton und nimmt es mit nach Hause. Und es gibt Tote. Alles ist rätselhaft. Aber ein Polizist gibt nicht auf. Ach, wie ist mir die Diebin ans Herz gewachsen. Bei aller Blödheit - die man zunächst vermutet. Aber dann passiert ein verrücktes Ereignis nach dem anderen, eine Wendung nach der anderen überrascht den Leser. Sehr spannend, traurig und noch mehr lustig, und dann auch noch sehr gut geschrieben. Toller Krimi!


Kultur in Berlin

Zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls und der friedlichen Revolutio läuft im Bröhan-Museum noch bis zum 19. April 2020 die Ausstellung Stefan Moses – Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989-1990. Moses, Fotograf aus München fotografierte während der Umbruchphase von 1989/90 Menschen aus der DDR. Manche sehen froh aus., andere müde, die Fotos sind gestellt und gleichzeitig wirken sie wahrhaftig. Sehr spannend, die Fotos ebenso wie die Texte dazu. s um eine konfliktreiche Zukunft stellen sie Sympathie, Identifikation und Menschlichkeit in den Mittelpunkt.

In der Sammlung Scharf-Gerstenberg entdecke ich bei jedem Besuch etwas Neues, ein Bild, oft gesehen aber nie wirklich betrachtet, eine Plastik ... man kann gar nicht oft genug rein!

Das Museum Berggruen ist immer wieder schön, interessant, inspirierend... Bis zum 1. März 2020 läuft noch Pablo Picasso x Thomas Scheibitz. Scheibitz wurde 1968 in Radeberg bei Dresden geboren und betrachtet den Kubismus als besonders radikal und prägend für die Kunst. In dieser Ausstellung werden je ungefähr 45 Werke von Picasso und Scheibitz einander gegenübergestellt. Die Motive sind unterschiedlich, aber die künstlerische Haltung ist ähnlich, man sieht formale und inhaltliche Parallelen.


Das Programm der Stuttgarter Kriminächte - März 2020 - ist online!


November 2019

Neue Krimis

Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers. Madeleine Péricourt sieht sich plötzlich an der Spitze des Bankhauses Péricourt, als ihr Vater im Jahr 1927 stirbt. Sie war mädchenhaft erzogen worden und versteht nichts von Geld; ihr Ex-Mann sitzt im Gefängnis, und ihr kleiner Sohn springt aus dem Fenster. Sie hilft drei Männern: Ihrem Liebhaber André Delcourt, ihrem Onkel Charles Péricourt und dem Prokuristen Gustave Joubert. Aber das geht schief. Oder? Madeleine Péricourt wird ausgenutzt - aber wie lange? Sie führt einen äußerst fein ausgesponnen Rachefeldzug, und ob er funktioniert, wird äußerst spannend. Toller Roman.

Benedikt Gollhardt, Westwall. Julia ist Polizeischülerin und hadert ein bisschen mit ihrem Vater Wolfgang, Alt-Hippie, Kiffer und krank. Plötzlich passieren ihr lauter seltsame Dinge: Sie lernt Nick kennen - und entdeckt nach der ersten gemeinsamen Nacht, dass er ein riesiges Hakenkreuz-Tattoo auf dem Rücken hat. Und auch gar nicht Nick heißt. Ein Debut: Die Sprache ist noch verbesserungsfähig: Viele Adjektive, die sich oft wiederholen (der Wald ist schwarz 41, 43), die Menschen schwitzen viel, etwas zu viel für meinen Geschmack. Aber den Westwall als Grundlage für einen Thriller zu machen, ist eine tolle Idee. Mir gefallen auch, dass die Menschen differenziert sein dürfen. Und kleine Terrorzellen sind leider ein sehr aktuelles Thema. Sehr spannend, oft überraschend. Sehr guter Thriller.

R. R. Sul, Das Erbe. Wolf schreibt sein Leben für seinen Enkel auf. Als er sieben Jahre alt, war, gab seine Mutter ihm einen Helm, der ihn vor der Sonne schützen sollte, weil er die Mondscheinkrankheit habe. Der Junge vereinsamt. Ein Arzt deckt die Lüge der Mutter auf. Der Junge bleibt einsam, aber mit der Zeit wird sein Leben normaler. Er heiratet und wird Vater. Aber dann taucht ein Halbbruder wieder auf. Literatur, sehr gut geschrieben. Traurig und böse, und ich hätte den Erzähler manchmal am liebsten verprügelt, weil er so verdammt gutherzig ist. Oder naiv. Sehr guter Roman.

Gerd Zahner, Keiner verliert allein. Der zweite Krimi um Mordkommissions-Mitglied Goster nach dem verfilmten "Goster": In Berlin zirkulieren Drogen, vor allem Methamphetamin. Das kennt man heute in kristallisierter Form als Chrystal Meth, im Zweiten Weltkrieg bekam es die Soldaten der Wehrmacht als Pervitin. Goster atmet bei einem Feuer versehentlich eine Dosis ein, stößt so auf die Droge, die mit ihren Konsumenten die Stadt zu verseuchen scheint, und fädelt ganz allmählich einen Fall auf, der viel komplizierter ist, als er anfangs scheint. Spannender Krimi, traurig, aber auch etwas maniriert, eine Kollegin zB. heißt immer "H.". Gut geschrieben, aber das Lektorat hätte noch etwas sorgfältiger sein müssen, "wseiter" statt "weiter" (S. 92) und ""Alles über Bitcoin. Damit zahlen die Kunden. Geld haben wir nie gesehen."" (S. 99) - nach der Dialog-Logik müsste es Goster sagen, aber der Satz stammt vom Vernommenen. Der Autor ist Jurist und beschreibt darum (?) den Gerichts-Alltag (meine Erachtens, und ich war fünf Jahre Schöffe in Berlin) sehr treffend, lakonisch und pessimistisch. Guter Krimi.

Thomas Kiehl, Die Ameisenfrau. Lena Bondroit ist Ameisenforscherin. Ein Journalist spricht sie an - und wird vor ihren Augen ermordet. Sie recherchiert die Hintergründe und gerät dabei zwischen zwei Männer. Eine Organisation versucht, die Bevölkerung dahingehend zu manipulieren, dass sie Angst bekommt. Lena steht im Visier, denn die Mechanismen dieser Manipulation werden dann verständlich, wenn man sie mit dem Sozialleben von Ameisen vergleicht. Und genau dazu ist sie als einer von ganz wenigen Menschen in der Lage. Auch Kiehl ist Jurist. Spannend, gut geschrieben, aber die Idee mit der Angst und den Ameisen hätte er noch stringenter durchführen sollen. Lena ist den Männern gegenüber zu schwatzhaft, das nervt manchmal. Kleine Ungenauigkeiten: Wer an einer Uni arbeitet, der arbeitet m. E. für eine Behörde, oder? (Anders: S. 108). Und in der Fischer-Ballade von Goethe heißt es "Halb zog sie ihn, halb sank er hin." Bei Kiehl steht "nahm" statt "zog" (und die Geschlechter sind vertauscht, aber letzteres ist egal.) (S. 345.)  Guter Krimi.

Florian Harms, Versuchung. Detektiv Calanda, gebürtiger Schweizer und Wahl-Hamburger, wird von einem Schweizer Lebensmittelkonzert beauftragt, einen gewissen Bernhard Lieblig zu finden. Der war mit dem Flugzeug abgestürzt, scheint aber überlebt zu haben. Gleichzeitig macht August Lieblig sich auf die Suche nach seinem Vater - und stürzt auch mit dem Flugzeug ab. Nach und nach entspinnt sich eine Geschichte, die in die Kriegszeit zurückreicht, und ebenso von EU-Gesetzgebung wie von Mysterien des Orients gesteuert wird. Ich kenne einige Leute, die  es nur nervt, wenn in einem Krimi andere Theman eine Rolle spielen, aber ich mag das, die Erklärungen zum Thema Aroma gefallen mir. Ein paar Tipps muss ich mir merken (Welche Musik passt zu welchem Wein? S. 232) und ich habe mir vorgenommen, Gerichte aus dem Buch nachzukochen, deren Rezepte Florian Harms auf seine Website gestellt hat. Das ist vielleicht eine gewisse Hommage an "Es muss nicht immer Kaviar sein" von - Achtung! - Johannes Mario Simmel. Aber gerade dieser Autor von Trivialliteratur macht mich Harms kritisieren: Simmels Held ist überzeugter Pazifist und zieht das viel besser durch, als der etwas farblose Calanda seine moralischen Überlegungen. Trotzdem ein Lob: sehr spannend. Sehr gutes Buch.


Kultur in Berlin

Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus“ im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart. Die Ausstellung habe ich leider auf den letzten Drücker besucht (und dann auch noch verspätet in den Blog gepackt) - sie war einfach großartig. Was ist Noldes Kunst wert, wenn er malte, um ausgereechnet den Nationalsozialisten zu gefallen, und wenn er das, was er wollte, zu malen unterließ? Auf der Website des Museums steht: "Der Expressionist Emil Nolde (1867–1956) ist der wohl berühmteste „entartete Künstler”: von keinem anderen Maler wurden während des Nationalsozialismus so viele Arbeiten beschlagnahmt und derartig prominent in der Propagandaausstellung ‚Entartete Kunst’ zur Schau gestellt.

Wie passen Noldes Verfemung und sein Berufsverbot zu unserem Wissen, dass Nolde NS-Parteimitglied war und bis zum Kriegsende den Glauben an das nationalsozialistische Regime nicht verlor? Der Kunstkritiker Adolf Behne bezeichnete Nolde anlässlich seines 80. Geburtstags 1947 pointiert als „entarteter ‚Entarteter‘“. Dass Emil Nolde ein Parteimitglied war, ist seit langem bekannt. Aber was dies mit seiner Kunst zu tun hat, und wie sich die historischen Umstände des Nationalsozialismus auf sein Kunstschaffen ausgewirkt haben, ist bisher noch nie umfassend in einer Ausstellung untersucht worden." - Diese Fragestellung, diese Umstände haben mich persönlich berührt, denn mein Großvater Friedrich Heitmüller, Prediger, Evangelist und Direktor des Krankenhaus Elim, war überzeugter Nationalsozialist, Politischer Direktor, beantragte die Mitgliedschaft in der NSDAP, aber als er aus der Landeskirche austrat und eine Freikirche gründete, kam er auf eine Schwarze Liste und war ab da verfemt, erhielt Redeverbote und sollte angeblich ins KZ. Im Nachhinein stilisierte er sich als Gegner und Verfolgter, was so eben nicht der Wahrheit entspricht.


Oktober 2019

Neue Krimis

Olaf Kühl, Letztes Spiel Berlin. Der Reiseleiter Konrad Mauser ist verschwunden, sein bester Freund Pawel sucht ihn, bald unterstützt von der 17-jährigen Jana. Die CIA hat ihre Hände im Spiel und ist innerlich gespalten. Ein Haufen Loser trottet durch Berlin und sucht die Wahrheit, einige um sie aufzudecken, andere um sie zu verschleiern. Nein, eigentlich bleiben die Verschleierer der Wahrheit sitzen und arbeiten im Hintegrund. - Das Buch ist nicht schlecht, aber etwas wirr, und man muss Loser-Typen mögen oder wenigstens ihnen gegenüber Geduld aufbringen. Ich fand das Buch etwas zäh und nervig, zum Beispiel die häufigen Perspektivenwechsel, und brach es erstmal ab, aber immerhin fand ich es interessant genug, um noch einmal anzufangen - und dann las ich es auch zu Ende. Mittel bis gut.

Rafik Schami, Die geheime Mission des Kardinals. Damaskus, 2010. Noch ist Friede in Syrien. Aber die italienische Botschaft bekommt eine Lieferung: Ein Fass Olivenöl, darin die Leiche eines Kardinals. Kommissar Barudi, einsam und kurz vor der Pensionierung, soll den Fall aufklären, und sein Kollege Mancini aus Rom wird ihm zur Seite gestellt. Die beiden werden Freunde und geraten bei der Recherche in Gefahr. Eigentlich kein richtiger Krimi, sondern eher ein Gesellschaftsroman, verkleidet als Krimi. Schami beschreibt die Arbeit der Polizei, die im ständigen Kleinkrieg mit dem Geheimdienst scheint. Man fängt an, Syrien zu lieben, man gerät ob der Vetternwirtschaft in Verzweiflung, man freut sich über die Tricks der Anständigen. Schami beschreibt Land und Leute manchmal ein bisschen umständlich, aber so warmherzig, dass man das Buch gar nicht mehr zur Seite legen mag, es fesselt durch seine Menschlichkeit. Sehr gutes Buch.

Harry Bingham, Fiona: Das tiefste Grab. Ermittlerin Fiona langweilt sich - ewig keine neue Leiche. Aber dann: Eine Archäologin, enthauptet und drei Speere in der Brust. Und das ist nur der Anfang einer Reihe seltsamer Morde, die alle auf irgendeine Art und Weise auf König Artus weisen. Damit nicht genug: Schließlich wird auch noch sein Schwert Excalibur im Darknet angeboten. Liest sich spannend; und die Besonderheit der Reihe um Fiona, nämlich die Einbettung in Sagen, Legenden oder auch tatsächliche historische Hintergründe, das macht Spaß. Guter Krimi.

Edward Snowden: Permanent Record. Eigentlich, nein: definitiv kein Krimi, sondern eine Autobiographie ooder ein Memoir, aber wahnsinnig spannend. Snowden beschreibt, wie er Computerspezialist und als solcher Geheimnisträger bei NSA und CIA wurde. Er fand heraus, dass die US-Regierung plante, alle digitale Korrespondenz zu verfolgen und zu speichern. Schließlich deckt er das auf und musste fliehen. Beeindruckender Report. Tolles Buch.


Kultur in Berlin

Sowieso immer wieder großartig: Die Alte Nationalgalerie in Berlin. Gerade besonders toll: Die aktuelle Ausstellung "Kampf um Sichtbarkeit: Künstlerinnen der Nationalgalerie vor 1919". Vor genau 100 Jahren konnten die ersten Frauen ihr reguläres Kunststudium an der Berliner Kunstakademie aufnehmen. Das ist derAnlass für diese Ausstellung. Sie zeigt 83 Werke von 33 Malerinnen und 10 Bildhauerinnen, die es in die Sammlung der Nationalgalerie geschafft haben. Alle sehenswert! Und die Begleittexte sind lesenswert. Die Frauen fanden ganz unterschiedliche Wege zur Anerkennung. So gelang es Vilma Parlaghy, Kaiser Wilhelm II als Förderer zu gewinnen. Dorothea Therbusch wiederum wurde an der Pariser Académie Royale zunächst abgelehnt: Ihr eingereichtes Bild sei so gut, es könne nicht von einer Frau stammen. Sie schaffte es dennoch nach Paris - ebenso wie an die Akademie der bildenden Künste in Wien, wo sie als erste Frau überhaupt ihr Studium aufnahm. Hut ab!



August / September 2019

Neue Krimis

Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde, ist der erste Fall der Kunstdetektei von Schleewitz: Das berühmte Gemälde "Der Turm der Blauen Pferde" von Franz Marc war erst von den Nazis als entartete Kunst bezeichnet worden, dann hat Josef Göbbels es an sich gebracht. Seit Kriegsende gilt es als verschollen, allerdings soll es noch zweimal in Berlin gesehen worden sein. Die Kunstdetektei von Schleewitz soll für Egon Schwarzer die Provenienz genau dieses Gemäldes herausfinden, er hat es nämlich zum Schnäppchenpreis von drei Millionen Euro gekauft. Spannender Kunstkrimi, der immer zwischen dem heute (2017) und der Vergangenheit(1945 und später) wechselt. So hätte es gewesen sein können, zwar sehr unwahrscheinlich, aber wen stört das? Gut geschrieben, die Empfindungen des Räubers gegenüber dem Gemälde vielleicht nicht ganz nachvollziehbar, aber doch sehr gut. Ich bin gespannt auf die nächsten Fälle dieser Kunstdetektei. Guter Krimi.
Andreas Pflüger, Geblendet, bildet den Abschluss der Trilogie um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron. Sie ist in medizinischer Behandlung, um wieder sehen zu lernen - anstrengender, als man sich das vorstellen kann. Sie hat eine Gegnerin, die ihr sehr ähnlich ist und ihr ebenbürtig scheint. Ihre "Abteilung", eine Spezialeinheit der Polizei, die nicht dem BKA, sondern der Innenministerkonferenz unterstellt ist, hat einen schrecklichen Feind. Ich mag Pflügers Umgang mit Sprache, die Aufzählungen und die Wiederholungen, und auch die seltsame Kombination aus Realität und Phantasie/Karate-Philosophie. Dies Buch ist etwas weniger waffenträchtig als die beiden ersten, fand ich auch nicht schlecht... Nicht schlüssig: Der Psychologe sagt, ihr Vater habe in Jenny Aaron den Sohn gesehen, den er nicht hatte. Kann man schnell durchlesen, aber es lohnt sich, genauer hinzugucken. Sehr gut gefällt mir zum Beispiel, dass so ein Lara-Croft-Typ eine komplizierte Psyche haben "darf". Sehr guter Krimi.
Karsten Dusse, Achtsam morden. Ein entschleunigter Kriminalroman. Der Erzähler ist Rechtsanwalt in einer großen Kanzlei und wird von seiner Frau, für die er keine Zeit mehr hat, in ein Achtsamkeitsseminar geschickt. Das wirkt sich geradezu revolutionär auf seine Arbeit aus, er hat Zeit und Ruhe, allerdings passieren plötzlich lauter Morde. Herrliche Satire, lustige Morde, ideal für alle, deren Freunde seit ihrem Achtsamkeitsseminar davon schwärmen, wie toll ihr Leben seitdem ist, und nur noch nerven. Dazu eine im Absurden schlüssige Handlung. Nur am Schluss sacken Spannung und Anspruch ein wenig ab, die letzten Morde sind etwas zu viele und zu grausam. Als hätte der Autor etwas geschludert, weil er einerseits keine allzu einfache Lösung wollte (etwa, dass der Anwalt das Syndikat auch de nomine übernimmt), andererseits mit der ein bisschen offenen Lösung nicht ganz zufrieden ist. Aber das ist Spekulation. Trotzdem: Ich hab das Buch mit größtem Vergnügen gelesen und sage nicht nur "sehr gut" sondern "toll", weil es so ungewöhnlich ist.
Selim Özdogan, Der die Träume hört. Nizar Benali ist Privatermittler für Cyberverbrechen. Nun soll er einen Darknet-Dealer finden, an dessen Stoff ein Teenager gestorben ist. Im Laufe der Recherche wird er mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert: Er kommt aus "Westmarkt", einer Art Ghetto für "Schwarzköpfe" (Türken, Araber...), und hat einen gewissen sozialen Aufstieg geschafft. Aber das ist auch ein Ausstieg, und nicht einfach zu bewerten. Sehr spannender Krimi über eine Internet-Ermittlung. Sehr souverän: "Er ist nicht der Klügste. Wie Sami, aber das ist mir egal." (S. 213, ähnlich S. 167.) Meist sind die eigenen Leute Helden, aber dieser Autor erzählt differenziert. Man bangt und fühlt mit, wird wütend, und dabei ist es einfach spannend. Nebenher erfährt man einiges über Türken in Deutschland, ohne erhobenen Zeigefinger. Blöd, an sowas zu denken, ist aber einfach so. Sehr guter Krimi.
Dirk Brauns, Die Unscheinbaren. Die Eltern von Martin Schmidt, 18, werden in der DDR als BND-Spione verraten und enttarnt und müssen ins Gefängnis. Jahre später kommt seine Mutter frei und geht in den Westen, Martin folgt ihr und lässt seine Freundin zurück. Heute ist seine Mutter im Altenheim und Martin Tierarzt in Bayern. Wissenschaftler wollen ihn zum Spionagefall interviewen und Martin geht den alten Spuren nach. Was geschah damals wirklich? Wenn die Eltern Spione sind, beeinflusst das die Kinder - nicht erst bei der Aufdeckung. Was haben Geheimnisse für eine Macht über eine Familie? Man geht mit Martin die alten Wege nach, und erkennt, wer alles von Spionage und Verrat profitiert hat. Man beginnt, seine lieblose Mutter zu verabscheuen und über die Rolle Martins nachzudenken. Trauriges Buch über die Folgen von Spionagetätigkeit für die Familien der Spione. Aber auch ein bisschen lahm - ich bin mit Martins Figur nicht so richtig warm geworden, was vielleicht Absicht des Autors war, aber ich verstehe sein Handeln oft nicht. - Die Grafik auf der vorderen Umschlagseite sollte man erst am Schluss angucken. Guter Krimi.


Juli 2019

Kultur in Hamburg

Bewohnerfreundliche Städte, gegenseitige Hilfe: Viele Menschen, laut Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg sogar "immer mehr Menschen engagieren sich weltweit privat und beruflich, weil sie etwas verändern wollen." Das Museum macht dazu gerade eine Ausstellung: Social Design präsentiert 25 ausländische (auf dem Flyer steht "internationale", aber ich will dem Wort "ausländisch" den negativen Klang nehmen) Positionen und eine Reihe Projekte aus Hamburg. Mein Lieblingsprojekt: Vagabunt Hamburg, das Social Fashion mit Straßenkindern, minderjährigen Geflüchteten und Mädchen mit Gewalterfahrung gestaltet. Die "Vagabunten" schreiben auf ihrer Homepage: "Social Fashion will die Strahlkraft von Mode nutzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Und wir sind nicht nur ein Social Fashion Projekt, sondern auch ein super slow fashion-Label: Ein Jahr - eine Kollektion!" Große Klasse: Das Traditionshaus Ladage & Oelke, das auch schon mal eine Anzeige bei Hinz&Kunzt geschaltet hatte, und das gerade vom Neuen Wall in die Großen Bleichen umgezogen ist, hat wunderbare Stoffe gespendet. Hey, das wird ein Traum von einer Kollektion!

Musik in Stuttgart - Wolfgang Dauner bei den jazzopen

Großartiges Konzert, hätte ich nie so erwartet... Hieß Three Generations, weil die Musiker zwischen 18 und 83 Jahre alt sind. Brillant und schön, und nicht mal die teils kitschigen Hintergrundbilder störten. Mein persönlicher musikalischer Höhepunkt für lange Zeit.

Sogar die Vorgruppe, das Lukas de Rungs Quintett, war wirklich gut. Die sahen alle so brav und bürgerlich aus und machten dann so tolle Musik ;-)

Kunst und Kultur in Ludwigshafen und Mannheim

Gewächse der Seele - Pflanzenfantasien zwischen Symbolismus und Outsider Art zeigt das Wilhelm Hack-Museum in Ludwigshafen bis Anfang August, und bis Anfang Juli Bild und Blick - Sehen in der Moderne. Bild und Blick hat mir besser gefallen. Die Pflanzen wirkten so, wie man sich einen LSD-Rausch vorstellt. Es geht um die "Bedeutung von Symbolismus und Surrealismus als Vorbedingung für die Entdeckung von mediumistischer Kunst und der ´Bildnerei der Geisteskranken`. Damit hinterfragt die Schau auch die feste Abgrenzung von etablierter Kunst und Outsider Art und unterstreicht die fließenden Übergänge der Kunstproduktionen unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen", naja. Ist mediumistische Kunst nicht eine Einbildung? Die Ausstellung wirkt so, als würden die Macher selbst an sowas glauben, das finde ich befremdlich. Kann man sowas überhaupt entdecken? Oder nicht vielmehr erfinden? Bild und Blick war dagegen vielfach streng und karg, bot für mich trotzdem mehr zu sehen und zu denken. "´Der Betrachter ist im Bild – diese Formulierung des Kunsthistorikers Wolfgang Kemp hebt hervor, dass der Künstler den Rezipienten in der Konzeption seines Werks mitdenkt und damit dessen Standpunkt in seine Überlegungen einbezieht." Ja. - Ist der Künstler eigentlich selbst Rezipient?

Das Zeughaus der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim zeigt Mannheim als glanzvolles Zentrum der europäischen Theater- und Musikkultur im 18. Jahrhundert. (Lebendiges Theater gibts da aber auch bis heute.) Steigt man im Zeughaus alle Treppen hoch, sieht man in der Ausstellung Vorhang auf! Theatergeschichte ein seltenes Bühnenmodell des Theaters aus der Zeit um 1800, eine Windmaschine aus dem Barock, mehrere Bühnenbildmodelle verschiedener Inszenierungen und Hörbeispiele aus berühmten Opern, gesungen von Sängerinnen und Sängern des Nationaltheaters.Aber das Bühnenmodell fand ich am tollsten.

Kunst in Berlin und Potsdam

Das KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst zeigt eine Ausstellung zu Jonathan Monk: Exhibit Model Four - plus invited guests. Monk ist Brite und lebt in Berlin. Er ist nicht nur Künstler, sondern er sammelt auch Kunst. In dieser Ausstellung zeigt er einige dieser Werke und stellt ihnen eigene Werke gegenüber, die eigenen aber auf riesigen Schwarzweiß-Fotos.

Das FLUXUS+ zeigt Wolf Vostell Contemporary Art. Naja, wirklich contemporary ist es nicht mehr, mit den Installationen, die vor ein paar Jahrzehnten noch schockiert haben. Ein Zitat von der Homepage des Museums: ""Die Attacke von Fluxus ist eine Attacke gegen die Beschränktheit des freien Ausdrucks, gegen die Beschränktheit des Kunstbegriffes, gegen die Beschränktheit der Sammler und Museumsdirektoren." Wolf Vostell, Covertext VGDL – „Garten der Lüste“, 1982" - Ach ja, die böse Kunstwirtschaft. Trotzdem aktuell: Auf dem Boden sind Pfeile und Zeichen, und Anweisungen: Der Besucher soll zum Beispiel an einem Ort stehen bleiben und irgendwas machen, Grimassen oder Geräusche. Macht Spaß. Ist das Selbstironie?

Im Atelier, welches heute das Kunsthaus Dahlem ist, sollte Arno Breker arbeiten. Hitler bewunderte Breker für seine Kunst und seine nationalistischen Ideen und wollte ihm ein Atelier zur Verfügung stellen. Das wurde nach Plänen von Hans Freeese zwischen 1939 und 1942 errichtet, aber Breker kam nur sporadisch hin, weil das Glasdach durch die Bomebenabwürfe bedroht war. Außerdem schenkte Hitler ihm 1949 das Schloss Jäckelsbruch in der Nähe von Wriezen, wo sich die "Arno Breker Bildhauerwerkstätten gGmbH" befanden. Heute widmet sich das Kunsthaus Dahlem der Kunst der deutschen Nachkriegsmoderne mit Schwerpunkt auf Skulpturen zwischen 1945 und 1961. - Ich würde aber auch gern was von Breker sehen, so schlimm es war. Der Schutz vor schlechtem Einfluss kann auch eine Bevormundung sein, und die Unterstellung, zu einem eigenständigen Urteil nicht fähig zu sein. (Kann, nicht muss, klar. Aber ich empfinde es so.)

Direkt neben dem Kunsthaus Dahlem befindet sich das Brücke Museum. Noch bis zum 11. August läuft hier die Ausstellung Flucht in die Bilder? Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus. Sie waren verfemt, aber die meisten hatten anfangs gehofft, dass die Nationalsozialisten ihre Kunst anerkennen würden, und malten weiter, nur Kirchner nicht, der brachte sich im Jahr 1938 um.


Juni 2019

Kunst in Berlin

Mantegna + Bellini in der Gemäldegalerie, ach toll. Die beidenwaren Freunde, Rivalen, Schwäger. Sie beeinflussten einander und entwickelten sich doch eigenständig weiter. Tolle Austellung, leider viel zu kurz.

Kunst in Dresden

Ein Mädchen steht am Fenster und liest einen Brief. Ihre Wangen sind leicht gerötet, sie ist versunken. Vor ihr das geöffnete Fenser und an der Wand - nichts. Oder ein Putto? Das berühmte Bild von Johannes Vermeer wird auf 1657/59 datiert, es hängt in Dresden. Immer mit einer hellen Wand als Hintergrund. Eine Röntgenaufnahme hatte schon in den 1970er Jahren gezeigt, dass ein Putto das lesende Mädchen betrachtet, aber er war eben übermalt worden. Man dachte, Vermeer selbst hätte ihn übermalt und ließ alles so. Nun aber beschloss man, das Gemälde zu restaurieren. Und entdeckte dabei, dass zwischen der Firniss über dem Putto und der Übermalung Dreck war, und zwar so viel Dreck, dass Jahrzehnte vergangen sein mussten, bevor der Putto übermalt wurde. Vermeer aber starb im Alter von 43 Jahren. Also muss irgend jemand anderes den Putto übermalt haben. Die Dresdner beschlossen, im Zuge der Restaurierung auch den Putto wieder freizulegen. Der Restaurator trägt ganz vorsichtig mit einem Skalpell die Farbe ab. Das ist so anstrengend, dass er nur einen bis zwei Quadratzentimeter am Tag schafft. Einen Monat lang konnte man das Gemälde bewundern, im "Zwischenzustand", mitten in der Restaurierung, mit einem tollen Erklärvideo dabei. Mitte 2020 soll es fertig restauriert sein und wieder ausgestellt werden.

Neue Krimis

Bei Paul Ingendaay, Königspark, (Vorsicht Spoiler) beginnt die Kampfsportlerin Nuria, als "Hüterin" im Madrider Königspark zu arbeiten, wo vor allem illegale Einwanderinnen zur Prostitution gezwungen werden. Die Hüter sind im Park das, was Wirtschafter im Bordell sind: Sie verteidigen die Frauen gegen gewalttätige Freier, halten sie aber auch zur Arbeit an. Der Zuhälter, für den Nuria arbeitet, beschäftigt, ohne von der Verwandtschaft zu wissen, auch Nurias ältere Schwester Isa, die zehn Jahre vorher von zu Hause abgehauen war und nun freiwillig als teure Escort arbeitet. Nuria wird immer kritischer. Schließlich lernt sie einen Journalisten kennen, dem die Frauen im Park leid tun. Sie befreit zwei Frauen, so dass er Zeuginnen hat, anhand derer er die Geschichte journalistisch erzählen kann, und der Zuhälter fliegt auf. Tolles Buch, es fragt nach Macht und Machtmissbrauch und nach der Verantwortung des Einzelnen in einem komplizierten System. Auf den ersten Blick lässt es viele Fragen offen, sie werden beantwortet mit der Entwicklung der Personen. So könnte man denken, der Zuhälter ist im Grunde seines Herzens ein Guter. Aber er arbeitet sich auf Kosten vergewaltigter Flüchtlinge hoch (Kalkulation Seite 255, Zwang S. 140, System S. 357, er ohrfeigt am Schluss Nurias Schwester, die bis dahin seine Vertraute gewesen war, S. 385). Und Nuria hilft den Frauen und steht ihnen nahe, aber sie hält sie auch zum Arbeiten an, nur eben ohne Drohung (S. 95); letztlich will sie das Böse bekämpfen (S. 347). Es gibt freiwillige Prostitution (ein Transvestit), möglich aber nur ohne Zuhälter; Zwangsprostitution wird von der Gesellschaft toleriert und ist ein schwärendes Übel. Ein anderes Thema ist gesellschaftliches Standesbewusstsein (der Zuhälter will oben ankommen, erkennt aber, dass es ihm nicht gelingt; Nuria liest Jane Eyre und schätzt bei dergesellschaftlich Unterlegenen deren innere Freiheit im Streitgespräch). Ein Buch, welches das Thema der Prostitution aus ungewöhnlichen Perspektiven behandelt, mit überraschenden Wendungen, und vor allem, was ich natürlich großartig finde, mit wirklich guten Einfühlungsvermögen in eine junge Kampfsportlerin.

Martin Suter lässt in Allmen und die Erotik Privatdetektiv Johann Friedrich von Allmen seinen 5. Fall lösen: Er ist mal wieder pleite, wird beim Diebstahl erwischt und erpresst: Er soll von einem fromm gewordenen ehemaligen Porzellanwarenhändler erotische Figuren stehlen, die dem peinlich sind, und deren Anblick er seiner 25-jährigen Enkelin nicht zumuten woill. Darum hat er sie versteckt, und Allmens Erpresser weiß, wo. Das Buch lebt von drei Figuren und der Spannung zwischen ihnen: von Allmen, Carlos, ehemaliger sans-papier und Schuhputzer, und dessen Freundin Maria. Carlos war früher Allmens Diener und ist inzwischen sein Teilhaber. Eine Geschichte um erotische Porzellanfiguren ist in Prinzip interessant. Aber auf mich wirkt das Buch abstoßend. Ich habe zwar geschafft, es bis zum Ende zu lesen, es ist auch handwerklich ok. Aber alles wird vom Verhältnis zwischen Allmens, Carlos und Maria überschattet. Allmen ist von übertriebener Nonchalance, Carlos ein treuer Anhänger und Marias praktisch-vernünftig. Das Ganze wirkt als Überhöhung des Adels, die konterkariert werden soll durch Suters Ironie ("Johann Friedrich von Allmen, der auf das ´von` gerne verzichtete, um diesem mehr Gewicht zu geben, befand sich auf einer Durststrecke.", Marias Lebensklugheit, Carlos´ Freigiebigkeit und Allmens Schussligkeit und Großzügigkeit (S. 36). Aber das funktioniert nicht, weil erstens Allmen zu snobistisch ist (Teesorten, Whiskysorten, Anzugstoffe S. 212) zweitens der Diener eher Kadavergehorsam als Treue zeigt (macht bei einem Diebstahl mit, tut so, als sei er souverän, ist es aber nicht, S. 43) und eben doch unterwürfig ist (Carlos gibt Allmen 3000 Franken, damit er ausgehen kann, "Für Sie, Don John." Allmen antwortet "Nein, es gehört mir nicht.", und der Diener: "Nein, aber es gehört zu [kursiv] Ihnen.", S. 72), und Maria erinnert mich an Mammy in Vom Winde verweht: lässt Lebensklugheiten vom Stapel, ist aber im Grunde unterwürfig "Männer! Stehlen, damit niemand erfährt, dass sie stehlen! Kinder!" (S. 33)

Romy Hausmann, Liebes Kind: Die Studentin Lena aus München wird vermisst. Alles ist anders, als man denkt. Lena erzählt, Hannah erzählt, noch mehr Menschen erzählen. Nach und nach glaubt man, die Geschichte zu vestehen und wird doch immer wieder überrascht. Ein Thriller, wie man sich ihn wünscht: Spannend, überraschend, und obwohl die Handlung verschlungen ist, kann man ihr leicht folgen. Hab ich an zwei Abenden so weggelesen. Bemerkenswert: Die Autorin kann sich phänomenal gut in Menschen hineinversetzen, die mit Tagträumen ein Trauma bewältigen und (Epilog) die ihre Fähigkeit zum Tagträumen einsetzen, um innerlich frei zu sein. Vielleicht keine große Literatur, aber hier schimmert Größe durch.

Beim Hochamt in Neapel von Stefan von der Lahr (Vorsicht Spoiler) laufen mehrere Kriminalfälle über kreuz: Eine Gruppe Menschen sucht in Neapel das Grab Alexanders des Großen. Die Camorra verschiebt radioaktiven Müll und lagert ihn an ungeeignetem Ort. Der IS will ein Attentat in Damaskus verüben. Komplizierte Verflechtungen. Und diese sind intelligent, es gibt überraschende Handlungsstränge. Besonders ist: Religion wird zwar kritisch gesehen, aber nicht niedergemacht. Sie spielt sogar eine besondere Rolle, weil Frömmigkeit und Verzückung eine gesellschaftliche Kraft bilden, eine Bewegung, als siegreiches Gegengewicht zur Bewegung der Camorra.

Matthias Wittekindt, Die Tankstelle von Courcelles. Ein Dorf in den Vogesen. Eine Gruppe von Kindern um Lou, anfangs 9 Jahre alt, wächst heran, wird eine Clique, bekommt einen kritischen Lehrer namens Theron, macht Abitur. Ein Verbrechen geschieht. Ein junger Mann aus der Gruppe nimmt sich das Leben. Ein junger Gendarm, Ohayon, versucht, an die Jugendlichen heranzukommen und es aufzuklären. Sprödes Buch, das immer die Gefühle und Handlungen der Beteiligten erklärt, so wie es auch zB Steinfest macht, aber kälter. Man lernt als Leser niemand richtig kennen, wird auf Distanz gehalten von den Personen, von denen auch niemand wirklich sympathisch wird, außer Ohayon, aber auch den lernt man kaum kennen. Nur einmal wird der links-kritische Lehrer versteckt aufs Korn genommen (er lebt in einem Haus, dem man ansieht, dass er reiche Eltern hat), geschieht ihm recht, denn zwar provoziert er die Jugendlichen und regt sie so zum Denken an, aber letztlich lässt er sie im Stich. Immerhin, eine prekäre Situation mit Lou nutzt er nicht aus. Am Schluss ist der Autor gut zu Lou. Ein sehr gutes Buch, aber ich tat mich etwas schwer mit der Lektüre.

Johannes Groschupf, Berlin Prepper: Berlin, Walter Noack ist etwa 40, Online-Redakteur, zuständig für die Löschung von Hass-Kommentaren bei einer Berliner Tageszeitung (Berliner Morgenpost, eventuell Welt). Er erzählt in der Ich-Form von seiner Arbeit, von seinem Privatleben (er ist Prepper, erwartet Katastrophen und Anarchie, hortet Lebensmittel, hält sich mit Sport fit). Plötzlich wird er zusammengeschlagen, nach ihm auch eine junge Kollegin, und danach erleidet er einen entsetzlichen privaten Verlust. Er setzt sich mit Rechtsextremisten in Verbindung und besorgt sich eine Waffe. Hasskommentare sind ein interessantes Thema, das durch den Mord an Walter Lübcke leider Aktualität gewinnt. Das hat der Autor gut vorhergespürt, und er beschäftigt sich mit denen, die sich hiermit beruflich auseinandersetzen müssen. Der Ich-Erzähler ist ein durchgeknallter Spinner, dem Unrecht geschieht. Groschupf präsentiert ihn nicht als harmlosen sympathischen Mensch, was nahe liegen würde, sondern traut sich, zu differenzieren, was ihm wirklich gut gelingt. Groschupf gibt viele Hasskommentare wieder, die sehr realistisch wirken, außerdem führen sehr unterschiedliche, oft widerliche Menschen in den Dialogen ihre Gedanken aus. Nebenher kritisiert er Verantwortungslosigkeit von Medien, die den Ton ihrer Artikel zum Thema Flüchtling verschärfen, um Klicks zu generieren - und um Kommentare zu provozieren, die weitere Leser anlocken (S. 114 f.) Ungewöhnliches Thema, ungewöhnliche Umsetzung, spannendes Buch.


Mai 2019

Das Datum für die nächsten Stuttgarter Kriminächte steht fest!

Sie finden statt vom 13. bis zum 29. März 2020. Und es gibt schon Karten für die Eröffnung, die Bühnenversion von Stephen Kings "Misery" in der Inszenierung von Eva Hosemann. Nix wie hin!

Neue Krimis

Das neue Buch von Heinrich Steinfest, Der schlaflose Cheng, ist spannend, hat  überraschende Wendungen, sprengt den üblichen Rahmen. Und ist wie jeder Steinfest auch etwas maniriert. Das Buch gefällt mir sehr gut, wie soll ich es ausdrücken?, weil es so etwas Pazifistisches und Undogmatisches hat. Gun Love von Jennifer Clement handelt von Pearl und ihrer Mutter, die in einem alten Ford Mercury am Rande eines Trailerparks in Florida leben. Draußen veranstalten die Leute Schießübungen, drinnen geht es um Musik und Kunst und Träume. Dann verliebt sich ihre Mutter, leider in den falschen Mann, mit schrecklichen Folgen. Man wird allmählich in die Familiengeschichte, genauer: die Herkunftsgeschichte der Hauptperson hineingezogen. Wenn Pearl erzählt, zerreißt es mir das Herz und ich werde wütend. Ich habe allerdings eine Handlung von Pearl - ich will sie nicht verraten, aber sie steht in Kapitel 31 - nicht verstanden. Letzte Ausfahrt Stockholm von Ingo Langner beschreibt die Recherche eines hinterbliebenen Freundes: Nico Goldberg ist tot, Adrian Friedhoven war sein bester Freund und zweifelt daran, dass es Selbstmord war. Das Buch hat mir nicht gefallen: Ich habe es nach knapp der Hälfte abgebrochen. Allein die Sprache! Es gibt viele Adjektive, die Wortwahl ist unglücklich (S. 11: "aufgehängt", es heißt gehängt oder noch besser gehenkt.) Das fällt auf, weil der Verlag das Buch ausdrücklich als "literarisch anspruchsvoll" angekündigt hat, und gerade das ist es nicht. Auch ist es schon bei Kleinigkeiten  schlampig recherchiert (S. 11: S-Bahnstation "Witzlebenstraße", über den Namen wird herumphilosophiert, aber es gab mal "Witzleben", und die wurde im Jahr 2002 umbenannt in "S-Bahnhof Messe-Nord/ICC"). Berliner Lokalkolorit und Geschichten aus der Journalistenszene sind ganz lustig, es reicht aber nicht. Patria von Fernando Aramburu dagegen ist toll: Bittori  kehrt als alte Frau in ihr Dorf zurück. Dort war ihr Mann Txato von Eta-Terroristen erschossen worden. Möglicher Mörder: Der Sohn ihrer bis dahin besten Freundin Miren. Das Dorf ist zerrissen, die Menschen haben Angst und schweigen. Bittoris Rückkehr bringt alles durcheinander. Die Menschen - Täter, Opfer, Mitläufer - erzählen aus ihrer Perspektive. Stoff zum Nachdenken über Freundschaft, Liebe, Schuld und Vergebung. Spaß beim Lesen hatte ich bei Joe Fischler, Der Tote im Schnitzelparadies. Ein Fall für Arno Bussi: Inspektor Bussi wird von Bundeskriminalamt aus dem schönen Wien in ein Tal in der Tiroler Einöde versetzt. Dort muss er gleich einen Mord aufklären, wie kommt ein Kopf in eine Tiefkühltruhe? Vielleicht nicht übermäßig anspruchsvoll, liest sich aber in einem Rutsch mit viel Spaß so weg. Der Autor zieht seine Hauptperson ständig durch den Kakao, aber das wird nie lächerlich: Er kommt rüber als netter Schussel, dem man alles Gute gönnt. Auch die Handlung ist durchdacht. Großartig fand ich von Jocelyne Saucier, Niemals ohne sie. Das Buch spielt in Kanada und fängt mit einem großen Familientreffen an - Eltern, und sie haben 21 Kinder. Das Buch entwickelt sich aus den Erinnerungen mehrerer Familienmitglieder, aus der je eigenen Perspektive. Der Vater hatte eine Zinkmine entdeckt und profitierte nicht vom Gewinn. Die Familie kämpft. Ein Tod, der Alle geprägt hat, wird im Rückblick ganz allmählich aufgeklärt. Ein toller Roman, eigentlich eine Geschichte vom Kampf um Würde gegenüber der Übermacht von Unternehmen und stärkeren Familienmitgliedern, aber auch eine Geschichte von Armut und Stärke, Vernachlässigung und Misshandlung in einer Familie. Bullenbrüder. Tote haben keine Freunde, von Hans Rath und Edgar Rai erzählt von zwei Brüdern: ein Polizist und ein Loser, und sie versuchen, einen Mordfall im Berliner Rotlicht- und Drogenhändlermilieu aufzuklären. Der Loser war mal mit des Polizisten Frau zusammen gewesen und ist jetzt in seinem Gartenhäuschen untergekommen. Wenns drauf ankommt, ist er sehr korrekt (will man das?), sonst erzählt er auch gern mal Lügen. Das Buch ist vielleicht kein großer Wurf, keine Reflexion, nicht einmal nebenher durch die Handlung, aber solides Krimihandwerk und ordentliche Unterhaltung. Sehr gut wiederum von Philip Kerr, Berliner Blau: 1956 soll Bernie Gunther im Auftrag von Erich Mielke eine englische Agentin ermorden. Das will er nicht und flieht, verfolgt vom Stasi-Agenten Friedrich Korsch, mit dem er 1939 einen Mordfall auf dem Obersalzberg gelöst hat. Auch hier zwei Handlungsstränge, spannend verknüpft. Das Buch macht Spaß zu lesen und ist anspruchsvoll, es gibt zu denken, man kann sich über sehr menschliche Nazi-Intrigen amüsieren (darf man das? - ja!), und der Autor (leider 2018 verstorben) hat seine Handlung sehr geschickt in die europäische Geschichte eingebettet. Er kehrt manchmal den Snob heraus, das macht aber nichts, vielleicht ist es auch der Handlung geschuldet. Sehr, sehr guter "historischer" Kriminalroman.


April 2019

Kultur in Basel

In Basel gibt es viel zu sehen und zu hören: Museen, Konzerte, Theater. Die Stadt ist nicht groß, wer gut zu Fuß ist, gelangt überall hin. Fahrradfahrer dagegen müssen Straßenbahnschienen, Kopfsteinpflaster und Steigungen überwinden. Wer über sein Hotel eine BaselCard erhält, kann die ausgezeichneten Verbindungen des ÖPNV kostenfrei nutzen und erhält zudem 50 Prozent Ermäßigung auf Museen.

Basel hat mehrere Spielzeugmuseen: Das Spielzeug Welten Museum Basel am Barfüsserplatz beherbergt die nach eigenen Angaben größte Sammlung alter Teddybären der Welt, außerdem historische Puppen, Kaufmannsläden, Puppenhäuser, Karussels und zeitgenössische Miniaturen. Das Ganze auf vier Stockwerken. Es gibt viel zu sehen, aber es ist sehr gedrängt, ich hätte gern ein paar mehr Freiraum und Erklärungen gehabt. Dazu gibt es Sonderausstellungen, eine über Hüte, mit atemberaubenden Exemplaren, oder - aktuell - Korsetts, wahrscheinlich auch Atem raubend. Im Spielzeugmuseum Riehen habe ich eine wunderschöne und wohl geordnete Sammlung mit Spielzeug aus den vergangenen 200 Jahren betrachtet. Man findet mechanisches Spielzeug, frühe Spielzeug-Eisenbahnen, handbemalte Zinnfiguren, Blechautos und Holzfuhrwerke, Bau- und Konstruktionskästen, feinste Porzellanpuppen, reich ausgestattete – teilweise mehrstöckige – Puppenstuben, Kaufmannsläden sowie wertvolle alte Plüschtiere. Viele Exponate stammen von wohlhabenden Familien. Andere sind aus der Natur oder selbst gefertigt - die Anfänge des Spielzeugs. Die Museumsleitung denkt schon an die nächsten 200 Jahre und bittet auf ihrer Website: "Verwenden Sie keine Klebestreifen zum Befestigen loser Teile Ihrer Spielsachen! Der Klebstoff schadet den Materialien, mit denen er in Kontakt kommt." Eine aktuelle Ausstellung hat Pippi Langstrumpf zum Thema, die ich liebe, auch wenn man seit der Lektüre der neuesten FAS Bedenken tragen muss, ob sie nicht an Trump und überhaupt allem schuld ist, au weia...

Eine Tram-Station entfernt vom Spielzeugmuseum Riehen findet man die Fondation Beyeler. Ein wunderbares Museum, nicht zu groß, nicht zu klein, luftig, mit schönem Ausblick auf einen Teich mit, tatsächlich, Sumpfdotterblumen am Ufer, der Gärtner hats bestätigt, und vor allem großartiger Kunst. Noch bis zum 26. Mai läuft die Ausstellung "Der junge Picasso" mit Werken aus der sogenannten Blauen und Rosa Periode von 1901 bis 1906. Zum ersten Mal in Europa werden diese großartigen Bilder gemeinsam präsentiert. Sie sind besonders schön und emotional, sie zeigen Lebende, Leidende - das Mahl des Blinden, - und Tote - seinen Freund Casagemas im Sarg. Picasso war schon bekannt, aber noch nicht berühmt, die Bilder sind gegenständlich und berühren das Herz.

Nebenan der Kunst Raum Riehen, in dem noch bis Ende Juni "If I was a rich girl" läuft. Die Künstlerin Clare Kenny, die in Basel wohnt, zeigt ihre Kollektion von Werken anderer Künstler, die sie sich ausgeliehen hat. Was macht Kunst zu Kunst? Was bedeutet es, reich zu sein und Kunst zu besitzen? Die Ausstellung zeigt Kunst und sie führt den Besucher gelegentlich an der Nase herum, mit Vorhängen, die Nasen zeigen oder ähnlichen Skurrilitäten.

Im Kunstmuseum Basel läuft noch bis Anfang August "Kosmus Kubismus. Von Picasso bis Léger".  Sie schließt sich kunstgeschichtlich an die Ausstellung in der Fondation Beyeler an und zeigt Kunst aus den Jahren 1907 bis 1917, als junge Künstler in Paris sich von einer Welt im Umbruch inspirieren ließen. Die Ausstellung macht Spaß, weil sie gut geordnet ist und einzele Phänomene wie Primitivismus, den Durchbruch der geschlossenen Form oder zu Collagen und Assemblagen gut erklärt und gezeigt werden.

Zum Historischen Museum Basel gehören die Barfüsserkirche, das Musikmuseum und das Haus zum Kirschgarten. In der Barfüsserkirche sollte man unbedingt den Basler Totentanz besichtigen, genauer die Reste - das Kunstwerk wurde zum großen Teil zerstört. Auch lohnenswert die alten Wandteppiche, die skurrile und spannende Geschichten erzählen, von Waldweiblein, Jagden, Werben von Mann und Frau...

Hotel Strindberg von Simon Stone mit Caroline Peters und Martin Wuttke, eine Koproduktion des Wiener Burgtheaters mit dem Theater Basel, es wurde auch zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen - unbedingt hingehen!!!

Wer Kinder hat (und auch, wer nicht), sollte unbedingt der Basler Papiermühle einen Besuch abstatten, es knattert und kracht und zischt, es riecht und glitscht, man kann Papier schöpfen und malen, ganz wunderbar und vergnüglich. Und man lernt auch Einiges über Papier, Schrift und Druck.

Ebenfalls laut und vergnüglich ist es im Museum Tinguely. Aber nicht nur - manches ist auch bedrückend, erschreckend und traurig. Lustig sind seine bunten Maschinen. Viele kann man zum Laufen bringen, man braucht nur etwas Glück, denn nach jedem Lauf benötign sie eine Ruhepause, damit sie nicht oder nicht so sehr verschließen. Auf einigen kann man herumklettern, was auch Kinder begeistert. Aber im Keller findet sich eine unheimliche Installation, die dem Basler Totentanz nachempfunden ist, dessen Reste man vorher im Historischen Museum betrachtet haben sollte. Der "Mengele-Totentanz", eine Figurengruppe aus 18 Teilen, baute Tinguely im Jahr 1986 aus den Überresten eines abgebrannten Bauernhofes. Daruner war auch eine Mais-Pressmaschine der Firma Mengele, die der Familie des KZ-Arztes Mengele gehörte - daher der Name, der so unheimlich gut passt.


März 2019

Kultur in Kopenhagen

Kopenhagen lohnt auf jeden Fall einen Besuch. Das Essen ist zwar nicht so toll, außer man hat viel Geld zur Verfügung, aber alle Dänen, denen ich begegnet bin, waren sehr freundlich. Eine saubere Stadt, in der ich mich sehr ausgesprochen gefühlt habe. Und man kann viel unternehmen. Die Bedingungen für Radfahrer sind ideal, jeder fährt hier auch Rad, und die Dänen sind rank und schlank. Mir fiel auch auf, wie sozial es hier zugeht: In vielen Museen sinkt der Eintritt, wenn man ein Kind mitbringt, man zahlt für beide zusammen weniger als für eine Einzelperson.

Toll war erst mal die Kunsthal Charlottenborg mit der Charlottenborg Spring Exhibition: die zeigt seit 1857 jedes Jahr neue Arbeiten vor allem dänischer Künstler, in diesem Jahr 78 Stücke von 45 Künstlern. Ich stolperte über das Video von Madeleine Andersson (SE), I need to find myself before the icecaps have melted, 2018. 8:25 min. HD video. Installationsview, Charlottenborg Forårsudstilling 2019. Photo by Søren Rønholt. Ironie oder nicht? Kann man was mögen, von dem man nicht sicher ist, ob es ironisch gemeint ist? Egal, ich hielt es für Ironie, jemand anderes nicht, und uns beiden gefiel es.

Im Statens Museum for Kunst, Dänemarks Nationalgalerie, kann man Europäische Kunst von 1300 bis 1800, Französische Kunst von 1900 bis 1930, Dänische und Nordische Kunst 1750 bis 1900 und Dänische und Internationale Kunst nach 1900 betrachten und bewundern. Im Faltblatt sind die zehn "Highlights" vorgestellt, und die sind auch toll, von "Melanchole" von Lukas Cranach d.Ä. bis zum Kronleuchter von Danh Vo.

Das Krigsmuseet, das Dänische Kriegsmuseum, zeigt eine unglaubliche Sammlung von Kanonen, viel interessanter aber ist die Aufbereitung des Ganzen. So informieren die Dänen über ihre Kriege, die meisten verloren, mit einem spöttischen Humor; aber empathisch über Verletzte und Tote.

Absoluter Höhepunkt der Reise ist das Louisiana. Es ist ein Stück außerhalb der Stadt, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Dort läuft noch bis zum 23. Juni Open My Glade, die erste große Ausstellung mit Werken von Pipilotti Rist in einem skandinavischen Land. Im Video "Color is dangerous" läuft sie fröhlich eine Straße entlang und zerschlägt lauter Autoscheiben (einen besonders schönen Oldtimer verschont sie dankenswerterweise). In einem anderen Video hält sie einen langen, traurig-lustigen Monolog über Liebe und Verlassen-Werden. In wieder einem anderen zeigt sie eine Geburt, mit allen Einzelheiten samt Dammschnitt, nun ja, dies Video ist ein Verhütungsmittel, irgendwie, aber warum eigentlich kann man sich über alles informieren und wundert sich über nichts, und das, was jeden passiv und jeden zweiten aktiv unmittelbar angeht, haut einen um? Großartige Überraschung auch Focus: Feldmann - Hans-Peter Feldman ist ein deutscher Künstler, von dem ich schon Arbeite gesehen habe, den ich aber bloß im Hinterkopf hatte und den ich sicher nicht mehr vergessen werde. Ein langes Interview zeigt einen ganz durchschnittlich aussehenden Mann, der mit viel Humor den Betrachter seiner Werke durcheinanderbringt, etwa indem er ein Paar im Stil Holländischer Meister malt, aber mit roter Clownsnase.

Glück gehabt: Während des Besuches lief Pulsar, ein Festival für Neue Musik. Dabei sollen vor allem junge Komponisten aus Skandinavien untereinander vernetzt werden. Die Komponisten sind großenteils in ihren Zwanzigern, wirklich beindruckend. Nicht nur für Fans des Stils.


Februar 2019

Bug auf der Homepage - gerichtet

Tut mir leid, dass man mich grad nicht in voller Schönheit bewundern kann: Das Foto auf dem Header ist nach oben gerutscht. Die Technik-Kollegen von Strato sagen, es sei ein Bug im Design und versprechen schnellstmögliche Besserung.

Aktualisierung März: Die Technik-Kollegen von Strato haben es gerichtet: Vielen Dank!

Krimis - es ist so beruhigend, wenn andere Leute ermordet werden ...

Peter Swanson hat mit "Die Gerechte" (2017; 2015: The Kind Worth Killing) einen wahnsinnig spannenden Krimi voller überraschender Wendungen geschrieben. "Alles was Du fürchtest" (2019; 2017: Her Every Fear) ist ein bisschen langatmig, man weiß zwar auch nicht, wie es ausgeht, aber es ist nicht wirklich überraschend. "Die Lebenden und die Toten" (2014) von Nele Neuhaus soll ein Spiegel-Bestseller sein, ich fand ihn aber langweilig. Das Thema ist sehr gut, auch dass es sich erst langsam herausschält, aber ein Drittel weniger hätte dem Buch gut getan. Margaret Millar, "Die Süßholzraspler" (1972; 1957: The Soft Talkers) ist uralt und brillant.

Kunst in Baden-Baden

Das Museum Frieder Burda zeigt eine tolle Brücke-Ausstellung. Immer wieder gut. Exponate aus Berlin, von Burda und anderswo her. Auch wer das Berliner Brücke-Museum schon kennt, kann in Baden-Baden Bilder sehen, die er vielleicht noch nicht kannte, denn hier sind auch solche, die in Berlin nicht hängen.

Außerdem kann man das Banksy-Schredder-Bild "Love is in the Bin", naja eigentlich "Girl and Balloon" betrachten. Dafür kann man sogar umsonst rein, es gibt allerdings eine lange Schlange. Die vermeidet man, wenn man die Karte für Brücke kauft, aber wer das nicht will, kann am Kunstbetrieb vorbeigehen. Das Museum bittet stattdessen um eine Spende für ein Hilfsprojekt für junge Flüchtlinge, auf einen ideelen Impuls von Banksy hin, der sich für Flüchtlinge engagiere.

Kunst in Karlsruhe

Die art KARLSRUHE hat sich wieder gelohnt. Toll: Dimitriy Zhdankin, "Überraschung II", ein Frauenkopf von halb hinten von Siri Gindesgaard, seltsame Risenvögel von Matthias Garff, von Simon Czapla ein riesiges Krokodilbild, das Viech mit rosa Cowboyhut, -stiefeln und Colt. Nachdenklich machend von Stefan Bircheneder Spinde, deren Inhalte gemalt sind, Arbeitsklamotten, ein pin up-Girl, Kleider... und jeder Spind erzählt eine andere Geschichte. Verrückt von Peter Anton vier große bunte Fische zum An-die-Wand-hängen aus butem Plastik, sie sehen aus wie aus Gummibärchen-Material. "Dran am Fenster" von Raimund Göbner ist eine Holzfigur, die im Fenster lehnt, man weiß gar nicht, von welcher Seite man gucken soll. Zum Lachen von Georg Schulz der Xte Senat, alle in roten Gewändern, aber beim BVerfG gibts doch gar keinen Zehnten Senat??? Die Figuren von Markus Brenner, ein Mann und eine Frau, die hüpfen, lassen sogar Kinder ganz fasziniert gucken. Ich mochte  die skurrilen Typen von Hannes Helmke. So viel tolle Kunst!


Januar 2019

Grigory Sokolov, Complete Recordings

Sokolov liebt keine Studio-Aufnahmen, darum hat naive schon im Jahr 2011 Mitschnitte von Life-Konzerten zusammengestellt und in einem Schuber herausgebracht. Es sind zehn CDs,  je zwei mit Bach, Beethoven, Schubert und Chopin, eine mit Brahms und eine mit Prokofiev, Skriabine und Rachmaninov. Geordnet sind sie nach Aufführungsorten: Bach in St. Petersburg, eine von Beethoven in St. Petersburg und eine in Verona, Schubert in Helsinki, Chopin in Paris und St. Petersburg, Brahms in Paris, und Scriabin, Prokofiev und Rachmaninov auch in St. Petersburg. Das Pariser Publikum hustet ein  bisschen, beim Booklet zu Schubert sieht man die Tesafilmstreifen auf den Kopien, die Klangqualität ist nicht so toll. Lohnt sich aber, wenn man darüber hinweghört, zum Beispiel wenn man die Musik nicht nur passiv genießen, sondern kennenlernen oder mit Einspielungen anderer Pianisten vergleichen will. Vor allem die Brahms-Balladen sind toll.

Bücher für freie Tage

Der heilige Eddy von Jakob Arjouni und Der König von Berlin von Horst Evers sind ulkige Krimis, die in Berlin spielen. Liest man in zwei, drei Stunden. Eddy ist eigentlich ein nicht ganz aber doch einigermaßen Lieber und gerät in einen fürchterlichen Schlamassel. An dem er aber auch selber Schuld ist, ein bisschen jedenfalls. Der kleine Bruder von Sven Regener spielt auch in Berlin und ist die Vorgeschichte vom berühmten Herrn Lehmann. Der kleine Bruder sucht in Berlin seinen großen Bruder. Später arbeitet er in einer Kneipe. Darüber, dass auch ein sozial nicht sehr hoch angesiedelter Job das Richtige sein kann, darüber hat Sven Regener einiges Intelligentes gesagt, ich glaube, es war in der FAZ.

Kunst in Halle an der Saale

Mitte Oktober 2018 bis Anfang Januar 2019 lief eine Sonderausstellung zu Gustav Klimt im Kunstmuseum Moritzburg. Hat sich gelohnt, der Besuch, mehr als 60 Zeichnungen und zehn Gemälde des Künstlers. Die meisten Werke befinden sich heute in Wien und New York, sie sind fragil. Dass man es geschafft hat, sie zusammenzutragen, ist eine Sensation, darauf ist man im Museum zurecht stolz. Den Audioguide und die Ausstellung hätte man noch etwas besser aufeinander abstimmen können, ein paar kleine Ungenauigkeiten haben sich eingeschlichen, die "Irrlichter" entstanden laut Text am Bild im Jahr 1903, laut Audioguide "um 1902". Die Kompositionsentwürfe dazu haben die Nummer 11, das Bild die Nummer 9 - andersherum wäre die Nummerierung logischer gewesen. Einige Zeichnungen, etwa die "Stehende Schwangere", kann man nur ahnen, es ist einfach zu dunkel im Raum. Schade, dass es zum Fakultätsbild Philosophie keine Zeichnung gibt, wenigstens ein Foto von Bild oder einem Entwurf wäre schön gewesen. Ich hatte von Klimt nur die prachtvollen Bilder im Kopf, seine Zeichnungen waren mir neu. Einige Aktzeichnungen erinnern an die Egon Schieles. Wunderbare Ausstellung, die Fahrt hat sich wirklich gelohnt!

Übrigens, wenn man im Museum oben aus dem Fenster guckt, sieht man Brandmauern, einen Weg, eine Brache, eine Reihe Autos - und wenn man genau hinguckt, entdeckt man an der Fensterscheibe den Abdruck eines Vogels. Eine Taube ist gegen die Scheibe geflogen und hat ihren Staub auf der Scheibe hinterlassen, man kann genau Körper, Flügel, sogar Schnabel und Auge erkennen. Hoffentlich hat sie es überlebt, die Arme!


Dezember 2018

Erwachsen

Eigentlich weiß ich es schon seit Jahrzehnten. Aber gelegentlich wird es mir besonders bewusst: Ich bin erwachsen. Ich merke es daran, dass ich mich nicht über Weiße Weihnachten freue, sondern über Weihnachten ohne Einkaufs- oder Verkehrschaos. Oder daran, wie ich Äpfel esse: Ich beiße nicht mehr rein, sondern viertele und entkerne sie, und dann verzehre ich die Viertel nacheinander. Sehr manierlich.

Kunst in München

Florenz und seine Maler in der Alten Pinakothek, man kann ungefähr 120 wahre Meisterwerke sehen. Am Anfang der Ausstellung erläutern große Bild- und Texttafeln die bahnbrechenden künstlerischen Erfindungen und die Wechselwirkungen zwischen den Neuerungen der Techniken und denen der Stile. Die Kunstwerke - keinesfalls nur Gemälde, sondern auch Zeichnungen und Skulpturen - zeigen immer wieder religiöse Themen, aber auch profane Portraits. Was hatten die Künstler für Ideen, wie arbeiteten sie? Die Ausstellung läuft noch bis zum 27. Januar. Auch die Dauerausstellung ist toll, viel Dürer, den ich sehr mag. Sonntagseintritt in den Pinakotheken ein Euro, das ist sozial, ich liebe die Bayern!


November 2018

Kunst in Hamburg

Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt noch bis zum 13. Januar Inky Bytes, Tuschespuren im Digitalzeitalter, und bis zum 17. März 68. Pop und Protest.

In den Inky Bytes arbeiten Künstler und Künstlergruppen aus Hamburg und China analog und digital und postitionieren sich, so der Text zur Ausstellung, gegenüber chinesischen Tuschetraditionen wie Tuschemalerei, Buchdruck und Steinabrieb. In einem Raum kann man eine VR-Brille aufsetzen und 360 Grad herumschauen und dabei zusehen, wie die Künstler in Hamburg in der Nähe der Uni im Freien arbeiten.

68. Pop und Protest erinnert an die Erschütterungen und Dramen, die nationalen Proteste und revolutionären Ideen, die dadurch entstanden, ermöglicht und unterstützt wurden. Eine weltweite kulturelle Revolution sei in Gang gesetzt worden. - Wirklich weltweit? Aber wir profitieren heutzutage von den Kämpfen von damals, über die Fortschritte in Fragen der Menschenrechte etwa bin ich glücklich, auch wenn, man braucht es nicht zu betontn, viel zu tun bleibt.

In der Kunsthalle habe ich die "Ruine Oybin" von Caspar David Friedrich betrachtet, Vorgänger seines politischsten Bildes, "Huttens Grab". Hatte die FAZ so toll beschrieben (15.08.2018, S. 11).

Und ich habe Bilder Hamburger Künstler angeguckt, die Kunsthalle hat einen Saal eingerichtet, in der Kunst in Hamburg aus den verschiedenen Sammlungsbereichen versammelt wird. Ungefähr einmal im Jahr werden neue Bilder reingehängt, aktuell "Klassische Moderne" mit einer Präsentation zum Hamburgischen Künstlerclub von 1897, mit Julius von Ehren, Ernst Eitner, Arthur Illies und Anderen. Klasse!

Und, auch ganz überraschend, damit hätte ich nicht gerechnet: Die Kunsthalle zeigt Lieblingsbilder der Hinz&Kunzt-Verkäufer_innen. (Hier schreibe ich "_innen", denn die Ausstellung heißt so. Ansonsten verwende ich das Generische Maskulinum: Damit sind Männer UND Frauen gemeint.) Die Kunsthalle gratuliert, vor 25 Jahren erschien nämlich die erste Hinz&Kunzt in Hamburg. Zum Jubiläum lud Kunsthallen-Direktor Christoph Martin Vogtherr sechs Hinz&Kunzt-Verkäufer zu einem Rundgang in die Kunsthalle ein, sie erwählten ihre Lieblingsbilder, und man kann in der Ausstellung lesen, was sie dazu zu sagen haben. Super Idee.

Kunst in Berlin

George Grosz in Berlin und, Kontrastprogramm, Simply Danish im Bröhan-Museum. Simply Danish zeigt noch bis zum 3. März Silberschmuck des 20. Jahrhunderts von dänischen Künstlern. Für meinen Geschmack zu glänzend, aber zum Angucken im Museum interessant. Man sieht die Sammlung des Berliner Ehepaares Marion und Jörg Schwandt mit ungefähr 170 Schmuckstücken von 48 Künstlern, seit dem Jugendstil. George Grosz sehe ich seit der Ausstellung mit anderen Augen, unter den mehr als 200 versammelten Werken sind viele, die sonst nicht öffentlich zugänglich  sind, und die Texte zu den Bildern sind wirklich gut. Er hat in der Weimarer Republik provoziert, wurde dreimal angeklagt, und provoziert noch heute. Schnell hin, läuft nur noch bis zum 6. Januar!


Oktober 2018

Kunst in Berlin über Berlin

Die Schönheit der grossen Stadt im Museum Ephraim-Palais (gehört zur Stiftung Stadtmuseum), zeigte, wie Künstler vom 19. Jahrhundert bis (fast) heute die städtischen und gesellschaftlichen Strukturen Berlins sahen. Die Bilder hingen von Februar bis Ende Oktober, und ich habe es an einem der letzten Tagen noch hingeschafft, zum Glück, es war ein Erlebnis! Lyonel Feiniger malte 1912 einen Gasometer in Schöneberg, hellgrauen Rauch vor schmutziggoldenem Gebäude, Max Beckmann machte 1911 den Nollendorfplatz fast menschenleer, und Rainer Fetting ließ 1993/94 den Potsdamer Platz mit roten Kränen hinter dem großen dunkelgrünen Tiergarten fast verschwinden. In dieser Ausstellung hätte ich stundenlang herumstromern und gucken können.


September 2018

Kunst in Berlin

Viel auf einmal: In ganz Berlin die Berlin Art Week, und am ehemaligen Flughafen Tempelhof in den Hangars 5 und 6 die art berlin, und im Hangar 4 die positions. Art berlin und positions dauerten nur das letzte Septemberwochenende. Ausstellungen der Berlin Art Week dagegen laufen weiter, etwa im Gropiusbau, und da bin ich erst in Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland gestolpert und dann in Bestandsaufnahme Gurlitt.

In den Bewegten Zeiten  werden verschiedene Exponate aus allen Bundesländern unter den vier Themen Mobilität, Konflikt, Austausch und Innovation ausgestellt und sollen auf persönlicher, wirtschaftlicher und religiöser Ebene die Folgen überregionaler Interaktion erzählen. Das klappt mehr oder weniger gut, ein bisschen erratisch vielleicht, aber im letzten Raum haben die Ausstellungsmacher es geschafft, einige der bedeutsamsten Funde überhaupt zusammenzuführen: drei der vier Goldhüte, die Venus von Hohle Fels und die Himmelsscheibe von Nebra. Da stockte mir der Atem, so grandios war es.  [Nachtrag, Dezember 2018: Die Himmelsscheibe wurde inzwischen durch ein Duplikat ersetzt.]

In der Bestandsaufnahme Gurlitt werden tolle Exponate gezeigt, aber ich hätte mir gelegentlich eine genauere Erläuterung gewünscht: Warum wurden von über 1500 Exponaten bisher nur 4 an die Nachfahren der rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben? Und wenn Nazis Kunst als entartet bezeichneten und aus Museen raubten, pardon, beschlagnahmten, sollen diese Werke dann diesen Museen zurückgegeben werden? Oder sind auch sie in Bern? Warum? Ich wüsste gern Näheres. [Nachtrag, Dezember 2018: Eine entsprechende Presseanfrage an die Bundeskunsthalle wurde nicht beantwortet. Schade.]

Die positions sind schön übersichtlich, man kriegt keine Plattfüße, und am besten gefiel mir eine ganz skurrile Figur: ein Fisch auf zwei Beinen von Albrecht Genin.


Nino Haratischwili, Die Katze und der General

Ach, auch toll... Liest man weg wie nix.


Nino Haratischwili, Das achte Leben (Für Brilka)

Wer liest freiwillig 1200 oder 1300 Seiten? Man sollte sich aber wirklich dranwagen, ich kann die georgische Familiensaga nur empfehlen, das Buch hat mich gefangen genommen. Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, um reizukommen, hilfreich ist der Stammbaum der Familie in der hinteren Umschlagseite. Nino Haratischwili kommt aus Georgien, nebenher habe ich bei der Lektüre einiges über dieses besondere Land gelernt, aber eher aus Versehen, zum Glück, denn ich mag Romane, die Unterricht in Geschichte oder Geographie geben, ebensowenig wie lehrreiche Spiele. Dies Buch aber hat mich begeistert und immer wieder überrascht, ich mochte jede Person auf eine andere Art und Weise, und ich würde ehrlich gesagt gern wissen, was mal aus dem Mädchen Brilka wird - ein neuer Roman, hoffe ich. Erst mal habe ich mir von derselben Autorin Die Katze und der General gekauft, gebunden leider 30 Euro, aber was soll man machen.


August 2018

Stephan Balkenhol in der Kunsthalle Emden

Noch bis zum 16. September läuft in der Kunsthalle Emden die Ausstellung mit Werken von Stephan Balkenhol. Am besten gefiel mir die Giraffe auf dem Schnittmusterbogen. Als ich gehen wollte, regnete es, und ich habe auch noch den Film über den Künstler angeschaut: Unprätentiös und gut! Lustig, dass die documenta eine Skulptur nicht mochte, die der Künstler in einem Kirchturm ausgestellt und dann der Kirche geschenkt hat. Das Café lohnt auch einen Besuch.

Auferstehungen in der Kunsthalle Emden

Parallel läuft die diesjährige Sommerausstellungen mit Meisterwerken aus der Sammlung, diesmal zum Thema "Auferstehungen". Im November diesen Jahres ist das Ende des Ersten Weltkriegs 100 Jahre her.  Was machte der Krieg mit Künstlern wie Dix, Grosz, Heckel, Pechstein? Einige hatten den Krieg herbei gesehnt, erwarteten eine Reinigung, dass eine Verweichlichung aufhörte. Wieso kann ich so absurde Vorstellungen verstehen? Zum Glück lebe ich in einer Demokratie, die Schwache schützt. Und die Künstler? - Sie bekamen Traumata, Krankheiten, Verletzungen, neue Utopien, den Tod...

Niederländische Malerei in der Kunsthalle Bremen

Kunsthalle Bremen: Bis zum 26. August lief die Ausstellung "Tulpen, Tabak, Heringsfang" mit Niederländischer Malerei des Goldenen Zeitalters. Der Bremer Kaufmann Carl Schünemann hatte seine Sammlung niederländischer Gemälde der Kunsthalle Bremen geschenkt,  jetzt wurden die 32 Ölgemälde zum ersten Mal ausgestellt. Endlich, und man kann hoffen, dass sie einen Stammplatz bekommen! Eine Frau in einem weißen Seidenkleid, man sieht förmlich, wie es knistert. Ein Blumenkorb, darin auch gestreifte Tulpen, Spekulationsobjekt für Verrückte.


Juli 2018

Wespen

Kaum hat man sich gesetzt, kommen sie angeschwirrt, die Wespen. Echt nervig. Neulich habe ich eine dabei beobachtet, wie sie sich ein Riesenstück Schinken vom Schinkenbrot absäbelte. Ich wollte das natürlich nicht beobachten, aber ich musste, denn jedesmal, wenn ich die Wespe wegwedelte, kam sie bald darauf zurück und suchte die angesäbelte Stelle am Schinken, und während sie suchte, summte sie an meinem Ohr herum und flitzte vor meinen Augen hin und her. Irgendwann wedelte ich nicht mehr und guckte nur noch. Wenn sie irgendwo sitzt und arbeitet, dann weiß ich wenigstens, worauf ich aufpassen muss. Das ist doch zwei Quadratmillimeter Schinken wert, oder? Ist ja auch interessant. Oder? Ob die Wespe wohl wusste, dass sie beobachtet wird? War es ihr egal? Hat sie eigentlich auch mich beobachtet?

Bodo Kirchhoff, Dämmer und Aufruhr

Dämmer und Aufruhr nennt Kirchhoff seinen Roman der frühen Jahre, eine dichterische Autobiographie sozusagen. Bewunderswert, wie er darüber schreibt, wie ein Lehrer im Internat ihn, ja, verführt. Kirchhoff fängt die sinnliche Spannung ein: Es ist klar, dass der Junge missbraucht wird, aber das Buch versenkt ihn nicht in einer Opferhaltung: Der Lehrer sah aus wie Winnetou. Gehört zum Besten, was ich zu solchen Themen gelesen habe.

Eigentlich aber handelt das Buch von seiner Mutter. Kirchhoff schreibt, inzwischen etwa 70 Jahre alt, über Besuche bei seiner alten Mutter, er beschreibt seine Recherche für das Buch - Urlaub in einem Hotel, in dem auch seine Eltern Urlaub gemacht hatten - und er beschreibt, dies einigermaßen chronologisch, seine eigene Kindheit und Jugend bis zum Buchvertrag - wie auch andere, die im Schreiben groß wurden, etwa Deborah Feldman in Unorthodox.

Hello World

Hello World ist ein ulkiger Titel für eine Ausstellung, es ist wohl eine politische Botschaft: Die Sammlung des Museums Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart in Berlin, der Nationalgalerie, ist vorwiegend westlich orientiert, und wie sähe sie aus, wenn ein weltoffeneres Verständnis ihren Kunstbegriff und ihre Entstehung geprägt hätte?, diese Frage versuchen 13 interne und externe Kuratoren zu beantworten. Das Ganze ist etwas erratisch, aber voll interessanter Einzelheiten. Schräge die alte Band Laibach, die im Jahr 1984 Gründungsmitglied des interdisziplinären Kunstkollektivs Neue Slowenische Kunst wurde, und bei der ich nie so richtig weiß, wie ernst sie das faschistoide Auftreten eigentlich meint. Die Ausstellung läuft von Ende April bis Ende August 2018.

Gemixte, verwirrende Realitäten

Kubus, Kunstmuseum Stuttgart, tolle Ausstellung noch bis zum 26. August 2018. Augmented und virtual reality in der Kunst, gleich beim Reinkommen ein ulkiger Reiter, eine Skulptur auf einem Sockel, aber sein Schatten sieht anders aus als er selbst, in einigen verwirrenden Details: Hat er Sporen oder nicht? Zügel oder nicht? Und was für eine Waffe ist das denn nun? An den Wänden große rot-grüne Bilder, die dreidimensional werden, wenn man eine der ausliegenden Brillen aufsetzt. Aber am Tollsten sind die Räume, in denen man eine VR-Brille aufsetzt und einen Controller in die Hand nimmt: Plötzlich meint man in einer ganz anderen Umgebung zu stehen, und man kann sein eigenes virtuelles Ich hierhin und dahin beamen. Man steht in einem unwirtlichen Gebäude voll Wasserlachen und Becken und Stufen, oder in einer Wüste, aus der wie Kakteen Arme wachsen, bei einem Klick wächst ein neuer Arm, drückt man länger, wächst er schier ins Unermessliche. Gerade richtig für einen unerträglichen heißen Nachmittag.

Tot oder auch nicht

Das medizinhistorische Museum der Charité in Berlin zeigt von Ende April bis Mitte November 2018 die Sonderausstellung "Scheintot – Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden". Um 1800 herum begannen manche Ärzte und Naturwissenschaftler, an der Sicherheit und Feststellbarkeit des Todes zu zweifeln. Sie schlugen allerhand Methoden vor, um Sicherheit zu gewinnen: Ein Glöckchen im Sarg installieren. Oder mit der Beerdigung warten, bis der Tote fault. Diese Ausstellung ist genau richtig, wenn man an einem unerträglichen heißen Nachmittag Schwindel fühlen will...


Juni 2018

Irrlichter

Johannistag, Sommersonnenwende, Sommeranfang: Alles jetzt im Juni. Und pünktlich schwärmen Glühwürmchen aus, Kleine Leuchtkäfer, verwirren den Geist und entzücken die Seele, hoppla, bin ich Trichtomist, das wäre ja peinlich, nein, lieber nicht... Also, Glühwürmchen, wer jetzt ein bisschen Glück hat, kann sie in warmen Nächten entdecken und verzückt die kleinen weißlich leuchtenden Punkte betrachten, die durch das Dunkel schweben. Wer dagegen Pech hat, denkt nur, der Punkt sei ein Glühwürmchen, aber in Wahrheit sieht er die glimmenden Zigarette eines Mörders, der im Schutze der Dunkelheit aufs nächste Opfer lauert... Dieser Gedanke wäre womöglich der letzte Gedanke des Irrlicht-Suchers. Ach nein, das wird mir alles mir zu unheimlich. Ich breche lieber ab.

Altes Land

Tolles Buch: Altes Land von Dörte Hansen, ich habe es begeistert gelesen und schon zweimal weiterverschenkt.


Mai 2018

Gratis in die Staatsgalerie!

Juhu, Kunst für umsonst: Die Staatsgalerie Stuttgart wird 175 Jahre alt. Ein stolzes Alter: Die kleine Hexe kommt auf grad mal 127 Jahre. Die kleine Hexe hext. Die Staatsgalerie feiert und lädt uns ein: Eintritt frei für die Ausstellung "#meinMuseum - 175 Jahre Staatsgalerie", also für fast alles. Das Angebot gilt vom 1. Mai bis zum 28. August 2018. Nix wie hin!


April 2018

Jeanette Winterson

Orangen sind nicht die einzige Frucht erschien im Jahr 1985, und Warum glücklich, statt einfach nur normal? im Jahr 2011. Beide Bücher haben einen autobiografischen Anteil, das ältere weniger, das neuere mehr. Die Autorin erzählt, wie sie als adoptiertes Mädchen in einer christlichen, man könnte auch sagen fundamentalistischen Familie mit einer aggressiven Mutter aufwuchs. Beim ersten Buch war die Autorin 25, beim zweiten 52 Jahre alt. Die erste Fassung der Geschichte ihres Lebens, so möchte ich es nennen, war die Geschichte, die sie ertragen konnte, die zweite Fassung die Geschichte, die sie mit ihrer Lebenserfahrung reflektiert. Ich glaube, jeder Mensch, der in so einer Familie aufwuchs, erkennt nur zu viel wieder: Warnungen vor dem männlichen Geschlecht, aber ohne Erklärungen; die allzeit dräuende Apokalypse, die Angst vor dem Glück. Und ich wünsche jedem den Mut zum Wunsch, einfach nur weg zu gehen. Und dann, wenn es nötig ist, die Kraft und das Durchhaltevermögen. Winterson ging. Nach Jahren kehrte sie einmal zurück und fand sich in einer Art Club wieder: Geschminkt, beachtet. Und ihr wurde klar: Selbst wenn sie in der Gemeinde geblieben wäre: Auch dann hätte sie eines Tages geschminkt und beachtet in dieser Bar gestanden. Sie war nicht der Mensch für ein verhuschtes Leben.

Die Maus im Haus von G.

Zu Weihnachten nistete sich eine Mäusefamilie ein und baute sich ein Nest unter dem Dach. Sie nagte das Marzipan an und wurde vertrieben. Zu Ostern kam ein Eichhörnchen. Es war allein und tanzte auf dem Fernseher.

Warum das alles?


März 2018

Der Meister von Messkirch

Staatsgalerie Stuttgart: Am letzten Tag noch den Meister von Messkirch bewundert, fast angebetet. Ein wunderschöner Tag - wer ist so verrückt und geht bei strahlendem Sonnenschein ins Museum; außerdem war Ostermontag, die Staatsgalerie ist montags eigentlich geschlossen, und die Feiertagsöffnungszeiten muss man sich umständlich herunterladen.  – Und so war es nicht zu voll. Die Ausstellung war großartig. Wer dieser Meister von Messkirch eigentlich war, weiß man gar nicht. Aber er hat die katholische Kirche gegen die Reformation unterstützt, darum begann die Ausstellung auch im Reformationsjahr 2017. Der Meister hinterließ viele Tafelbilder und Zeichnungen, die inzwischen in Museen und Privatsammlungen Europas und der USA zerstreut sind. Die Ausstellung zeigte Bilder des Meisters neben solchen protestantischer Zeitgenossen: Wer durfte malen, wer nicht? Was wurde im Katholizismus gestattet, was im Protestantismus? Und kann man überhaupt nach katholischer und protestantischer Lehre unterscheiden?

art KARLSRUHE 2018

Der Besuch hat sich gelohnt. Nachmittags wird es sehr voll, man sollte möglichst früh hin. Ich mochte die begehbare Teekanne von Joana Vasconcelos - die hat auch einen Preis bekommen, den Loth Skulpturenpreis der diesjährigen art KARLSRUHE - das Bild von den zwei Jungen, einer mit Wolfskopf, der andere mit Krokodilkopf, von Sarah Mcrae Morton, die zarten und hintergründigen Wachsbilder der Frauen, die Raketen, die Autos zerschmettern (oder die Autos, die von Raketen zerschmettert werden?), ach, so viel Tolles, Interessantes, Nachdenklichmachendes!

Andreas Pflüger, Niemals

Der zweite Teil der Trilogie um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron. (Für den ersten Teil "Endgültig" siehe unten.) Ach, so eine tolle Heldin, die einfach alles kann! Außer sehen. Und die sich dabei auch noch seelisch weiterentwickelt. Ich schmelze dahin. Was für ein Vorbild…

Stuttgarter Kriminächte 2018

Pflüger las bei den Stuttgarter Kriminächten, und dort bekam er auch den Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman des Jahres, dotiert mit 3.000 € (gestiftet von der HypoVereinsbank), Glückwunsch! Die Kriminächte waren auch dies Jahr wieder richtig toll. Alle Besucher haben überlebt, zumindest wüsste ich nichts Gegenteiliges zu berichten. Das Futter für die Leseratten reicht hoffentlich eine Weile. Und wir freuen uns auf nächste Jahr!


Februar 2018

Patrick Angus, Private Show

Noch bis zum 8. April läuft im Kunstmuseum Stuttgart, dem Kubus, diese spannende Ausstellung. Angus war ein schwuler Künstler, einer der ersten, die schwules Leben, die New Yorker Szene der 1980er Jahre darstellten. Viele Bilder sind melancholisch, einige intim, manche wie ein Schlag ins Gesicht. Ein schwuler Pfarrer im Arbeitszimmer, er ist Vater eines Sohnes - hatte er sein Coming-Out erst später? Junge Männer entblößen sich auf einer Bühne, ältere Männer schauen zu, einige aus dem Halbschatten. Verwirrend: Warum tragen so viele Männer weiße Socken???

Technoseum

Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim; nichts ist spannender als Technik, schreiben die Macher auf dem Faltblatt, und wirklich, es ist oberspannend. Und macht Spaß. In diesem Museum kann man gucken, lesen, machen und tun. Zum Beispiel Reaktionen probieren. Sich vor eine Scheibe mit Lampen stellen, die nach einem Zufallsprinzip aufleuchten. Man muss so schnell wie möglich draufhauen - wer schafft am meisten in der Zeit? Phänomene aus der Tier- und Pflanzenwelt werden erklärt und man sieht, wie Techniker und Ingenieure davon lernen, von der Beschaffenheit der Haut eines Haifisches etwa. Ideal für Kinder, die werden ihren Spaß haben.


Januar 2018

Lieblingsbücher zum Thema Journalismus/Schreiben

Ein paar Bücher über Journalismus und Schreiben, vor Jahren gekauft, jetzt sind sie mir wieder in die Hände gefallen. Sie begeistern mich nach wie vor: The New New Journalism: Conversations with America's Best Nonfiction Writers von Their Craft von Robert S. Boynton. Literary Journalism: A New Collection of the Best American Nonfiction von Norman Sims und Mark Kramer. Telling True Stories: A Nonfiction Writers' Guide from the Nieman Foundation at Harvard University von Mark Kramer und Wendy Call. The Art of the Personal Essay: An Anthology from the Classical Era to the Present von Phillip Lopate.


November 2017

Anita Rée in der Hamburger Kunsthalle

Noch bis zum 4. Februar 2018 zeigt die Kunsthalle eine Retrospektive von Anita Rée. Viele unbekannte Werke sind dabei: Ich kannte ihre etwas schwermütigen Frauenbildnisse, aber bestimmt nicht die Fabelwesen - schräge Tiere! Eine Mischung aus Pferden und Windhunden, und mit Tupfen. Und dass diese Frau, die sich mit nicht einmal 50 Jahren das Leben genommen hat, einen Schrank mit umherturnenden Affen bemalt hat, überrascht mich auch. Rée war eine der ersten erfolgreichen Künstlerinnen, zwischen 1904 und 1910 nahm sie Malunterricht bei dem Hamburger Impressionisten Arthur Siebelist, und zwar in Hittfeld - dieser Ort verfolgt mich - danach arbeitete sie in Paris, Süditalien und dann wieder in Hamburg. Die Kunsthalle zeigt ungefähr 200 Werke in thematisch gegliederten Räumen: Die Fabelwesen findet man in "Ferne Paradiese"; im Raum "Herrenporträts und Frauenbilder" (ist dieser Titel etwa unfeministisch?) weisen die Bildnisse in die Neue Sachlichkeit; "Letzte Werke" sind auf Sylt entstanden, wo Rée Aquarelle der kargen Küstenlandschaft mit ein paar einsamen Schafen gemalt hat, aber auch Portraits ihrer guten Freundin, die vor Lachen geradezu zu explodieren scheint. Tolle Ausstellung, unbedingt sehen!

Wer keine Kunst mag und sich trotzdem (warum nur?) in der Kunsthalle wiederfindet, dem sei ein Besuch bei der Tropfsteinmaschine empfohlen. Allen anderen auch.

Religion und Revolution

... oder zumindest Revolutionäres: Das Mädchen Wadjda will den Koran Rezitations-Wettbewerb ihrer Schule gewinnen und mit dem Preisgeld ein grünes Fahrrad kaufen. Dumm nur, dass dies für eine Zehnjährige in Saudi-Arbien nicht so einfach ist. Außerdem lebt sie in einem bigotten Umfeld: Ihr Vater verlässt ihre Mutter, ihre Lehrerin lebt auch nicht gerade fromm, tut aber so, als ob. Wadjda gewinnt den Wettbewerb - weil sie von ihrer Mutter lernt, dass die Rezitation des Korans von Herzen kommen muss. Mustang erzählt die Geschichte von fünf Waisenmädchen, die bei ihrer Großmutter und einem bösen Onkel in einem einsamen türkischen Dorf aufwachsen. Eine verbitterte Nachbarin verbreitet Gerüchte über sie, die Großmutter gerät in Panik und will sie zwangsverheiraten. Es gelingt ihr nicht bei allen - und die einzige Ehe, die glücklich zu werden verspricht, ist die der ältesten Schwester: Sie setzt durch, dass sie den Mann heiraten darf, den sie liebt, mit dem sie schon schläft - und nur im Zusammenhang mit dieser Ehe wird der Name Allahs ausgesprochen, als nämlich die Eltern des geliebten Mannes bei der Großmutter um des Mädchens Hand für ihren Sohn anhalten. Kinshasa Symphony dokumentiert ein klassisches Orchester im Kongo, es gehört zur Kimbanguistenkirche oder steht ihr zunmindest nahe. Der Chef baut mit schier unendlichem Engagement ein Orchester im Kongo auf, zersägt etwa sein eigenes Cello, um nach diesem Muster neue Celli zu bauen. Es gelingt ein wunderbares Konzert. Immer wieder Filme, in denen Religion den Gläubigen Kraft gibt. Und manchmal ganz besonders denen, die ausgetretene Wege verlassen.


Oktober 2017

Elena Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege

Dies Buch hatte ich mit Spannung erwartet, vielleicht zu viel. Ein gutes Buch, ich habe es recht gern gelesen, aber im Vergleich zu den beiden ersten finde ich es doch etwas langweilig: Nino farblos, Elena und Lila oberflächlich. Was in der Politik passiert, hätte mich mehr interessiert als die Fülle von Elenas Gedanken; ihre Selbstzweifel haben mich nicht mehr überzeugt. Aber ihr Durchhaltevermögen, immer wieder mit dem Schreiben neu anzufangen, das hat mir imponiert.

Richard Löwenherz in Speyer

Spannende Sonderausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer: Richard Löwenherz: König - Ritter - Gefangener. Handschriften, Waffen, Kunst, Reliquiare - eigentlich eher wenig Exponate, wenn man es genau betrachtet. Aber viel Multimedia und sehr informativ. Das Museum ist voll, viele Besucher sind da, auch viele Kinder.


So, und ab jetzt mit Datum: September 2017

Ein paar Bücher...

Immer so ein unfertiges Gefühl, wenn ich ein Buch liegen lasse. Aber manchmal mag ich einfach nicht weiter lesen. Die letzten Bücher, die dieses Schicksal ereilt hat, waren Opfer von Cathi Unsworth, Eine Hochzeit im Dezember von Anita Shreve und Schattenboxer von Horst Eckert. Toll war dagegen Tender Bar von J. R. Moehringer. Ein Junge, dessen Vater fast nie auftaucht - "vaterlos" gibt es, warum nicht "vaterarm"? - geht schon als Kind regelmäßig in eine Bar, dort hat er Männer als Gegenüber. Er wächst. Als Erwachsener wird er Journalist und Schriftsteller. Und obwohl er in Yale studierte und mit einer extrem klugen und attraktiven Frau zusammen war - wirklich erwachsen ist er erst dann, als er ein Buch über die Bar schreiben kann. Das Buch ist so liebevoll wie die Männer in der Bar, und das ist nicht ironisch gemeint. Auch toll war Envoyée Spéciale von Jean Echenoz. Ein subtil durchgeknallter Agentenroman über eine Frau, die ständig neben sich zu stehen scheint, und die völlig überraschend von einem abgehalfterten Geheimdienstmann gleichsam eingefangen wird, um, tja, um einen Spezialauftrag zu erfüllen. Zum Schreien komisch!

Fledermaus im Schwimmbad

Das Paracelsusbad in Reinickendorf ist klein, nett, altmodisch. Was macht da eine Fledermaus? Keine Ahnung. Sie krabbelt in der Damendusche über die Fliesen, stracks auf mich zu. Hält sie mich für einen Baum? Zwei Bademeister kommen mit Handtüchern herbei, ganz vorsichtig retten sie das Tier. Besser nicht anfasssen, Fledermäuse können Tollwut übertragen. Bei Füchsen und so ist sie ausgerottet, aber die Flattertiere kann man nicht kontrollieren. War trotzdem ein netter Besuch.

Piepmatz auf dem Fensterbrett

Sommer. Vogelküken werden flügge. Theater bei den Hausrotschwänzen, Spatzen, Turmfalken, Drosseln. Alle sind aufgeregt, denn Fliegen lernen ist nicht einfach. Neulich fliegt eine kleine Amsel auf mein Fensterbrett, sie hat noch ein paar helle Flaumfedern am Kopf und ihr Schwanz ist auch noch nicht so lang wie bei einer erwachsenen Amsel. Nun sitzt sie da draußen und guckt und tschilpt. Ich sitze drinnen und gucke und tschilpe zurück. Plötzlich wendet sie ihren Blick ab, was ist da? Die Mama! Mit einem Käfer im Schnabel. Misstrauisch äugt die Alte durchs Fenster hinein. Die Kleine sperrt ihren Schnabel auf, die Große stopft den Käfer rein. Lecker! Aber nicht genug. Die Mama fliegt wieder weg, die Kleine tschilpt weiter. So eine Nervensäge. Aber was soll man machen. Wieder und wieder kommt die Mama herbeigeflogen und stopft dem verflogenen Nachwuchs den Schnabel. Und der breitet, ohne Vorwarnung, plötzlich die Flügel aus und flattert auf den nächsten Baum.

Lezanne Clannachan, Jellybird

Jessica ist Schmuckdesignerin, glücklich verheiratet. Plötzlich begegnet ihr die aufregende Libby. Jessica wirft sich in diese Freundschaft, und plötzlich passt in ihrem Leben nichts mehr richtig. Dann entdeckt sie auch noch eine alte Postkarte und wird in ihre Vergangenheit zurück gerissen: Was wurde aus ihrer ersten Liebe? Und was stimmt mit Libby nicht? Ich habe den Roman von Lezanne Clannachan verschlungen. Man merkt zwar manchmal, finde ich, dass es ein Erstling ist, gelegentlich sind die Figuren mit ihren Handlungen nicht ganz überzeugend. Trotzdem bleibt es immer spannend. Ich las die 422 Seiten auf Englisch in Nullkommanichts! Ich bin gespannt auf Clannachans nächstes Buch. Nur: War wirklich der Geständige der Mörder? Ich hatte, vor allem am Schluss, jemand anderen in Verdacht. Hm.

Elena Ferrante, Meine geniale Freundin und Die Geschichte eines neuen Namens

Zwei Freundinnen. Erst Kinder, dann Jugendliche, schließlich Erwachsene. Eine Beziehung voll Verständnis und Unterstützung einerseits, Rivalität andererseits. Freundschaft ist ein Thema, das mich in vielen Büchern interessiert. Wenn ich ein Buch lese, kommt es vor, dass ich es unter diesem Aspekt lese, auch wenn es gar nicht das eigentliche Thema ist, wie zum Beispiel bei Harry Potter. Aber, man sollte es nicht glauben, aber ganz offensichtlich ist diese von Ferrantes erdichtete Freundschaft zwischen zwei Mädchen ein Thema, welches die ganze lesende Welt fesselt. Zwei Themen, für die man doch keine weltweite Begeisterung erwarten würde! Freundschaft! Mädchen! Und das geschieht nicht zum ersten Mal: Hatte nicht Stephen King über Carrie gesagt, ach, wen interessierten schon die Menstruationsprobleme eines jungen Mädchens?, und dann wurde es doch ein Bestseller. Vive la femme!

Cranach in Düsseldorf

April bis Juli 2017, die Cranach-Ausstellung in Düsseldorf "Meister - Marke - Moderne" war toll. Super. Aber wie war das mit dem Lapuslazuli? Laut dem Dokumentarfilm hat der Künstler in Antwerpen einige Gramm gekauft, laut Texttafel hat er nach einer Reise dahin damit gemalt, was nahelege, dass er dort gekauft hat. Jau, wie sicher isses denn nun? Aber egal, das ist eine Nebensächlichkeit. Und die Texte lohnen sich auch, wer weiß schon, dass Luther und Cranach einander gegenseitig zu Taufpaten ihrer Kinder eingesetzt hatten?! Und wie wichtig Cranach als Maler der Reformation gewesen war?! Und, ganz wichtig: Der Spanische Mandelkuchen im Museumscafé ist göttlich... (Nachtrag)

RAF in Essen

Juni bis August 2017, man muss schlucken bei der Foto-Ausstellung Arwed Messmer. RAF - No Evicence / Kein Beweis mit über 150 Fotos. Jeder kennt die Fotos von Schleyer mit dem Plakat, vom sterbenden Benno Ohnesorg, die Fahndungsplakate. In dieser Ausstellung werden mehr Fotos gezeigt und mit anderen Bildausschnitten. Danach fragte ich mich: Was sehe ich, was weiß ich eigentlich? - Bemerkenswerte Folge einer Ausstellung! (Nachtrag)

Lynn Povich, The Good Girls Revolt

Großartig! Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek hat eine lange Tradition, es wurde schon in den 1930er Jahren gegründet. Es hat aber auch eine lange Tradition in der Benachteiligung von Frauen! In den 1960ern bekamen Bewerberinnen zu hören: Wenn Sie schreiben wollen, dann gehen Sie woanders hin. Bei der Wochenzeitschrift durften sie "nur" recherchieren, und, natürlich, den Männern zuarbeiten. Lynn Povich beschreibt, wie sie mit einer Gruppe Mitarbeiterinnen Klage erhoben - und gewonnen hat. Bemerkenswert auch, wie unterschiedlich die Folgen für die einzelnen Frauen waren. Nicht alle wurden damit glücklich, und sie haben auch nicht alle profitiert. Wer in der ersten Reihe steht, kann oft die Früchte seines Tuns nicht ernten. Bei Newsweek hat sich viel geändert, und zwar zum Guten - aber, so erzählt der Prolog: Noch heute werden Frauen bei Newsweek benachteiligt. Es bleibt viel zu tun. Äußerst spannend!

Amsterdam

Hören
Sonntag abend, Concertgebouw, von kurzen Hosen bis zum schickem Kleid ist alles da. Ronald Brautigam am Klavier und die Kölner Akademie unter der Leitung von Michael Alexander Willens spielen Mozart und Beethoven. Brautigam spielt perlend, aber er könnte manchmal eine Fermate setzen. Oder der Dirigent. Außerdem haben die Hörner manchmal das Klavier übertönt. Aber das lag vielleicht daran, dass historische Instrumente eine andere Akustik haben. Und vielleicht auch am Sitzplatz HINTER dem Orchester. Egal, wann kann man schon dem Pianisten auf die Finger und dem Dirigenten ins Gesicht gucken? Und Mozart und, noch seltener, Beethoven auf historischen Instrumenten genießen? Hat sich in jedem Fall gelohnt!
Sehen
Das Reichsmuseum zeigt niederländische (Kunst-)Geschichte vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Zu einigen Bildern (ungefähr eines pro Raum) gibt es DinA4-Zettel mit Erklärungen auf Niederländisch und Englisch, "see more" steht auf der einen Seite, dort ist das Bild noch einmal abgebildet, einige Details sind hervorgehoben und werden erklärt. Auf der Rückseite, "learn more", werden historische und politische Hintergründe erläutert. Toll und spannend, und man guckt viel genauer hin.
Das Van Gogh Museum hat die größte Sammlung von Werken Vincent van Goghs, darunter "Meisterwerke wie 'Die Kartoffelesser', die 'Sonnenblumen', die 'Mandelblüten' und 'Der Sämann'", heißt es auf der Website des Museums. Die Kartoffelesser haben mir nicht gefallen, zu düster, außerdem mag ich Kartoffeln nicht so gern, und warum wollte van Gogh eigentlich aufs Land? Ich verstehe nicht, was ihn am Landleben faszinierte. Ich bin da groß geworden und muss es wissen: stinklangweilig! Die Landschaft in der Sonne, ok, aber mir ist jedes bisschen Gartenarbeit zu viel. Vielleicht mag ich deswegen van Gogh und seine Sonnenblumen so gern? Sonnenblumen machen keine Arbeit, und billig sind sie auch. Als mein Eltern (Jahrgang 1922 bzw. 1923) nach dem Krieg die erste gemeinsame Wohnung hatten, säte meine Mutter Sonnenblumenkerne in die Blumentöpfe auf dem Balkon, weil sie für anderes kein Geld hatte.
Im Rembrandthaus hat Rembrandt Jahrzehnte lang gelebt. Es wurde zum Teil originalgetreu rekonstruiert, soweit man das wissen kann, und wenn man die Betten anguckt, fragt man sich, ob die Menschen damals winzig waren oder ob sie zusammengefaltet wurden, bevor sie sich schlafen legten. Rembrandt hatte viele Schüler, einige konnten bei ihm arbeiten, ganz oben im Haus wurden Kabinen mit einer Art Spanischen Wand abgeteilt, so hatten sie ein bisschen Ruhe. Ausgestellt werden Radierungen und Stiche, wunderbar.
Lesen
American Book Center, ein Riesengeschäft mit amerikanischen Büchern: Gut sortiert und tolle Auswahl! Massenweise Krimis, Bücher über Musiker, schräge Outdoorbücher, Bücher über das Bücherschreiben, Autobiografien und Biografien, Wissenschaft... kurz: alles, was das Herz begehrt. Man kann hier Stunden verbringen! Familienbetrieb. Freundliche Leute. Irgendjemand packt im 2. OG einen Haufen Bücher in seinen Rucksack. Ich sehe es nicht, es wird mir nur erzählt. Bescheid sagen? Dabei bekommen Menschen 55+ Montags 50 Prozent Rabatt!!! Ich muss noch etwas warten, hab trotzdem eingekauft, wenn auch nicht so reichlich, wie ich es gewünscht hätte - wer hat schon ein Portemonnaie, dick genug für alle Bücher, die er will? Autoren ohne Verlag können hier übrigens ihre eigenen Bücher machen, dank Betty!
Bewegen
Fahrrad leihen (5 bis 10 Euro pro Tag) und glücklich sein! Die Holländer sind alle schlank, was Wunder, Autos sieht man selten, jeder radelt auf seinem Omafiets.

Endgültig von Andreas Pflüger

Wie Blinde sich mit ihrem Gehör, per Klicksonar, zurecht finden, wollte ich wissen, seit ich vor ein paar Jahren eine Reportage im Stern (oder so) las. Andreas Pflüger hat mit "Endgültig" einen Krimi über eine erblindete Ermittlerin geschrieben, die das und noch viel mehr in Perfektion beherrscht. Eine Art Lara Croft: Jenny Aaron war bei einer Sondereinheit der Polizei gewesen. Ein Einsatz endete in einer Katastrophe, sie verlor ihr Augenlicht. Sie lernte alles neu und noch mehr dazu und wurde Vernehmungsspezialistin beim BKA. Nun geht sie einem scheinbar neuen Fall nach und es stellt sich heraus, dass er mit der Katastrophe von damals verwoben ist. Sie muss erspüren, wer Freund ist, wer Feind und braucht all ihre Fähigkeiten. Wurde bei den Stuttgarter Kriminächten 2017 vorgestellt und ist sehr, sehr spannend!

Le rapport de Brodeck von Philippe Claudel

Brodeck ist nichts, oder wie nichts, "je n´y suis pour rien", so stellt er sich vor im Roman von Philippe Claudel. Er lebt in einem abgelegenen Dorf, wohl im Elsass, vielleicht auch Osteuropa, er kam als Kind mit seiner Amme dorthin. Er war klug, die Dörfler ermöglichten ihm ein Studium in der Stadt, jede Woche sammelten sie für ihn, aber denn kommt der Krieg und verjagt Brodeck. In der Stadt hatte er die Liebe seines Lebens gefunden, sie gehen zusammen ins Dorf. Aber der Krieg lässt ihn auch dort nicht in Ruhe, Soldaten kommen, fragen nach Fremden, er wird denunziert und ins KZ verschleppt. Während er fort ist, vergewaltigen und schwängern Soldaten und Dörfler seine Frau, als die drei junge Frauen vor ihnen retten will. Als Brodeck zurückkehrt, liebt er das dadurch entstandene kleine Mädchen dennoch. Aber seine Frau ist nie mehr dieselbe. Ein geheimnisvoller Fremder lässte sich im Dorf nieder. Er ist wohl genährt und trägt wertvolle Kleidung, hat wertvolle Pfanzenbestimmungsbücher und redet nur mit seinem Pferd und seinem Esel. Eines Tages veranstaltet er ein Fest und lädt die Dörfler ein. Da schenkt er ihnen Zeichnungen, er hatte sie heimlich portraitiert. Dabei hat er ihr Innerstes so genau getroffen, dass sie ihn von nun an hassen und fürchten. Erst ersäufen sie seine Tiere. Von da an klagt der Fremde jede Nacht "assassins ... assassins!", "Mörder ... Mörder!" Schließlich erstechen sie auch ihn, die Männer des Dorfes, alle gemeinsam. Außer Brodeck. Dieser gerät zufällig an den Schauplatz des Verbrechens. Und die Dörfler beauftragen ihn, einen Bericht darüber zu schreiben: Er könne mit Worten umgehen, er habe eine Schreibmaschine. Er schreibt. Er schreibt die Geschichte des Fremden. Aber er schreibt auch seine eigene Geschichte. Die Dörfler nerven ihn. Er, ab und zu, wehrt sich. Schließlich ist er fertig.Der Bürgermeister liest den Bericht - und vernichtet ihn. Brodeck ist anders und wird dafür immer wieder ausgestoßen und verraten. Aber dabei bleibt es nicht: Er flieht. Brodek, der oft so schwach schien, nimmt im Schutz der Dunkelheit seine Frau, das kleine Mädchen und die alte Amme und trägt sie davon. Nur ein Hund läuft ihnen eine Zeitlang voraus. Am Schluss schreibt er noch einmal: Er sei ein Nichts. "Bitte, erinnert Euch."
Er ist kein Nichts geblieben.

Madrid

Herrlich. Großartige Museen, freundliche Menschen, eine schöne Stadt, ein bisschen wie Paris, aber auch härter und klarer.  Prado, herrlich. Museum Königin Sofia, großartig. Museum Thyssen-Bornemisza, wunderbar.

Stühle im Theater: Moliere in der Volksbühne ist unbequem

Volksbühne, Molière, bei der Gelegenheit Glückwunsch an den König für den Silbernen Bären. Warum eigentlich sind die Sitzflächen der Stühle in der Volksbühne so hart? Und warum biegen sich die Lehnen so unheimlich weit nach hinten? Hat schon mal jemand beim Zurücklehnen seine Stuhllehne abgebrochen? 5 1/4 Stunden Casdorf sind echt anstrengend, wenn man sich nicht getraut, sich zurückzulehnen. War aber trotzdem toll.

Krimis, Nicht-Krimis

Alle Krimis ausgelesen. Was nun? Noch mal Mankell. Und wieder grübeln: Mag ich den nun oder mag ich den nicht? Eigentlich ist ja grad Le Rapport de M. Brodeck von Philippe Claudel dran. Vor ein paar Monaten vom selben Autor Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, übersetzt von Christiane Seiler. Das war rührend und traurig und schön. Brodeck ist mir noch ein Rätsel.

Wichtiges Thema, nervige Ausstellung: Das DHM über Kolonialismus

Noch bis zum 17. Mai 2017 läuft im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Die Ausstellung will "die koloniale Ideologie offen [legen], die von einem europäischen Überlegenheitsdenken geprägt war." Texte gibt es in deutscher und englischer Sprache, und "die Hauptinformationen" auch in Braille, in Leichter Sprache sowie als Gebärdenvideo.
Aber: Die koloniale Ideologie nicht nur offengelegt, sondern ihre Abscheulichkeit wird dem Besucher mit dem Holzhammer eingetrichtert. Das gilt vor allem für viele Informationen in Leichter Sprache: Forscher haben in den Kolonion Tiere und Pflanzen benannt, heißt es in der Ausstellung. Und weil in Europa alle Pflanzen und Tiere lateinische Namen haben, bekamen auch jene, die sie in den Kolonien fanden, lateinische Namen. "Die Forscher fragten die Menschen in den Kolonien nicht, wie die Tiere oder Pflanzen dort hießen."
- Ach nee, echt nicht? Woher wollt Ihr das wissen? "Die neuen Namen kamen auch von deutschen Männern." Was heißt das: Dass deutsche Männer lateinische Namen verteilt haben? Oder dass es sich bei den lateinischen Namen um latinisierte Namen deutscher Männer handelte? - Beide Male frage ich: Na und? Auch in Deutschland lebende Tiere und Pflanzen haben lateinische Namen, die erstens jünger als viele volkstümliche Bezeichnungen sind und zweitens oft den Namen des Wissenschaftlers beinhalten, der sie klassifiziert und sein Forschungsergebnis öffentlich gemacht hat. Beim Thema "Rassismus" heißt es "Noch immer denken einige Deutsche: Weiße Menschen sind besser als Schwarze Menschen." - Denken schwarze Deutsche das auch? Und denken nicht-deutsche Weiße das nicht? Schreibt doch: "Noch immer denken einige Weiße ..." Der Ethnologe Otto Finsch wird zitiert, der Einheimischen Gesichtsmasken abnahm und sich wunderte, dass diese, "sogenannte Wilde, von deren Sprache ich auch nicht ein Wort verstand", sich dieses hätten gefallen lassen. Die Ausstellungsmacher bezeichnen Finschs Sicht als abschätzig, aber warum denn bloß? Das Nicht-Verstehen setzt er auf seine Seite; er nennt sie "sogenannte" Wilde.
Also: nervig. Aber trotzdem interessant.

Pilgern: Gute Ausstellung in Köln

Ich? Bin noch nie gepilgert, was Wunder, aber andere Leute pilgern. Und zwar ganz schön viele: Millionen Menschen jedes Jahr. Kostet sie Zeit, Geld Nerven. Aber sie suchen - und viele finden - einen Sinn, wofür auch immer, Erlösung von Sünde und Schuld, Heilung von Krankheit und Gebrechen. Eine Ausstellung in Köln lässt Pilgerer zu Wort kommen und stellt 14 Pilgerorte vor, aus den großen Weltreligionen und unterschiedlichen Erdteilen. Pilgern, nicht nur zur Transzendenz, sondern in Wechselwirkung mit Politik und Wirtschaft, Ökologie und Tourismus. Anstrengende Ausstellung, interessant, gibt viel zu lesen: Man kann locker drei Stunden einplanen. Zum Glück hat das Museum ein Café. Darin kann man nach dem Gucken herumsitzen und nachdenken. Rautenstrauch-Joest-Museum - Kulturen der Welt.

U-Bahn

Jeder guckt aufs Handy. Keiner flirtet, kifft, schlägt, tritt oder so. Nein, nur Handy gucken. Sehr beruhigend. Wie ein Schlafmittel für die Öffentlichkeit.

Januarwetter

Radfahren geht nicht, wenn man so ein Schisser ist. Bestimmt wirds gleich glatt, gleich, sofort, jetzt, sobald ich auf dem Rad sitze und los radele. Dann fällt Schnee, rinnt Regen, gefriert Nässe. Der Radweg ein Spiegel, auf dem ich liege, mit blutigem Ellenbogen und blauen Hüften. Aua.

Arbeiten

Morgens früh raus. Vor den Haustüren stehen die Tagelöhner und frieren. Sie warten auf die Lieferwagen, die sie abholen. Zur Arbeit. Was zahlen sie wohl für ihre Wohnungen? Wie viele Männer teilen sich ein Zimmer? Mit Kohleofen? Nicht schön.

Familienunternehmen

Ein Kaufmann erzählt einem anderen Kaufmann von einem polnischen Unternehmer. In dessen Unternehmen ist jeder mit jedem verwandt. Ist wohl so bei den Polen. Glaubt der Kaufmann. Er sagt: Der Onkel sitzt so da und ... macht so. Aha.

Vortrag halten

Am 12. Januar habe ich im Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen in Lüdenscheid einen Vortrag gehalten: "Mein Großvater, der Antisemit – die Geschichte des Predigers und Kirchenfunktionärs Friedrich Heitmüller (1888-1965)".

Neven du-Mont und Neven-DuMont

Die Familie Neven-DuMont hat im Jahr 2010 manch eine Schlagzeile gemacht. Ist Konstantin eigentlich mit Dietlind verwandt? Also Neven-DuMont mit Neven du-Mont? Dietlind hat nämlich "Das Getüm" und "Ein Getüm kommt selten allein" geschrieben. Und dieses Getüm zerpflückt immer Zeitungen. Außerdem ist die mit Abstand unsympatischste Figur ein aufdringlicher Paparazzo namens Enrico Buzzi. Aber der wird am Schluss nett und schreibt dann nur noch Bücher über Katzen. So eine gewisse Distanz gegenüber Zeitungen... Lässt doch eine Verwandtschaft vermuten, oder? Aber nur vermuten, denn im Redaktionsarchiv MDS findet sich leider nichts dazu.

Briefkästen sprengen

Jugendliche haben Ende Dezember einen Briefkasten in die Luft gesprengt. In Neukölln. Dies fand sogar in Flensburger Medien Erwähnung. In niedersächsischen Dörfern kam dies jedes Silvester vor, ohne dass sich jemand dafür interessiert hätte. Abgesehen natürlich von den Leidtragenden wie etwa dieser Autorin, deren Briefe auch mal explodiert sind.

Die Russen kommen

Guck in die Statistik meiner Homepage. Jeden Monat kommen mich ein paar Hundert Russen besuchen. Warum nur? Egal: Straswutje! Ach, falls jemand dabei ist, der ein Rezept für Blini oder Borschtsch oder beides weiß: info (at) ulrike-heitmueller.de nimmt sachdienliche Hinweise begeistert entgegen!

Wiegenlied

"Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe beide Äuglein zu.
Vater, lass die Augen dein
über meinem Bette sein."
Steht in der Zeit.
Kenn ich, hat meine Mutter früher immer mit mir gebetet, als ich noch klein war. Ich hab mir dann vorgestellt, Gott legt sein Auge auf das Bücherregal über dem Bett. Schließlich hatte der Nachbar mir erzählt: Als er selber klein war, hat sein Vater ein Glasauge auf den Tisch gelegt, wenn er weg musste. Mein Nachbar sollte dann brav sein, denn das Auge würde alles sehen. Das Auge sah aber nix, denn der Junge legte ein Tuch drüber.

Weihnachten

Bald ist Weihnachten. Beim Schlecker in der Hermannstraße sucht eine Frau nach Kaffee aus dem Angebot. "Alles weg", sagt die Verkäuferin, "die Leute ham keen Geld für teure Geschenke. Dann kaufen sie zwei Kaffee, schön einwickeln, nen billichen Weihnachtsmann drauf, sieht immer nobel aus."

Ramadan

Ramadan hat angefangen. Nun kann ich nicht mehr arbeiten. Sind denn alle Leute um mich herum Moslems? - Am späten Nachmittag gehts los: Da wird gekocht, auf dass man nach dem Fastenbrechen gut essen kann. Die Männer rauchen, die Frauen lachen, das Fleisch brutzelt. Die Düfte und Geräusche ziehen durchs Haus und durch den Garten, sie werden hierhin und dahin geweht. Schweben in mein Arbeitszimmer, alle her zu mir, in meine Nase, in mein Hirn, benebeln meine Sinne. Ich sehe nur noch Köfte und Börek, und alle klugen Gedanken, die ich jemals zu Freikirchen, Governance-Analysen oder Hells Angels gehabt hatte: Sie sind weg.

Versumpft

Kann man im Moor versinken? - Wollt ich schon immer mal wissen, sicher bin ich mir bloß, dass es im Moor Irrlicher und Geister und Leichen gibt. Aber versinken? Am 21. Juni 1999 frage ich die ZEIT, wissendes Wochenmagzin aus der Freien und Hansestadt Hamburg. Da bin ich übrigens geboren. Der Redakteur überlegt zehn Jahre. Als er fertig ist, schreibt er: Nein, man kann nicht im Moor versinken! - Da bin ich doch froh. Nur ein ZEIT-Leser nicht. Er ruft mich an und ist empört: Kann man doch, versinken im Moor! Wäre ihm fast mal passiert! - Ist ihm aber nicht passiert, oder? Hat der Redakteur wohl doch Recht. Hat ja auch lang genug nachgedacht.

Ordnungsamt

Joggen im Park. Eine Frau schreit. Spaß? Ernst? Vor mir ein Mann und eine Frau vom Ordnungsamt, mit Hund. Ich spreche sie an: Sie haben nichts gehört. Tja, fliegt auch grad ein Hubschrauber über uns weg. Ich bestehe darauf, dass sie nach dem Rechten schauen. Sie trotten davon. Bei der nächsten Runde treffe ich sie wieder. Wars ernst? Nein - sie hätten nichts gefunden - und ich möge doch bitte beim nächsten Mal selber schauen! Zoff.

Termine: Radio und Bar

Am Freitag, 12. Dezember, erzähle ich zwischen 17 und 18 Uhr auf MotorFM (100,6) irgendwas aus meinem interessanten Leben, und um 21 Uhr lese ich im Froschkönig (Weisestraße 17) eine Geschichte vor.

Texte verwerten

Neulich bring ich den Jungs, den palästinensischen Drogenhändlern, ihren Artikel. Gehört sich so: Sie müssen ja schließlich wissen, was ich über sie in Spiegel Online geschrieben hab. Sie werfen einen skeptischen Blick auf die Überschriften: Warum lassen sich arabische Dealer leichter erwischen? Kurzes Palaver. Schließlich reißen sie sich ein paar Schnipsel ab: Blättchen, und drehen sich daraus einen Joint. So was - ich hab gedacht, die rahmen sich das ein!

Männer im Baum

Vor meinem Fenster wird ein großer Baum beschnitten. Dicht unterm Himmel sitzen fest gebunden zwei Männer, so hoch, dass ich nur noch ihre Seile sehe. Ab und zu segelt ein Zweig, fällt ein Ast an mir vorbei, den ich dann auf den Boden krachen höre. Nun gleitet an einer Schnur ruckelnd ein langer Stab empor. Vorn dran ist eine säbelförmige Säge befestigt. Sie macht auch den entferntesten Trieben den Garaus.

Rocker am Sonntag

Neukölln ist Rocker-Treffpunkt. An jeder Ecke sitzen sie und trinken Kaffee, im gesamten Kiez stolpert man über Harleys. - Am Wochenende renoviert meine Freundin ihre Wohnung. Dritter Stock, Fußboden schleifen. Es klingelt. Vor der Tür hat sich ein Rocker aufgebaut. Er wohnt im vierten Stock: Heute ist Sonntag! Da ist Fußbodenschleifen verboten! Schluss jetzt, oder ich hol die Polizei! - Auch Rocker brauchen ihre Sonntagsruhe.

Mutter mit Kopftuch - Tochter boxt

Deutsche Meisterschaften der Amateurboxerinnen. Tribüne, erste Reihe: eine Türkin mit Kopftuch. Im Ring: eine Türkin ohne Kopftuch. Sie kämpft und gewinnt: Deutsche Meisterin. Da flitzt ein Schnauzbartträger über die Tribüne, zwängt sich durch die Brüstung und hüpft von der Tribüne, die Frau mit Kopftuch hinterher. Beide rennen zur Boxerin, umarmen und küssen sie: stolze Eltern.

Jagender Apotheker

Brauch ne Bürste. Mit Wildschweinborsten. Macht schönes Haar. Wo kaufen? In Wilmersdorf in jedem Laden, in Neukölln ... nirgendwo. Mal in der Apotheke gucken. Der Apotheker, klein, schnauzbärtig, türkisch: "Ham wa nich. Hab aber Wildschweine im Garten. Soll ich ihnen eins schießen?"

Nächtliches Würfelspiel

Im Sommer, eines nachts, es ist lau. Ich wache auf. Irgendwas ist im Hof. Es macht "klickerickerickerick, klackeklackeklack ... plopp". Dann leises Palaver in fremder Sprache. Und wieder: "klickelickelick ... plopp", wieder leise arabische Männerstimmen. Was ist da los??? - Tags ist es zu heiß, darum treffen sich die Neuköllner Araber nachts. Zum Schischa-Rauchen und reden. Und würfeln. Alle in meinem Hinterhof.