September 2024Auftritt Schweiz! BüchersalonAm 2. September lud die Botschafterin der Schweiz in Deutschland Livia Leu gemeinsam mit dem Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zum "Auftritt-Schweiz"-Büchersalon in ihre Berliner Residenz. Schweizer Verlage präsentierten ihre Herbst-Programme aus den Programmbereichen Belletristik, Sachbuch, politisches Buch sowie dem Kinder- und Jugendbuch: AT Verlag / Atlantis / Der gesunde Menschenversand / Diogenes / Dörlemann / Edition Bücherlese / Edition Königstuhl / Edition Moderne / Geparden Verlag / gta / Helvetiq / Ink Press / Kampa Verlag / Kommode Verlag / Limmat Verlag / Nagel & Kimche / NordSüd Verlag / Rotpunktverlag / Scheidegger & Spiess / Schwabe Verlag / Zytglogge Verlag / Unionsverlag / Verlage der Lesestoff-Gruppe. Außerdem wurden drei Bücher präsentiert: das Kinderbuch "Julian und Birke" von Lorenz Langenegger (Atlantis), "oder?"» von Judith Keller (Der gesunde Menschenversand) sowie "Klimatopf" von Franziska Stöckli (AT Verlag). Die Schweiz hat einen sehr gelungenen Auftritt hingelegt; versorgt wurden die Besucher nach Rezepten aus dem Kochbuch Klimatopf (sehr gut); "Julian und Birke" habe ich gleich gelesen und "oder?" werde ich mir noch besorgen, der hintergründige Humor der Autorin und ihre feine Beobachtungsgabe haben mich überzeugt. Und die Residenz der Schweizer Botschafterin hat mich wirklich begeistert, allein das Gebäude war den Besuch wert. Man darf hoffen, dass diese Veranstaltung auch weiterhin dort stattfindet! Neue KrimisThomas Knüwer: Das Haus, in dem Gudelia stirbt. 2024: Eine schwere Unwetterfront tobt über Deutschland. Die Bewohner von Gudelias Dorf werden evakuiert. Nur die alte Gudelia versteckt sich in ihrem Haus. 1984: Gudelias Mann Heinz kommt spät in der Nacht betrunken nach Hause. Gudelia schreckt hoch und merkt: Ihr Sohn ist noch nicht zuhause. Sie macht sich auf die Suche. 1998: Gudelias Mann ist verzweifelt und trinkt nur noch. Sie sagt, sie will ihn von Schuld und Schulden befreien, dafür soll er ihr das Haus überschreiben. Thomas Knüwer hat in seinem grandiosen Erstling (?) mit Gudelia eine sehr ambivalente Figur erschaffen, ein Musterbeispiel katholischer Bigotterie, eine Mischung aus Weichheit und unglaublicher Härte. Gute Sprache: "Betrunkenes Lügen ist niedlich. Wie ein dreibeiniger Hund. Irgendwie süß, vor allem aber traurig." (22) Gudelia geht durch mehrere Höllen: Wegen ihres Sohnes. Dann wegen ihres Mannes, denn die Ehe mit einem Alkoholiker ist die Hölle, selbst wenn er nicht gewalttätig wird. Aber ihre Chuzpe und die, nun ja, hinterfotzige Art ihres Glaubens geben ihr die Kraft. Knüwer folgt seiner Protagonistin, man folgt ihren Gedanken, und man hat Mitgefühl - trotz allem. Toll. Karina Urbach: Das Haus am Gordon Place. Professor Hunt will in die USA einreisen, wird aber noch am Flugplatz in New York festgenommen. In seiner Arrestzelle bekommt er Besuch von Emma Spencer. Und die weiß viel über ihn. Unter anderem überrascht sie ihn mit der Nachricht, dass in seiner Wohnung eine Leiche gefunden wurde. Hunt ist Historiker, und Spencer will zusammen mit ihm herausfinden, wer warum von wem ermordet wurde. Seine Neugier wird geweckt und ihre Recherche führt sie in die Nachkriegszeit in Wien, in das frühere Leben von Hunts früherer Freundin und in ihre Kreise, in eine Welt von Vertrauen und Verrat. Und führt sie auch in die Geschichte von Hunts Wohnung, die nämlich früher der MI6-Agentin Daphne Parson gehört hat. Urbach erzählt in zwei Zeiten und Orten: Im Jahr 2024 geschieht in London ein Mord, Hunt und Spencer versuchen, ihn aufzuklären. Im Jahr 1948 arbeiten britische Agenten in einem Abhörtunnel unter dem geteilten Wien und versuchen, in den sowjetischen Sektor zu gelangen. Ach, und einmal geht es noch ins Jahr 1990, aber erst am Schluss. Die Schlüsselfiguren sind Professor Hunt und Daphne Parson, die der authentischen MI6-Agentin Daphne Park (1921-2010), später Baroness Park of Monmouth, nachempfunden ist und die Urbach bei einer wissenschaftlichen Konferenz über Nachrichtendienste kennengelernt hat. Urbach erzählt spannend aus der Gegenwart und der Vergangenheit, man fiebert mit; und die Verbindung der Personen über ein altes Haus ist wirklich genial. Sehr gut. Jakob Nolte: Die Frau mit den vier Armen. Eine Kommissarin findet eine Leiche. Ein junger Mann, wie drapiert, im Park am Ufer der Ihme. Aitzinger übernimmt den Fall zusammen mit ihrem Kollegen Ilia Schuster; sie recherchieren offline und online, in der Oper und einer ollen Kneipe. Nichts passt zum anderen, nur - es stellt sich heraus, dss mehrere Todesfälle zueinander passen. Das Buch wirkt wie der Teil einer Krimiserie um die Kommissarin Rita Aitzinger (Verweis auf einen älteren Fall), aber Nolte führt den Leser an der Nase herum. Das tut er nicht nur damit: Immer wieder liest man Szenen etwa einer Polizeipressekonferenz (116ff), Beschreibungen wie das des Polizeigebäudes (25f), Unterhaltungen der Polizisten untereinander, die fast noch schräge, aber eigentlich absurd sind; Nolte macht sich sehr sanft über alles und jeden lustig; vom Yoga (auch wenn die Kommissarin es macht, 9f) bis zum Gendern (27f) und, wie gesagt, am meisten über den Leser. Mit der Sprache ("die Musik, die über eine Bluetooth-Box lief, die aussah wie eine aufgeschnittene Melone und in einer Holzschale für Obst und Gemüse lag, stimmte Rita wohlgesinnt" (32)), mit der Handlung (die Kommissarin zieht ständig Schlussfolgerungen, die korrekt sind, aber für die sie gar keine Begründung hat). Und, o je, "Seevetal" kommt vor (19), da bin ich groß geworden (nicht gut). Nolte ist vielleicht mal etwas, aber nur ein bisschen, arrogant (bei F-Dur weinen (105)??? F-Dur ist KEINE traurige Tonart, das ist aber Insiderwissen), aber vor allem ist er sehr unterhaltend. Selten hat es so viel Spaß gemacht, und war auch noch so spannend, an der Nase herumgeführt zu werden. Sehr gut. Michaela Kastel: Verirrt. "Sie" ist Fee oder Felizitas. Sie schnappt sich ihre 9jährige Tochter und flüchtet mit ihr vor ihrem Mann zu ihrer Mutter. Zu der sie aber schon viele Jahre keinen Kontakt mehr hatte. Die Mutter lebt in einer einsamen Hütte im Wald und ist im nächsten Ort als Käuterfrau bekannt und beliebt. Fee aber bekommt bald Alpträume, oder sind es Backflashes und Erinnerungen? - Ein Monster mit einem Schürhaken, Geräusche in der Wand, eine Höhle ... Dann taucht ein Mann auf, er lebt im Forsthaus - oder in einer selbstgezimmerten Hütte? Kastel breitet die Handlung aus wechselnden Perspektiven aus: Meistens erzählt "Sie", manchmal auch "er", "es" oder "wir" - und die wechselnden Perspektiven, die man nicht gleich einer Person zuordnen kann, und die man vielleicht sogar falsch zuordnet, geben der Ganzen einen spannenden Dreh. Außerdem zweifelt man gelegentlich an der Zuverlässigkeit der Haupterzählerin Felizitas. Sie und ihre Tochter bemerken Dinge, bei denen man sich fragt, ob sie real sind oder Träume. Der Plot ist spannend, aber nicht wirklich ganz glaubwürdig, erstens würde man in der heutigen Zeit erwarten, dass Felizitas nicht gerade zu dieser Mutter, sondern in ein Frauenhaus flüchtet - wenn man aber so "argumentierte", dass sie wegen ihrer Mutterbeziehung auf ihren Mann hereinfallen konnte, wäre das glaubwürdig; aber diese Linie ist nicht herausgearbeitet. Außerdem ein paar Kleinigkeiten: Warum hat die Szene S. 20f keine Folgen? Der Aufenthalt im Haus der Mutter ist auch etwas zäh; man ahnt recht bald, was da los ist. Eine Kürzung um 50 bis 100 Seiten hätte dem Buch gut getan. Zwar ist das Buch nicht so spannend und so originell wie "Unsterblich" von derselben Autorin, dennoch ist es spannend. Ganz gut. Jochen Brunow: Die Chinesin. Ex-Polizist Gerhard Beckmann lebt auf Sardinien und hat Rückenschmerzen. Die Chinesin Xia ist eine der Tagelöhnerinnen, die am Strand ihre Dienste anbieten: offensichtlich eine Spezialistin für Akupressur. Und sie rettet Beckmann das Leben. Er will sich bedanken, sucht sie und wird Zeuge eines brutalen Überfalls, geht der Sache nach und findet ein kaum zu durchdringendes Netzwerk aus Menschenhandel, Drogenhandel (197), vielleicht auch Wirtschaftsspionage und politischem Lobbyismus ... Mussolini soll Sardinien seinen "nicht zu versenkenden Flugzeugtäger im Mittelmeer" genannt haben (198): Die Insel hat strategisches Gewicht bei einer Auseinandersetzung - und bei einer langsamen, fast unsichtbaren wachsenden Infiltrierung und Einflussnahme durch China, wie ein britischer Geheimdienstler den widerwilligen Beckmann zu überzeugen versucht. Allerdings ist dieser Geheimdienstler ein richtiger Widerling, so versucht er Beckmann, seit wenigen Jahren trocken, zum Trinken zu überreden (262) und Beckmann fragt sich, ob er nicht selbst in irgendwelche Strategiespielchen hineingezogen werden soll (200). Interessantes Thema: Der wachsende Einfluss Chinas im Globalen Süden und Westen; Jochen Brunow erzählt es mit einem Krimi, der auf Sardinien und in Berlin spielt. Schnelle Lösungen bietet er nicht, nicht mal eine schnelle Auflösung; der Leser muss ich damit abfinden, dass nicht alle Fragen beantwortet werden, aber Brunow lässt ihn vieles erahnen. Interessnte Einzelheiten: Das Dong Xuan Center in Lichtenberg begegnet mir nun schon das zweite Mal in einem Krimi - vielleicht sollte man das mal besichtigen? Einige Hintergrundinformationen über Triaden. Nur wenig zu mäkeln: Rütteln Rote Milane (169) - oder tun das nur Falken und Bussarde? Die Szenen S. 201ff und 254ff kommen aus heiterem Himmel und sind weder wirklich glaubwürdig noch notwendig für die Handlung. Und Brunow nennt viele Orte beim Namen, bis zum Hamburger Nobelitaliener Cuneo´s - nur die "Buchhandlung seines Vertrauens" (279) nicht: jammerschade! Im Großen und Ganzen sehr spannend, besonders die erste Hälfte, danach fällt es etwas ab. Ganz gut. August 2024Neue KrimisFriedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel. Viola Ahorn engagiert den Privatdetektiv Tabor Süden, weil ihr Mann verschwunden ist. Er war ein Säufer, pumpte seine Saufkumpanen um Geld an, wollte aus seinem unrentablen Kiosk ein Café machen - und dann ist er plötzlich weg. Sie war ihm in einer Art Hassliebe verbunden und verschweigt dem Detektiv ein paar Details; zur Polizei will sie auf keinen Fall. Tabor Süden recherchiert; trinkt mit den Saufkumpanen, befragt die Ehefrau. Die flüchtet sich manchmal zu einer guten Freundin, und diese schleppt sie schließlich zur Polizei. Dann nimmt der "Vermisstenfall" plötzlich eine ganz andere Wendung. Außerdem taucht bei einem der Saufkumpane ein Halbbruder mit eigenen Plänen auf. Ani lässt den Leser seinem Serienprotagonisten folgen. Der melancholische Ex-Polizist, der zweifelnde Detektiv, der hartnäckige Mensch lässt sich auf seine Mitmenschen ein, versucht sie zu verstehen, und scheitert doch immer wieder an seiner eigenen Introvertiertheit. Und am Schluss zweifelt auch der Leser. Sehr gut. Thorsten Schleif: Richter sterben besser. Richter Siggi Buckmann wird fast von einem dunklen SUV überfahren und fast von einem herabstürzenden Blumenkübel erschlagen und fast erschossen. Kürzlich hatte er auf ebenso unkonventionelle wie illegale (und endgültige) Art und Weise dafür gesorgt, dass ein Bösewicht ihm nichts mehr tun kann. Aber da gibt es noch mehr Gangster: Muss er die nun auch verstummen lassen? Und ist seine neue Freundin, die Journalistin Robin, in Gefahr? Ein Krimi, in dem eine kluge Journalistin auftaucht, ist natürlich etwas Feines. Auch sonst gefällt mir dieses Buch: Ein sympathischer Richter, der jenseits der Grenze der Legalität agiert, ist schon einmal originell. Kleinkram: Schleif meint sicher einen "Antiquitätenhändler", nicht "Antiquar" (72). Ansonsten wirkt das Buch auf mich juristisch exakt, der Richter dagegen schön unvollkommen - seine Rolle bei der Hochzeit seiner Ex-Frau, seine Interpretation der Anschläge: ein bisschen ein Loser. Dann aber wieder nicht, wenn er glaubt, sich wehren zu müssen. Gut bis sehr gut. Nikolas Kuhl und Stefan Sandrock: Das Dickicht. Ein Mädchen verschwindet, der Vater erhält eine Lösegeldforderung. Vor knapp 20 Jahren war ein Junge verschwunden - und gestorben. Der Täter nahm sich das Leben und der alte Hauptermittler ging kurz darauf in den Ruhestand; wenig später starb auch er. Damals hatte Juha Korhonen als junger Polizist den Hauptermittler begleitet, nun ist Korhonen gealtert und wird vom jungen Lucas Adisa, den er "Lux" nennt, begleitet. Bei ihren Recherchen beschäftigen sie sich wieder mit dem alten Fall, denn es gibt Parallelen. Und dabei entdecken sie Unstimmigkeiten in den alten Akten. Interessante Konstellation der Ermittler: Erst war Korhonen, finnischer Herkunft, der Ausländer; nun ist er der Inländer und Lux der Ausländer. Kuhl und Sandrock arbeiten geschickt damit, es ist Teil des Buches, gibt zu denken, nervt aber nicht. Das vorweg. Die Geschichte ist spannend, nicht ganz unkompliziert - "verworren" wäre zu viel gesagt - es geht um alte Männer, alte Schuld, und um das, was verborgen bleiben muss. Gut. Christoph Stoll: Waldesdunkel. Justus Hauser ist im Forsthaus aufgewachsen. Jetzt ist er 50 Jahre alt und Waldbesitzer. In den Sommerferien zieht er sich ins alte Forsthaus zurück, in dem noch seine Mutter lebt; dort genießt er die Stille des Waldes. Dann aber wird ein Mann ermordet. Dann ein zweiter Mann. Nix mehr mit Ruhe, stattdessen taucht auch noch eine sehr attraktive Kommissarin auf. Wieder einiges vorweg, was strenggenommen nichts mit der Qualität des Buches als Krimi zu tun hat: Erstens die dement werdende Mutter. Es fällt auf, dass es in Krimis immer mehr Menschen mit Demenz gibt, auch bei "Das Dickicht" wird eine alte Frau dement. Das spiegelt die gesellschaftlichen Realitäten wider und es tut gut, dass Autoren dafür Worte finden. Zweitens: Die Verpflichtungen eines Waldbesitzers, was auch gesellschaftliche Realitäten widergibt, die in diesem Fall so ganz anders sind, als man sich das gemeinhin vorstellt. Und nun zum Inhalt: Justus Hauser ist ein sympathisch-verschrobener Mensch - wie er als Kunstlehrer mit einer Horde Kinder umgeht, weiß ich nicht, aber der Wald ist seine, nun ja, Heimat, er sieht mehr als andere Menschen, und gemeinsam mit der Kommissarin findet er auch die Lösung - und, vor allem findet er diese gemeinsam mit seiner Mutter, sie finden das Drama hinter den Morden. Gut. Martin Krüger: Wer Angst sät. Brandenburg, ein Dorf zwischen lauter Roggenfeldern. Max, 13 Jahre, verschwindet. Tagelang ist er nicht auffindbar. Dann ist er plötzlich wieder da, verschmiert mit Teer und ziemlich verwirrt. Kurz darauf verschwindet ein junges Mädchen. Und ihre Mutter wird ermordet. Kriminalkommissarin Ella Berger ist von Berlin wieder in das Dorf gezogen, um sich um ihren dement werdenden Vater zu kümmern und muss ermitteln, aber die Dorfbewohner scheinen irgend etwas zu verbergen. Und was hat die alte Sage der Roggenmuhme damit zu tun, die Kinder stiehlt und als Wechselbälger zurückbringt? Berger recherchiert zusammen mit der Profilerin Aya Nakamura und dem Privatermittler Atticus Byrd. Interessanter Plot, aber nicht gut ausgeführt. Kleinigkeiten: "Sie schlafen zu wenig …` … ´Das tun die anderen auch nicht´". (54) - Das "nicht" ist falsch. Versammeln sich wirklich "Krähen, Spatzen, Amseln" im Herbst auf den Stromleitungen? (64) Ich kenne das vor allem von Schwalben. Also Zugvögeln. In Deutschland gibt es weniger Profiler; eher wendet man hier die Operative Fallanalyse an; Nakamura wirkt nicht glaubwürdig. Die Frauen sind leicht mal etwas dusselig und müssen dann im letzten Moment von einem Mann gerettet werden (155, 351 ff). Die Verkleidung des letzteren ist nicht logisch - wie kam der darauf? Die unerklärlichen Dinge zwischen Himmel und Erde passen nicht ins Buch, immer wieder wird eine auf Wissenschaft basierende Erklärung versucht, aber irgendwie überzeugt weder das eine noch das andere. Wie es ausgeht, ahnt man recht früh. Nicht gut. Juli 2024Neue KrimisMarc-Uwe Kling: Views. Yasira arbeitet fürs BKA und bekommt einen richtig besch… Fall auf den Tisch: Ein Video geht viral, in dem vier Schwarze eine 16-jährige Weiße vergewaltigen. Die Jugendliche ist seit ein paar Tagen verschwunden, die Polizei findet weder sie noch die Männer, Yasira bekommt Druck von ihrem Chef und der Presse. Und dann beginnen Rechtsextremisten, sich zu organisieren, gegen die Polizei zu arbeiten, Selbstjustiz zu üben; und Yasira beginnt, sich Sorgen um ihr Tochter zu machen. Kling erzählt mitreißend, humorvoll und spannend eine übelste Spirale der Gewalt; eine Dystopie. Man fragt sich, ob tatsächlich so wenig gegen Rechtsextremismus getan wird, ob KI tatsächlich schon so viel kann. Und man fürchtet, dass dieser Thriller gar nicht einmal so unwahrscheinlich ist. Ein Whodunit, und der letzte Dreh, so ekelhaft er ist, erinnert an den Beginn von Kill Bill, und ich schwanke zwischen einerseits Dankbarkeit dafür, dass Kling der Versuchung von Voyeurismus widerstanden hat, dafür, dass einer Frau nach solchen Erlebnissen Kraft zum Weitermachen "zugestanden" wird und andererseits Ekel darüber, dass sexualisierte Gewalt eben doch vorkommt - aber die ist eben ein leider probates Mittel vieler Männer, Frauen zu unterdrücken; nachzulesen bei Christina Clemm und Susan Brownmiller undundund. Dennoch: verstörend, spannend, und, ja, humorvoll. Weil eben Yasira klug und humorvoll ist. Toll. Wolf Harlander: Partikel. Bei einer schicken Hochzeitsfeier werden Menschen vergiftet. Einige erkranken, einige sterben. In Marseille läuft ein Frachtschiff Richtung Nigeria aus und nur der Kapitän scheint zu wissen, woraus die Ladung besteht. Ein Mann, kürzlich verwitwet, bangt um das Leben seiner kleinen Tochter. Eine Journalistin profiliert sich in der Redaktion eines Start-Ups, erhält zwei unmoralische Angebote und will ihren Idealen treu bleiben; aber auch sie hat Angst um das Leben des kleinen Mädchens, ihre Nichte. Dann gerät sie selbst in Gefahr und es dauert eine Zeit, bis sie merkt, warum. Die BND-Mitarbeiter Carius und Winkler folgen der Spur des Plastiks und Carius folgt wie üblich auch seiner eigenen Agenda mit der Recherche nach dem Todesumständen seiner Eltern. Für meinen Geschmack hinterlässt er dabei ein paar digitale Spuren zu viel. Das Thema ist wichtig und ich nehme Harlander ab, dass es auch ihm persönlich wichtig ist. Er erzählt - ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach spannend! - von der allgegenwärtigen Umweltverschmutzung mit winzigen Plastikpartikeln. Zwar stört mich auch in diesem Buch ein bisschen, dass er erstens Gefühle nicht richtig erzählen kann: Das Drama um das krebskranke Kleinkind, die Ängste des gebeutelten Vaters und der Tante bleiben merkwürdig blass; Harlander ist besser mit Fakten und Spannung. Und zweitens tritt die handwerkliche Arbeitsweise manchmal allzu offen zutage: Er führt Menschen kurz ein, die dann sterben; so geht er sicher, dass man mitfühlt. Und die Journalistin Melissa ist natürlich jung und idealistisch. (Übrigens arbeitet sie (oder Harlander) wohl nicht immer ganz genau: S. 90f spricht ihr Interviewpartner von "etwa fünf Gramm"; sie notiert aber (96) "bis zu fünf Gramm". Das hätte ein Lektor merken sollen, auch wenn es nicht schlimm ist.) - Solche Kniffe sind erlaubt, natürlich, und notwendig, aber es kommt immer ein bisschen zu sehr heraus, dass es eben handwerkliche Kniffe sind, um das Buch spannend zu machen. Aber egal, es IST einfach spannend, und das über 600 Seiten, eine Leistung. Ich habe es sehr gern gelesen und nach dem fiesen Cliffhanger am Schluss bin ich noch neugieriger als nach den beiden ersten Thrillern (Systemfehler (s.u. Juni 2022)und Schmelzpunkt (s.u. September 2021)) um die BND-Leute Nelson Carius und Diana Winkler, wie es weitergeht. Sehr gut. Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers. Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern, Anfang der 1990er. Hauptkommissar Groth hat seine Tochter verloren und einen Fall verbockt. Er wird von Hamburg in seine Heimatstadt Wechtershagen in Mecklenburg-Vorpommern geschickt: Aufbauhelfer Ost, Kollegen schulen. Ein etwas abgerissener Mann besucht ihn und sagt, er werde verfolgt. Groth nimmt ihn nicht ernst und kurz darauf ist der Mann tot, ertrunken in einem See. Groth soll den Fall zu den Akten legen, recherchiert weiter, lernt eine Kellnerin eines Cafés am See kennen und stößt auf einen elf Jahre alten Mordfall. Regine wurde mit 17 schwanger, verpasste das Abi, berappelte sich und arbeitete im Kempinski in Berlin. Dann kündigt sie und fängt als Kellnerin in ihrer Heimatstadt an, in Wechtershagen. Die Perspektiven des Kommissars und der Kellnerin führen durch die Ereignisse und Erinnerungen. Susanne Tägder hatte für kürzere Texte schon Preise bekommen; hiermit legt sie ihren ersten Kriminalroman vor. Die Autorin dankt am Schluss der Journalistin Renate Meinhof, die vor über 20 Jahren eine Reportage in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hatte, über einen Mann, der zu Unrecht eines Morde verdächtigt wurde und daraus nicht mehr herauskam, nicht einmal, als sich später seine Unschuld herausstellte. Tägder nimmt das in ihrem Krimi auf, sie erzählt von alter Schuld, vom Ausweichen, von den Folgen von Folter und falschen Beschuldigungen. Das Buch ist spannend, man folgt Groth bei seinen Ermittlungen und leidet mit ihm, weil sich sein Hamburger Versagen natürlich herumgesprochen hat. Man folgt Regine, rätselt, was sie im Schilde führt, und bangt. Gut bis sehr gut. Norbert Horst: Lost Places. Ein originelles Team, die Staatsanwältin Camilla Lopez, der Kriminalhauptkommissar Deniz Müller und der Journalist Alexander Rahn. Alle Mitte, Ende 30, befreundet seit der Schulzeit, Singles, leben im Ruhrgebiet, jeder mit eigenem Zugang zu den Fällen - oder ist es ein Fall? Ein Obdachloser wird tot aufgefunden. Eine wohlhabende alte Frau ist gestorben - aber war es ein natürlicher Tod? Drei Leichen sind in einem ehemaligen Krankenhaus eingemauert. Worum es geht und was dahintersteckt, kommt erst ganz allmählich heraus. Die Recherche ist spannend, man ahnt von vornherein die Gefahr, in der Rosemarie Wachowiak schwebt - und ist glücklich über die Hartnäckigkeit der Polizisten und die gute Zusammenarbeit unter den Kollegen. Ex-Kriminalhauptkommissar Norbert Horst hat mit diesem Buch eine vielversprechende Reihe um das Team aus Staatsanwältin, Polizist und Journalist begonnen. Man hofft auf Authentizität bei einem Autor, der selber Polizist war. Beim Journalismus allerdings bekommt er es nicht immer ganz hin: Dass ein Journalist seine Quelle, so ekelhaft sie auch sei, in die Falle lockt und den Behörden ans Messer liefert, ist nicht sehr wahrscheinlich, hoffe ich zumindest. Spätestens nach dieser Volte ist Rahn für mich keine sympathische Figur mehr. Gleichzeitig ist schwer verständlich, dass er nach der Nachricht einer anderen Quelle NICHT die Polizei benachrichtigt hat (und dass die nicht gleich reagierte, als er es dann endlich doch tat.) Gut dagegen die Charakterisierung des Polizisten mit türkischem Aussehen und dem Nachnamen "Müller" - die beiden Polizisten mit türkischen Wurzen, denen der Autor am Schluss dankt, haben sich diesen Dank redlich verdient: Witzig, ohne erhobenen Zeigefinger, und manchmal bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Der letzte Dreh um den Nazi, der nicht aufgedeckt wird, wäre vielleicht gar nicht notwendig gewesen - der ist auch so ekelhaft "genug". Dennoch: Ich bin gespannt auf weitere Fälle. Gut. Veit Heinichen: Beifang. Triest, fünf Uhr in der Früh. Kommissar Proteo Laurenti schnappt sich seine Harpune und geht fischen. Erst fängt er eine Meerrabe und dann - eine Leiche. Als Beifang besonders unangenehm, denn eigentlich soll er ein einigen Wochen pensioniert werden. Nun bekommt er erstmal einen Haufen Arbeit auf den Tisch - denn wer wurde hier ermordet, warum und von wem? Autor Veit Heinichen lebt selber seit über einem Vierteljahrhundert in Triest. "Triest ist eine Schnittstelle Europas, der Ort, in dem sich die drei großen europäischen Kulturen begegnen: die romanische, die slawische und die germanische", schreibt er auf seiner (lange nicht aktualisierten) Website. Diese Schnittstellen-Stadt ist die heimliche Hauptperson dieses Buches, Commissario Laurenti hat alle Hände voll zu tun, wenn er die Vetternwirtschaft durchschauen will, die mit dem Mord zu tun hat - oder auch nicht. Seine eigenen Hände bleiben auch nicht ganz sauber, in Deutschland würde so ein Krimi nicht spielen können. Heinichen tut sehr emanzipiert, so ist, war die Tote eine ausgezeichnete Skipperin, Laurentis Frau eine erfolgreiche Maklerin, und die Triestiner Frauen werden als sehr selbstbewusst gelobt (59 u.ö.). Aber Laurenti wird mit Nachnamen genannt, die Frauen mit Vornamen. Außerdem "lacht" ständig jemand einen Satz, stattdessen sollte es heißen, jemand "sagt" etwas und lacht. Oder so. Und der durch die beiden Landrover verursachte Unfall hat scheinbar keine Konsequenzen; sollte er aber - so ist es unlogisch. Trotzdem ist das Buch nicht schlecht und leidlich spannend. Ganz gut. Juni 2024Kunst und Kultur in HamburgNoch bis zum 15. Juli läuft im Altonaer Museum Hamburg die Ausstellung „Glauben und glauben lassen. Eine Ausstellung über Freiheiten und Grenzen“. Glaubensfreiheit? Die ist in der Bundesrepublik Deutschland ein Grundrecht. In unserem Grundgesetz heißt es in Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Die Bundesrepublik mit ihrem Grundgesetz gibt es aber noch nicht so sehr lange. Und vorher sah es mit der Glaubensfreiheit nicht überall gut aus. In Altona durften schon seit 1601 Mennoniten, Reformierte, Juden und Katholiken ihren Glauben offen leben; im lutherischen Hamburg dagegen sah es anders aus. Die Ausstellung zeigt Dekrete und Pamphlete, Faksimiles und Fotos, Interviews, QR-Codes und Texttafeln, die diese Geschichte(n) erzählen und erklären. In Altona existierten dank der toleranten Landesherren die unterschiedlichen Religionen friedlich nebeneinander; sie waren sichtbar, ihre Anhänger bauten Gotteshäuser, und feierten Feste und Gottesdienste. Viele Vertreter der lutherischen Staatsreligion dagegen lehnten die Duldung religiöser Minderheiten ab, lutherische Pastoren hielten Hasspredigten; immer wieder wurden im 17. Jahrhundert in Altona Katholiken, Mennoniten und Juden angegriffen: So wird berichtet, dass im Jahr 1963 60 Reiter einen katholischen Gottesdienst in Altona überfielen und mehrere Gläubige umbrachten. Damit nicht genug: Am darauffolgenden Tag fiel „Gesindel“ ein und zerstörte, was übriggeblieben war. Die deutsche Geschichte mit den Religionen ist eine wechselhafte: Im Jahr 1919 gewährte die Weimarer Reichsverfassung Religionsfreiheit und trennte Kirche und Staat. Ab 1933 wurde die Religionsfreiheit wieder eingeschränkt. Ab 1945 schlossen sich wieder Gläubige zusammen. Verfolgung aus religiösen Gründen ist eine sehr alte Fluchtursache und ist seit 1951 in der Genfer Flüchtlingskonvention als Fluchtgrund benannt. „Neue“ Religionen kamen nach Altona mit der Arbeitsmigration ab 1955, mit Boatpeople nach 1975, Kontingentflüchtlingen ab 1991, Katholiken aus den neuen EU-Ländern ab 2004, und aktuell aus anderen Ländern und Gebieten. Die Sonderausstellung, so die Ausstellungsmacher, „spannt einen Bogen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart und zeigt, dass die Geschichte der Glaubensfreiheit eine Geschichte über Freiheiten und Grenzen ist.“ Sie hoffen auf Austausch über die Bedeutung von Glaubensfreiheit und „darüber, wie eine vielfältige Gesellschaft in gegenseitigem Respekt zusammenleben kann.“ Das kann - und sollte - gelingen. Die Ausstellung ist lehrreich – und interessant. Neue KrimisVera Buck: Das Baumhaus. Im Prolog erzählt ein Kind vom Schwimmen in der rauhen See. Dann erzählen abwechselnd Rosa, Henrik und seine Frau Nora, und Marla ihre Geschichte. Rosa will herausfinden, wie Kadaver die Blattfarbe der bei ihnen wachsenden Pflanzen beeinflusst, und versehentlich gräbt sie dabei eine Kinderleiche aus. Henrik und Nora verreisen mit ihrem gemeinsamen Sohn Fynn nach Schweden, ins Häuschen von Henriks verstorbenen Großvater, wo sie aber keine Idylle, sondern den Horror finden. Und Marla hat den Horror erlebt. Wie schon in ihrem Krimindebut "Wolfskinder" (siehe unten, März 2023) lässt Vera Buck auch in "Das Baumhaus" mehrere Protagonisten berichten, was sie erleben. Ein Kind verschwindet, eine Kinderleiche taucht auf, und seltsame Figuren scheinen Gefahr zu bringen, aber man kann sie nicht recht fassen, wie eine Hexe, die ein kleiner Junge vor dem Fenster gesehen haben will. Nach und nach stellt sich heraus, dass alle etwas zu verbergen haben. Die Menschen sind sehr unterschiedlich: Rosa mit Zügen eines Asperger-Syndroms (sie aber wirkt am normalsten, wahrscheinlich ist sie der Liebling der Autorin; mein Liebling wurde sie sehr schnell, und die Szene 212ff ist richtig schön warmherzig-komisch), die pragmatische Norah, der sensible Autor Henrik. Manchmal (z.B. S. 172) merkt man, dass die Autorin einen an der Nase herumgeführt hat, dann wieder (96) kommt eine gute Erklärung. Guter, sehr guter Thriller! Sia Piontek: Die Sehenden und die Toten. Die Ermittlerin Carla Seidel ist mit ihrer 17jährigen Tochter Lana von Hamburg ins Wendland gezogen. Geflüchtet, müsste man eigentlich sagen: Ihr Exmann wurde gefährlich, sie verschwand. Aber nun scheint sich während ihrer Abwesenheit jemand in ihrem Haus zu schaffen zu machen, und sie bekommt Angst um ihre Tochter. Die wiederum ist sehr sensibel, menschenscheu, und erzählt mit ihren 17 Jahren der Mutter natürlich nicht mehr alles, was sie so denkt. Oder gar tut. Dann muss Seidel den Mord an einem Mann im Alter ihrer Tochter aufklären. Und das bleibt nicht der einzige Mord. Sia Piontek ist das Pseudonym einer Autorin, das vorliegende Buch ist aber ihr erster Krimi und gleichzeitig der Auftakt einer Krimireihe um die "Wendland-Ermittlerin" Carla Seidel. Der esoterische Kram um "Human Design" und "Reflektoren" hat ein bisschen genervt; ich mag Esoterik nicht in Krimis, zumindest hier passt es nicht, man hätte Lanas Fähigkeiten auch mit besonderer Sensibilität erklären können, wie es auf S. 42 ja auch geschieht - teilweise. Ich fand es auch kaum nachvollziehbar, dass die Ermittlerin der Tochter Gefahren verschweigt. Und vor allem, dass sie zuhause Fotos herumliegen lässt (45) und mit ihrer Tochter so oft über den Fall spricht; auch Glaw (s.u.) erfand eine recht schwatzhafte Kommissarin. Das ist handwerklich verständlich, auf diese Weise wird der Leser durch Dialoge informiert, was ein wirkungsvoller Kunstgriff ist, aber die Figuren macht es unglaubwürdig, wenn der Autor das nicht wenigstens problematisiert. Ein paar Musiktipps waren interessant: Glass Animals (105), Outer Vision (264), Peter McPoland/Digital Silence (406). Insgesamt spannend, ich habe den Krimi gern gelesen und bin gespannt auf den nächsten Wendland-Fall. Gut. Mascha Vassena: Schatten über Monte Carasso. Der dritte Fall für Moira Rusconi: Ihr Vater Ambrogio muss zur Kur und er überredet seine Tochter, ihn zu begleiten. Aber statt dass sie sich in einer schicken Wellnessklinik im Tessin erholen, geraten sie in einen Kriminalfall: Eine Mitpatientin umgarnt Ambrogio, eine Mitpatientin verschwindet, dafür taucht der attraktive Rechtsmediziner Luca auf. In diesem Buch fließt der Wein in Strömen, kein Wunder, dass Ambrogio zur Kur muss. Ein harmloser Sommerkrimi, leicht zu lesen. Ein paar typische Frauenthemen (Moiras Freundin Chiara, Inspektorin, hat sich die Haare zu einem kinnlangen Bob schneiden lassen, um im Job ernst genommen zu werden (84); mit demselben Ziel lässt sie sich coachen). An anderen Stellen wirkt die Polizei- und auch die Pressearbeit unglaubwürdig (108, 119 ff). Gut, naja, nicht "gut", eher "respektabel", wie das Schicksal von Angela ernst genommen und ihre Entscheidung respektiert wird (343 u.ö.) Insgesamt ganz gut. Thomas Michael Glaw: Huldrychs Ende. Huldrych Librorius feiert ein großes Fest auf seinem Schloss Iringsburg bei München, mit Fackeln, livrierten Dienern, Schickeria, und den wichtigen Menschen des Literaturbetriebes: Der Verleger und Buchhändler hat seine 250. Buchhandlung eröffnet. Lang kann er den Ruhm nicht genießen, denn er wird ermordet. Die Kriminaloberkommissarin Jana Vecera recherchiert, erfährt ein bisschen über Blogger (41) und Buchpreisbindung (43) und bekommt auch sonst recht viel zu tun, denn dieser Mord bleibt nicht der einzige. Das Buch soll eine Kriminalsatire sein, aber ihm fehlt jegliche Finesse. Das fängt schon bei den Namen an, die völlig übertrieben sind: Huldrych, Casper Kurt Casper, Bildric, Hexenstaller und die Pseudonyme Theophilus von Laberheim, Plaudrian, Liberschwafel. Witzig immerhin die Episode um den postkolonialen Dramatiker (61) und eine Veganerin, die der Polizei auf die Sprünge hilft (68). Aber lässt sich eine Polizistin wirklich Informationen über die Datenkrake WhatsApp schicken? (48). Und ein Buchblogger/NZZ-Literaturkritiker, der obendrein ein hervorragender Gastwirt ist, das ist ja wirklich eine wunderbare Idee, aber man fragt sich doch, ob eine Polizistin ihm wirklich so viel erzählen sollte bzw. würde. Nicht spannend, aber ganz nett zu lesen. Geht so. Linus Geschke: Wenn sie lügt. Elisabeth, die Mutter von Gorans Jugendliebe Norah, bittet Goran, nach langer Abwesenheit ins gemeinsame Heimatdorf Waldesroda zu kommen: Ihre Tochter Norah bekommt Briefe, die sie ängstigen. Die Briefe scheinen von Norahs Ex-Freund zu stammen, der - nachdem er zwei Menschen ermordet hatte - ertrunken war. Goran und Norah gehörten zu einer Clique, sie wuchsen gemeinsam auf, erlebten erste Verliebtheiten, bis zu den Morden, die aus Norah einen einsamen Menschen machten, weil sie dadurch zur "Ex des Killers" wurde. Geschke erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven von Goran, Norah und einem "Er", dem man bald Böses unterstellt. Ist er der angeblich ertrunkene Killer? Man vermutet es, weil Norah diese geheimnisvollen Briefe erhält, mit Details, die eigentlich bloß ihr Ex gekannt haben sollte. Vielleicht ist er es, vielleicht nicht: Ich habe die Lektüre auf Seite 118 abgebrochen. Zu sehr hat mich der schlechte Stil genervt. "Jede weitere Enttäuschung hatte in ihrer Seele Wunden geschlagen und ihr Urteilsvermögen infrage gestellt." (47) "Obwohl er vier Jahre älter war als sie, übte er sich in Zurückhaltung, was gewisse Dinge anging." (53) Sie "konnte ihre guten Freundinnen an zwei Fingern abzählen." (70) Jemand, der sich durch so etwas nicht gestört fühlt, kann das Buch aber durchaus spannend finden. Ich aber fand an diesem Thriller eigentlich nur die kurzen Sachtexte interessant: je nur ein paar Sätze mit Statistischem zu Morden, Obduktionen etc. Nicht gut. Kunst und Kultur in HannoverEigentlich ging ich bloß ins Landesmuseum, weil dort die Caféteria schon offen war. Zehn Uhr vormittags, nach der Zugfahrt hatte ich schon wieder Hunger, naja zumindest Appetit, und das Café im Sprengel Museum sollte erst um elf oder zwölf Uhr öffnen, und auf dem Weg vom Bahnhof zum Sprengel kam ich halt am Landesmuseum vorbei. Die Caféteria lockte – auch dieser Besuch lohnte sich – und dann das Landesmuseum! „Landesmuseum“ klingt ja erst mal langweilig, aber es ist wirklich großartig. „ich werde noch etwas“ ist eine Ausstellung über Paula Modersohn-Becker, und sie wurde glücklicherweise verlängert, noch bis zum 20. Oktober 2024 kann man sie besuchen. Sie war und ist wichtig. Ich zitiere die Museums-Website: „Paula Modersohn-Becker ist eine Pionierin der deutschen Moderne. Die Malerin gehört nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Zeit um 1900. Sie war die erste deutsche Expressionistin – noch vor der Gründung der Dresdner Brücke 1905 und dem Münchener Blauen Reiter 1908. Sozial- und emanzipationsgeschichtlich nimmt sie eine herausragende Stellung und für ihr Geschlecht vorbildliche Position ein.“ Derzeit verwahrt das Landesmuseum 39 Gemälde von ihr, die weltweit größte Sammlung außerhalb Bremens. Klar, das Künstlerdorf Worpswede, wo sie lebte und arbeitete, liegt bei Bremen, dort hat man naturgemäß mehr. Schon als Sechsjährige bekam sie Zeichenunterricht, mit 20 begann sie ihr Studium an der Mal- und Zeichenschule des Vereins Berliner Künstlerinnen und Künstler, mit 23 stellte sie in der Kunsthalle Bremen aus – und wurde von der Presse verrissen. Später reiste sie insgesamt viermal nach Paris, studierte, und entdeckte Künstler wie Cézanne und Matisse. Dann mietete sie ein Atelier in Worpswede. Mit 25 Jahren heiratete sie den Künstler Otto Modersohn. Später verließ sie ihn, aber er bezahlte weiter ihre Ausbildung. Dann kehrte sie zu ihm zurück, bekam ein Kind – und starb mit 31 Jahren im Kindbett. Bis dahin schuf sie wunderbare Bilder in einer erstaunlichen Vielfalt von Themen. Landschaftsbilder, Stillleben, und - ihre Spezialität - Darstellungen von Frauen und Kindern. In der Hannoverschen Ausstellung werden die Bilder wirklich gut erklärt und ins Leben der Künstlerin eingeordnet. Diese Ausstellung ist aber noch längst nicht alles, das Landesmuseum hat eine große Sammlung, ich habe Aquarien und Terrarien bewundert und gelernt, dass Schollen (lecker Maischollen, muss ich nächstes Jahr dran denken!) als junge Fische beginnen, mit der linken Körperseite nach unten zu schwimmen, allmählich wandert das linke Auge auf die rechte Seite, auch das Maul verschiebt sich ein Stück. Erwachsene Schollen graben sich ein bisschen in den Meeresboden ein, nur die Augen gucken raus, und bedecken ihre rechte obere Seite mit Sand oder Kies, sie passen ihre Eigenfarbe der Umgebung an - fast unsichtbar, diese Chamäleons der Meere! Man kann einen neuen Hecht betrachten (ist im Mai eingezogen), und richtig viel über Wasser und Land, Tiere und Pflanzen und Geographie lernen. Nix wie hin! Mai 2024Neue KrimisLucie Flebbe: Bad Business - Spiel mit dem Tod. Mieke Jentsch, stellvertretende Klinikverantwortliche, will Karriere machen. Sie entwirft ein Marketingkonzept, um ihre Kliniken auszulasten und finanziell profitabel zu machen. Da stirbt plötzlich ihr direkter Vorgesetzter. Sie soll nachrücken, wird zu einem pferdegestützten Coaching geschickt und als Chefin soll sie die Kliniken an einen Medizinkonzern verkaufen. Nur stellt sie fest, dass das mit den Pferden und dem Coach irgendwie ganz anders ist als erwartet. Sie überlebt mehrere Anschläge und beginnt sich zu fragen, wieso und woran ihr Vorgänger eigentlich gestorben ist. Parallel dazu versucht die attraktive Ocean mit Billes Hilfe, trotz Trauma zu leben, und die geflüchtete Marva will in Deutschland ankommen. Ich brauchte ein paar von den (kurzen) Kapiteln, um mich mit den Personen und ihren Handlungssträngen zurechtzufinden. Flebbe erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven, man ahnt die Dramen hinter den Menschen und ihren Handlungen, und allmählich schält sich die ganze Geschichte aus Gewalt und Bürokratie, Bestechung und Rentenversicherung hinter den vielen Handlungssträngen heraus. Überraschend spannend! Sehr gut. Ingo Bott: Pirlo (3) - Gefährlicher Freispruch. Anton Pirlo, noch völlig fertig von der eiskalten Dusche im letzten Prozess, spaziert nachts durch Düsseldorf-Pempelfort. Da sieht er, wie ein riesiges Corona-Testzentrum lichterloh brennt. Er ruft die Feuerwehr - und bald ist er mehr in den Brand verstrickt, als ihm lieb ist: Beschuldigt wird nämlich das Mitglied eines Clans - und der behauptet nicht nur steif und fest seine Unschuld, sondern verlangt auch noch von Pirlo, dass der ihn verteidigt. Mit, naja, gutem Grund. Wieder ein starker Bott. Pirlo, vom Namen her die Hauptperson, ist chaotisch wie immer. Sophie Mahler lernt als Anwältin mehr und mehr, sie wird immer besser - und immer wichtiger im Buch. Pirlos Familie bringt ihn wieder einmal in eine besch...eidene Lage, hilft ihm aber auch. Und natürlich steht auch diesmal hinter dem Brand etwas ganz anderes. Ein paar kleine Fehler haben sich eingeschlichen, wie bei wohl jedem neuen Buch: So war Ahmid sicherlich nicht die "Geisel" der Altstadt (222), sondern die Geißel. Und hinter "Spruchrichter" fehlt ein Komma (486). Aber das sind Nebensächlichkeiten. Schön dagegen Botts Seitenhieb auf eine "Katastrophenentscheidung" des Bundesgerichtshofes in puncto Bestechlichkeit von Abgeordneten (258ff. - es folgt ein durchaus berechtigter Seitenhieb auf die Presse.) Man lernt etwas über die Taktik von Alkoholikern (327) und über Krafttraining, obwohl Ahmid sicherlich mehr als dreißig Kilo (337) stemmen dürfte. Und wie immer lernt man viel über Strafrecht. Die kurzen witzigen und etwas rotzigen Nebensätze sind ein bisschen viel, aber gut. Gut bis sehr gut. Sybille Ruge: 9mm Cut. Eine Privatermittlerin, die sich für ihren neuen Fall Evelina Klein nennt, fängt sich einen Tripper ein, verprügelt einen Bösewicht und recherchiert zu einer NGO namens Interni. Vor deren Bürotür liegt ein Kopf in einer Plastiktüte und der Geschäftsführer wird erschossen. Hauptmäzen Wellinghofen hatte die Stiftung eigentlich für seinen eigenen guten Ruf unterstützt, fürchtet nun das Gegenteil und hat Klein engagiert. Die quartiert sich in Zürich ein, zieht ein Kostüm an und macht sich an die Arbeit. Privatermittlerin Eve entdeckt kaum etwas, und warum sie tagelang bei der Familie wohnt, zu der sie ermitteln soll, wird kaum klar; die Kinder bleiben blass, weil sich ihr Handeln so oft wiederholt; die Männer sind auch langweilig. Dies Buch hat dasselbe Manko wie der neue Grisham: Es passiert zu wenig. Grisham gleicht das Manko dadurch aus, dass "Die Entführung" im Grunde trotz mehrerer Toter ein Wohlfühl-Krimi ist oder zumindest Aspekte zum Wohlfühlen hat; Ruge durch ihren schnodderigen Ton und weil die Ermittlerin so eine ungewöhnliche Type ist. So liest man die Bücher gern, aber nicht sehr gern. Gut. I. L. Callis: Doch das Messer sieht man nicht. Berlin, 1927. Anais Maar, junge Journalistin bei einem Boulevardblatt, wird aus der Kulturredaktion strafversetzt und muss nun Polizeiberichterstattung machen. Mehrere Prostituierte werden ermordet, Maar berichtet, ihre Artikel werden beachtet, aber sie gerät darüber in Gefahr. Auch, weil Rassisten sie als schwarze Frau bedrohen, und weil sie heimlich in einer recht übel beleumdeten Gegend Boxen trainiert. Maar ist privilegiert aufgewachsen und lernt Josefine kennen. Die verdient sich ein Zubrot als Gelegenheitsdiebin und -prostituierte. Und sie hat Informationen für Maar. Die Autorin I. L. Callis stellt ihre Figuren in die unterschiedlichsten Milieus des Berlin der Weimarer Zeit. Die Chancen sind ungerecht verteilt - man bewundert Josefine für ihre Chuzpe bei ihren "Aufstiegsversuchen" und Anais für ihre Zähigkeit, mit der sie ihre Leidenschaften, Boxen und Journalismus, verfolgt. Wobei sie das Glück hat, von Anfang an einen Trainer zu haben, der ihr Talent erkennt und sie fördert. Die Autorin lässt ihre Figuren die Vorurteile der Umwelt spüren - so etwa hält sich Josephine Baker, die schwarze Tänzerin (und spätere Widerstandskämpferin) gerade in Berlin auf, und immer wieder wird Anais Maar mit ihr verwechselt, Schwarze sehen doch alle gleich aus, oder? Und Josefine klaut die Kleidung reicher Frauen, um als Eine der ihren angesehen zu werden - und wohlhabende Freier zu ergattern. Wenn Maar durch ihre Artikel in Gefahr gerät, wirkt das auf mich etwas naiv (102f u.ö.), und ein Boxer tänzelt nicht mit "angewinkelten" Beinen (331), sondern er geht ein wenig in die Knie, verlagert seinen Schwerpunkt tiefer o.ä. Aber das alles ist eher Kleinkram. Insgesamt ein spannender Krimi vor dem düsteren Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus. Gut. Marc Voltenauer: Die Nacht des Blutadlers. Andreas Auer, Kriminalpolizist in der Schweiz, reist nach Gotland. Dort ist er aufgewachsen und nun will er seiner Vergangenheit nachforschen. Er leidet unter Alpträumen und vermutet, dass die einen realen Hintergrund haben. Und tatsächlich stößt er auf einen Cold Case aus dem Jahr 1979: Damals wurde eine sechsköpfige Familie wie in einem Wikingerritual misshandelt und ermordet. Man munkelte von einer Gruppe, einem "Wikingerclan", aber niemand will Genaueres sagen. Marc Voltenauer schreibt in drei, manchmal vier Zeitebenen: 1944, Ende der 1970er, irgendein aktueller Juni, und drei Jahre vorher. Vor drei Jahren wurde Andreas´ Lebensgefährte schwer verletzt. Jetzt reist Andreas nach Gotland. Ende der 1970er gründete sich der Wikingerclan und die Familie wurde ermordet, und im Jahr 1944 entstanden Verbindungen zwischen einigen Beteiligten. Die Jetztzeit und die späten 1970er sind wichtig für die Handlung, die Episode von vor drei Jahren nur, wenn man die ganze Reihe lesen will (Der Blutadler ist Band 3 der Andreas-Auer-Serie, Band 1 heißt "Das Licht in dir ist Dunkelheit" und Band 2 "Wer hat Heidi getötet?"), ähnliches gilt wohl auch für die Ereignisse aus dem Jahr 1944. Der Plot ist eigentlich raffiniert, aber ich fand das Ganze etwas wirr und umständlich erzählt, vor allem, was Kleinigkeiten betrifft. Zum Beispiel erklärt Voltenauer sehr viel, was mir aber auch schon bei anderen Schweizer Autoren aufgefallen ist, und was hier manchmal etws billig wirkt: "Linda sank in sich zusammen. Tief in ihrem Innern hatte sie diese Ähnlichkeit vermutlich längst erkannt, aber ihr Gehirn hatte die Verbindung nicht zugelassen, weil die Situation zu unwahrscheinlich war. Sie fing an zu weinen und stieß einen Urschrei aus, der aus ihrem Innern kam." (154). "Scham hatte sich seiner bemächtigt. [...] Nackt vor den Polizisten zu stehen war sehr erniedrigend gewesen. Am liebsten hätte er seine Not herausgeschrien." (249) Manchmal stören kleine Widersprüche den Lesefluss ("Der Mann mit dem autoritären Gesichtsausdruck machte eine verdrießliche Miene." - Was denn nun: autoritär oder verderießlich? 436), Annas Verhalten S. 267 ist wirklich daneben, und einige Kapitel sind einfach überflüssig (z.B. Kapitel 127).(Aus dem Französischen übersetzt, 2019.) Geht so. Matthias A. K. Zimmermann und Kristina Schippling: Intoxikation. Dies ist der erste Band einer Romanreihe, für die der Verlag die ganz große Werbetrommel rührt, mit Animationsfilm und allem Drum und Dran. Kara, erfolgreiche Künstlerin in Berlin, probiert verschiedene Drogen aus und tötet versehentlich ihren Ex-Freund. Die Beseitigung der Leiche stellt sich als nicht so einfach heraus: Sie löst sie in Natronlauge auf, das stinkt, und damit das nicht so auffällt, leiht sie sich einen blühenden Titanwurz aus, eine Pflanze, die selber fürchterlich stinkt und den Leichengeruch sozusagen über-stinken soll. Ein guter Plot, viele witzige Szenen - etwa die vielen Besucher in Karas Atelier (54ff) - aber grottenschlecht geschrieben: Nervige Adjektive: "Sie schwitzte und fror gleichzeitig, wenn das überhaupt möglich war. Ängstlich ..." (54). Logische Fehler: Kara schreit (24) und verbeißt sich wenig später wegen der neugierigen Nachbarschaft das Schreien (34). Sehr unwahrscheinliche Szenen: Ein Mann steigt in Karas Atelier auf eine zugedeckte Badewanne. Sie will ihn da weghaben: "Geistesgegenwärtig packte sie ihn an den Beinen und stellte ihn auf dem Boden ab." (57) Das würde allenfalls Pippi Langstrumpf fertigbringen. Letztlich weiß ich nicht einmal, ob die Komik beim Besucheransturm im Atelier wirklich beabsichtigt ist. Ich habe die Lektüre nach Seite 69 aufgegeben. Jemand, den schlechter Stil nicht stört, kann vielleicht Spaß am Buch haben. Nervig. März / April 2024Kunst in WienPrinz Eugen (1663 - 1736) hatte es schön. Die Sommer verbrachte er im Belvedere, die Winter in seinem Winterpalais, dem „Stadtpalais“, wo ihm etwa ein Kaffeezimmer (im 17. Jahrhundert kam die Kaffeekultur durch kolonialen Handel nach Europa) und daran anschließend ein Spielzimmer zur Verfügung standen. Im Oberen Belvedere repräsentierte er im „Marmorsaal“, den man fast noch im Originalzustand betrachten kann, er ist riesig. Hier sollten später, am 15. Mai 1945, die Außenminister und Hochkommissäre der vier Alliierten und der österreichische Außenminister den österreichischen Staatsvertrag unterzeichnen. Eugen scheint verehrt zu werden, auf eine mir fremde Art. So befinden sich im Belvedere auch große Zeittafeln zum Prinzen und zum Belvedere, auf der unter dem Jahr 1683, da war er 20 Jahre alt, steht: „Feuertaufe Prinz Eugens am 12. September in der Schlacht am Kahlenberg gegen die Osmanen.“ Was für ein schreckliches Wort: „Feuertaufe“! Eine Taufe ist etwas anderes… Die Dauerausstellung Schau! Die Sammlung Belvedere von Cranach bis EXPORT fragt, wie Künstler in ihrer Zeit leben und lebten, wie eine Epoche ihre Kunst prägte. In jedem Sammlungsbereich haben die Kuratoren Selbstporträts ausgewählt und hervorgehoben. Sie zeigen, wie Künstler sich sahen und wie sie gesehen wurden, und wie sich dies Bild vom Mittelalter bis in die 1970er-Jahre wandelte. So etwa ging im späten 18. Jahrhundert eine ständisch absolutistisch organisierte Gesellschaft zum Bürgertum über; gleichzeitig verlor die Katholische Kirche an Einfluss, und Wissenschaft und Technik gewannen an Bedeutung. So wurde das dekorative Stillleben im 19. Jahrhundert immer mehr nach botanischen Gesichtspunkten geordnet. Zum Beispiel – Lieblingsbild! - von Johann Knapp „Huldigung an Jacquin (´Jacquins Denkmal`)“ mit der Texttafel, die man unbedingt lesen sollte: Eine Fülle von Pflanzen und wenigen Tieren (zum Beispiel ein Äffchen und ein Gelbhaubenkakadu), aber sorgsam aufgebaut, denn Knapp hat die Vielfalt der Botanik dargestellt, die Carl von Linné (1707-78) zum ersten Mal systematisch geordnet hat, indem er sie in 24 Klassen eingeteilt hat. Der übrigens bewacht das Ganze von seiner Urne aus, die rechts in einer Nische steht. Auf so eine Idee muss man erstmal kommen. Über der Büste des Wiener Botanikers Nikolaus Joseph von Jacquin sind eine Jacquina mucronata und eine Linnaea borealis (letzteres heißt auf Deutsch Moosglöckchen – für J.m. habe ich keine deutsche Bezeichnung gefunden) miteinander verschlungen – diese beiden Pflanzen wurden nach den beiden „Helden“ dieses Bildes benannt. Lieblingsstücke: Die Charakterköpfe von Franz Xaver Messerschmidt: Der schuf zwischen 1771 und 1783 (Spätbarock) rund 60 Portraitbüsten mit Grimassen. Einige realistisch, andere „deutlich verfremdet und bis ins Groteske verzerrt“, steht im Text dazu. Völlig untypisch für die Zeit. Eigentlich möchte man stundenlang davorstehen und die Fratzen nachahmen. Sonstiges: Napoleon reitet auf dem Bild von Jacques Louis David ein Pferd, in Wirklichkeit ritt er einen Maulesel (Kreuzung von Eselstute und Pferdehengst, mit kurzen Ohren und Quastenschwanz. Maultiere dagegen sind eine Kreuzung aus Pferdestute und Eselhengst mit langen Ohren und Pferdeschweif. Oder so.). Ferdinand Georg Waldmüller malte mit „Erschöpfte Kraft“ (1854) ein trauriges Bild: ein schlafender Säugling und die davor zusammengebrochene, wahrscheinlich alleinerziehende Mutter, man bemerkt sie erst auf den zweiten Blick auf dem dunklen Boden der Kammer. Und noch so viel mehr: Die berühmten Klimt-Gemälde. Bilder der Secession als Ort des Neubeginns, ein Künstlerbund unter Klimt. Bilder, die Wiens Entwicklung zur Großstadt widerspiegeln. Avantgarde. Beckmann. Der Art Club nach 1945 (Sommer und Winter von Anton Lehmden!) So nebenbei: Ich habe nach unten geschaut und einen wunderschönen Ammonit und einen ebenso schönen Belemnit in einer der Fußbodenplatten im Oberen Belvedere entdeckt. Gehörten in keine Ausstellung, gefielen mir aber ausnehmend gut. Ebenso der Kaiserschmarrn im Schlosscafé. Fürs Belvedere sollte man sich sehr viel Zeit reservieren, es lohnt sich.
Ein eigener Raum ist der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajewo gewidmet. Man kann das Auto mit Einschussloch betrachten, die Uniformjacke und das Sterbebett. O je, so genau wollte ich das eigentlich gar nicht sehen. Auf den ersten Blick zumindest angenehmer anzuschauen, und einfacher zu verdauen, waren die Uniformen. Interessant: Soldaten müssen sich möglichst frei bewegen können, aber anders als heute standen ihnen früher keine elastischen Stoffe wie etwa Jersey oder Gemische mit Elasthan zur Verfügung. Also mussten die Schnitte für Bewegungsfreiheit sorgen. Gleichzeitig durfte die Kleidung nicht zu weit sein, damit sie sich nicht mit den Waffen verhedderte. Die Uniformen von damals hatten ähnliche Aufgaben wie die Kostüme für die Städterin von heute, die mit einer Tasche auf dem Fahrrad unterwegs ist. Die notwendige Schnitttechnik kann man in diesem Museum gut studieren. Die Jacken hochgeschlossen am Hals, Zweinahtärmel, die der natürlichen Biegung des Armes folgen, und vor allem: Armkugeln in kleinen Armlöchern. Die Hosen mit hoher Taille, sodass man sich die Nieren nicht verkühlt und an den Beinen schmal geschnitten, so dass sie sich damals nicht in den Sporen und heute nicht in den Fahrradspeichen verheddern, und gegebenenfalls Stulpen, die den Knöchel wärmen, wenn die Hosenbeine in der Bewegung, also beim Reiten auf dem Schlachtross – oder, in meinem Fall dem Stahlross - hochrutschen. In der Albertina hängt eine Fülle toller Bilder von Monet, Ernst, Schiele und allen anderen, die man kennt und liebt oder verabscheut. Pointilismus, Fauvismus, Impressionismus, Surrealismus. Ich könnte Tage hier verbringen. Auffallend in diesem Museum: Die leicht verständlichen Texte. Keine Bildtafeln mit Geschwafel voller Fremdwörter, sondern wunderbare Erklärungen, dank derer man die Bilder noch viel lieber betrachtet. Lieblingsbild: „Der Schimmel ´Gazelle`“ von Henri de Toulouse-Lautrec. Toulouse-Lautrec hatte sich als Teenager aufgrund einer Erbkrankheit komplizierte Knochenbrücke zugezogen, die zu einem langen Krankenlager und letztlich dazu führten, dass seine Beine verkrüppelt blieben. Während seines Krankenlagers begann der Junge zu zeichnen. Sein Vater war leidenschaftlicher Jäger und Reiter, und der Tiermaler René Princeteau wurde sein Lehrer; so zeichnete und malte der Junge anfangs vor allem Hunde und Pferde. „Gazelle“ gehörte zum Gestüt der Familie von Toulouse-Lautrecs Mutter, und als der 15-Jährige seine Sommerferien auf Schloss le Bosc verbringt, malt er ihn. Anderes Lieblingsbild: „Mädchen mit Schallplatte“ von Karl Hofer. Oder „Gespenster auf dem Baum“ von Franz Sedlacek. Lieblingsskulptur: „Unter den Brücken von Paris“ von Max Ernst. Ein Wesen, man weiß nicht recht: ein Mensch?, ein Frosch? Jedenfalls ein glubschäugiges Wesen mit einem Lächeln. Die Bilder von Albrecht Dürer in der Grafiksammlung (der Hase!) werden leider (und verständlicherweise) nur als Faksimiles gezeigt. Trotzdem toll. Nur noch bis zum 28. April läuft die Ausstellung: Joel Sternfeld, American Prospects Sternfeld war ein sehr wichtiger Vertreter der Fotografengruppe „New Color Photography“, die ab den 1970er Jahren Farbe als Stilmittel für künstlerische Fotografie einsetzte. Zwischen 1978 und 1986 produzierte Sternfeld die Serie „American Prospects“. Für seine Aufnahmen recherchierte er passende Plätze; nicht einfach, denn er arbeitete mit einer sperrigen Großformatkamera. Die sehr großen Bilder in leuchtenden Farben sind also sorgfältig komponiert, aber sie wirken wie Schnappschüsse eines Alltags. Und dieser Alltag ist trist und von Armut, schlechter Ernährung und Klassenunterschieden geprägt, die Natur ist durch den Menschen geformt: zu todlangweiligen Vorgärten, Wüsteneien oder Schrotthaufen. Noch bis zum 14. Juli läuft die Roy Lichtenstein-Retrospektive mit mehr als 90 Gemälden, Skulpturen und Grafiken. Lichtenstein und Andy Warhol waren die beiden wichtigsten Begründer der Pop-Art. Von Warhol kennt man die Bildergruppe mit Marilyn Monroe, von Lichtenstein die comicartigen Figuren aus Punkten. Roy Lichtenstein ist für seine klischeehaften Blondinen, Kriegshelden und eben den Comic-Figuren mit Sprechblasen bekannt. Mit knalligen, leuchtenden Farben, klaren Linien und „Ben-Day-Punkten“, welche die billige Drucktechnik der Comics imitierten, malte er ab den 1060er Jahren große Bilder in Cartoon-Ästhetik. Damit prägte er die amerikanische Kunstszene. Indem er die Bilder aus ihrem Kontext gerissen hat, zeigt er, wie hohl die Schönheit der Menschen in vielen dieser Comics war. Und nicht nur der Menschen: Er schuf auch Stillleben – zum Beispiel mit einem geradezu unwahrscheinlich rot glänzenden Apfel vor einer Orange und einer farblosen Vase mit farblosen Blumen. Später, ab 1970, macht er auch Bilder im Comicstil, aber nicht mit Sujets aus Comics, sondern eigenen. Zum Beispiel der „Studie für Spiegelungen auf ´Haar`“, eine Blondine, deren Gesicht durch einen Spiegel längs geteilt ist. Keine Ahnung, warum mich das so fasziniert. Nee! Schon das zweite Mal, dass ich ein Buch lese, in dem ein Museum eine wichtige Rolle spielt, dass ich besucht habe. Erst der Krimi, in dem das Weimarer Goethemuseum in Flammen aufgeht (Tibor Rode, Der Wald, Dezember 2023). Und nun Steinfests Sprung ins Leere (März / April 2024), in dem das Kunsthistorische Museum Wien eine wichtige Rolle spielt: In diesem bewacht Steinfests Hauptfigur Klara Ingold Gemälde und jeden Mittag sieht sie dort Georg Salzer, den sie darum insgeheim den „Mittagsmann“ nennt. Der stellt sich immer vor das Bild „Der große Wald“ von Jacob van Ruisdael. Und dort erkennt er eines Tages eine Person, die zwischen zwei Stämmen hervorlugt, links im Dunkel, und den Betrachter betrachtet. – Klara Ingold entdeckt diese Person irgendwann auch beziehungsweise wird von ihr entdeckt. (Nur ich habe sie nicht finden können.) Unterschiedliche Museen schützen ihre Bilder auf unterschiedliche Art und Weise vor allzu nahetretenden Zuschauern. Das KHM schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Es hat vor den Bildern dezente Barrieren in Oberschenkelhöhe angebracht, auf der die Beschilderung anmontiert ist. Mit der Schrift nach oben, so dass sie angenehm zu lesen ist. In anderen Museen muss man sich bücken und viele ältere Leute können die Beschriftung ohne Lupe oder zumindest Lesebrille kaum entziffern. (Auf der Beschilderung vor dem van Ruisdael im KHM steht übrigens, dass das Bild um 1655 bis 1660 entstand.) Egal: Es ist ein tolles Bild. Und nicht das einzige Bemerkenswerte. Anthonis van Dyck malte 1618/20 die Kopfstudie einer emporblickenden Frau, die verblüffend an Brigitte Hobmeier (Schnee) erinnert. Ich schauderte angesichts mehrerer Bilder von Judith mit Holofernes´ Kopf. Betrachtete mehrere Dürer. Cranach. Hieronymus Bosch. Martin Schongauer (verwandt mit L. A. Schongauer aus „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ von Bodo Kirchhoff?). Bruegel. Tizian. Velàzquez. Und so weiter. Unbedingt anschauen: Die Automaten in der Kunstkammer, kleine Maschinen aus dem 17. Jahrhundert: Globen. Uhren. Ein Schiff, das über den Tisch fahren kann, dabei bewegt sich die Besatzung zur Musik und Kanonen feuern eine Salve ab. In einem kurzen Film werden einige Automaten in der Bewegung gezeigt – großartig! Eine Kutsche, deren Pferde sich bewegen. – Einst Spielzeug für reiche Adlige, heute zur Betrachtung für alle Museumsbesucher. Auf dem hauseigenen Flyer wird die Kaiserliche Schatzkammer als „die bedeutendste Schatzkammer der Welt“ bezeichnet und im ältesten Teil der Hofburg kann man zwei Kaiserkronen betrachten: Die Kaiser Rudolfs II wurde später zur österreichischen Kaiserkrone. Sie ist wunderschön, mit Gold und langen Reihen von Perlen, mit Diamanten, einem großen Rubin und einem sehr großen Saphir. Die zweite Kaiserkrone in der Schatzkammer ist die Reichskrone mit Stirnkreuz und Kronbügel. Sie, Krönungsmantel und Heilige Lanze sind „der wichtigste Kronschatz des europäischen Mittelalters“. Die Reichskrone ist aus Gold, Email, Perlen und Edelsteinen und war jahrhundertelang Krönungsinsignie der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Derzeit wird sie in einem großen Forschungsprojekt untersucht. Der Krönungsmantel wurde von Philipp von Stubenrauch entworfen und von Johann Fitz gestickt, Goldstickerei in Sprengtechnik auf Samt; dazu Pailletten, Goldborten, Hermelin und Seidentaft. Und noch viel mehr Schätze - hindurchschlendern, betrachten und genießen! Neue Krimis - die ersten des Jahres 2024für die Stuttgarter Kriminächte im März 2025Heinrich Steinfest, Sprung ins Leere. Ein seltsamer Zufall, dass ich dieses Buch während eines Aufenthaltes in Wien lese. Und das Kunsthistorische Museum besuche, in dem Klara Ingold arbeitet. Welche die Hauptperson in diesem Buch ist. Fast ein Steinfest´sches Zusammentreffen: seltsam, vielleicht ein bisschen übernatürlich oder science-fiction-haft, vielleicht auch nur zufällig. Aber irgendwie passend. Klara also liebt und bewacht Gemälde, und dann entdeckt sie in der Hinterlassenschaft ihrer Großmutter ein Foto. Diese Großmutter war 68 Jahre zuvor einfach verschwunden und auf diesem Foto findet Klara einen vagen Hinweis, wohin, vielleicht. Sie macht sich auf die Reise, findet eine Spur nach der anderen, und begegnet: einem Mittagsmann, einer Frau, deren Mutter gleichzeitig mit Klaras Großmutter verschwunden war, einem Magier, der sie davor warnt, an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort sich aufzuhalten, einem engelsgleichen Sumoringer, und Takashi Ito, einem real existierenden Regisseur. Steinfest hat einen Roman vorgelegt, der gegen alle Regeln spannend ist. Eigentlich könnte er das nicht sein, denn der Autor kommt, wie immer, mit einem melancholischen Buch vom Hundertsten ins Tausendste, und den letzten Dreh, der allem seinen Sinn gibt, zeigt er erst sehr spät. Aber trotzdem. Man folgt Klara Ingold von hier nach dort, genießt klug-absurde Unterhaltungen wie die mit Peter Berger (S. 82ff.), hofft und bangt mit ihr und anderen. Steinfest hat ein weiches Herz für seine Figuren. Man verliebt sich in sie. Und ich verließ dieses Buch mit dem Bedürfnis nach einem schwarzen Hosenanzug mit einem taillierten Oberteil und oben engen, unten aber weiten Hosenbeinen. Wie Klara ihn so gern trägt. Toll! Till Raether, Sturmkehre. Adam Danowski geht es schlecht: Der Ermittler hat etwas getan, womit ihn sein Chef nun erpresst. Er ist dauerhaft so zurückgezogen und ungenießbar, dass seine Frau ihn verlassen will. Auch seine Freunde leiden unter den Folgen seiner Tat und haben ihn satt. Dabei hat seine Abteilung, genauer: Danowski selber - endlich einen lange gesuchten Serienmörder gefasst. Aber nun kommt sein Chef an und verlangt, dass er dem Mörder einen weiteren Mord in die Schuhe schiebt - eine vor Jahren verschwundene Frau -, damit er diesen Fall als aufgeklärten Cold Case verbuchen kann und endlich Polizeipräsident wird. Danowskis einzige Chance: Er muss die Frau finden. Möglichst lebendig. Und das stellt sich als ziemlich gefährlich heraus. Danowski ist eine Figur, mit der man sich, obwohl sie so anders ist, gut identifizieren kann: Sein Gewissen plagt ihn wegen einer Tat, obwohl er wahrscheinlich wieder so handeln würde, aber er hatte eben nicht die Konsequenzen bedacht. Es stellt sich auch heraus, dass er nicht der einzige ist, der einen Fehler gemacht hat - der Fehler einer anderen Person, nie als solcher aufgedeckt, nicht einmal bemerkt, hatte noch viel schlimmere Folgen. Und wenn er die Konsequenzen seines Handelns tatsächlich einmal bedenken will, scheitert er auch: "Danowski fand, dass auf sein Gewissen wieder einmal kein Verlass war, jedenfalls in dem Sinne, dass es nicht besonders auskunftsfreudig war." (37) Raethers Stil passt gut zu seiner Hauptfigur, auch der Stil ist schön skurril, etwa die Aufzählungen auf den ersten Seiten - sowas hätte Raether gern durchhalten und auch später ab und zu bringen können. Und diese klasse Sätze: "Plön ist schön, noch schöner ist es ohne die Plöner." (25) Aber das Beste am Buch: Es geht zwar um Danowskis Befindlichkeit, aber das nimmt nicht überhand. Vor allem geht es um die Suche nach einer verschwundenen Frau. Und diese Suche ist auch richtig spannend. Toll! Frauke Buchholz, Skalpjagd. Fast wäre er verbrannt bei seinem letzten Fall. Jetzt reichts: Der kanadische Profiler Ted Garner will den Polizeidienst quittieren und Psychotherapeut werden. Er besucht einen internationalen Therapeuten-Kongress, lernt eine hippiemäßige Traumatherapeutin (die einen Vortrag über Trauma hält und dabei über Peter Levine spricht - den gibt´s tatsächlich - aber sie spricht nur über Erstarrung als mögliche Traumafolge: Kampf oder Flucht gibt´s jedoch auch) kennen und sie schleppt ihn mit zu einer Peyote-Zeremonie. Als er in der Wildnis aus einem Drogenrausch erwacht, hält er ein blutverschmiertes Messer in der Hand und neben ihm liegt die Therapeutin, erstochen - und skalpiert. Garner fürchtet, unter Mordverdacht zu geraten und fängt an, selber zu ermitteln. Buchholz erzählt einige seltene Male aus der Perspekive des unbekannten Mörders, mal aus Garners Perspektive, mal aus derjenigen der Ermittler - in der Stimme von Frank Lombardi, der ein Alkoholproblem hat und immer wieder von seiner fähigen Kollegin Nora Jackson auf die Beine gebracht wird. All die guten Polizisten essen oder trinken zu viel, sind einsam oder sonstwie seelisch lädiert. Der Thriller ist spannend, auch wenn nicht ganz nachvollziehbar ist, warum Garner sich auf so eine Zeremonie einlässt und Drogen nimmt. Buchholz nimmt in ihrem Krimis immer wieder das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner auf; einmal ging es um die Förderung von Erdöl, was die Landschaft und das Leben der Bewohner zerstört, diesmal ist sie diskreter, was dem Buch mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Die Menschen sind ihr nicht gleichgültig: In diesem Buch spielen spirituelle oder religiöse Zeremonien, Kult- und Kunstgegenstände und ihr Missbrauch durch Weiße eine wichtige Rolle (155-168), eine tragende Rolle, wenn man die Peyote-Zeremonie eingangs bedenkt. Das Ganze ist stimmig, auch wenn der alte weise indigene Mann ein gewisses Klischee bedient und seine übersinnlichen Fähigkeiten (168) nicht so richtig passen. Totzdem ein sehr spannendes Buch. Sehr gut. Bernhard Kegel, Gras. "Wer achtet in unserer hektischen Stadt schon auf ein paar Grashalme." (31) Die Biologiestudentin Natalie achtet darauf: Die Halme sind hellgrün, leuchten ein bisschen, und sie breiten sich aus. Von Wilmersdorf aus über ganz Berlin. Das Gras zerstört alles, was man kennt und mag, und einiges andere auch. Es zieht Folgen nach sich, etwa riesige Schwärme winziger Insekten, an denen man ersticken kann, wenn man zu viele einatmet. Bis dato war Natalie geplagt von Prüfungsangst und ihrem etwas lahmen Lover, nun wacht sie auf und erforscht das Gras. Sie nennt es Invicta, ihre Professorin wird auf sie aufmerksam und schwankt, ob sie Natalie als Rivalin betrachten oder nicht lieber fördern sollte. Die Gras-Plage stellt die Menschen vor neue Herausforderungen: Anfangs setzen sich Laien-Naturschützer dafür ein, später wird die Bevölkerung evakuiert. Die soziale Ordnung verfällt, und ausgerechnet ein besonders widerlicher Mitbewohner aus Natalies Haus, ein rechter Prepper, wird der Anführer einer bewaffneten Räuberbande. Berhard Kegel ist ein alter weißer(?) Mann und er kann sich verdammt gut in eine junge Frau hineinversetzen. Er schreibt aus der Sicht von Natalie, die ein bisschen verschroben ist, anfangs mit Prüfungsangst in den Tag hinein lebt und dann ihr Leben der Erforschung dieses Grases widmet und dabei, nun ja, über sich selbst hinaus wächst. Der ein kleines Menschen- und ein großes Mammutkind zuläuft und die sich auch noch um diese anhänglichen, niedlichen, bockigen Lebewesen kümmert. Und die Invicta mit dem Staunen des Wissenschaftlers betrachtet, das erst einmal unvoreingenommen ist: So genießt sie den Sternenhimmel, weil mangels Menschen auch die Lichtverschmutzung abnahm - "dank" Invicta (351). Man fühlt und bangt mit ihr, lernt nebenher einiges über Biologie und beginnt, sich über Bio-Hacker Sorgen zu machen - dass der Autor Biologe ist, merkt man - im positiven Sinne! Sehr gut. Lea Stein, Alte Schuld. Hamburg, 1948, kurz vor der Währungsreform. Eine Frau kommt zur Schutzpolizistin Ida Rabe und sagt, sie sei misshandelt worden. Rabes Kollegen sagen, diese Frau tauche öfter auf, sie glauben ihr nicht. Rabe lässte das aber keine Ruhe. Verdächtig ist ein Brite mit engen Kontakten zur Hamburger Polizei - und plötzlich ist er tot, ermordet, und es sieht nach einem giftigen Kampfstoff aus. Ida Rabe soll nicht ermitteln, aber sie tut es trotzdem. Und das wird gefährlich. "Alte Schuld" ist Ida Rabes zweiter Fall. Ich lese die Bücher besonders gern, weil ich in Hamburg geboren bin, wie schon meine Eltern. Und die hatten damals die Währungsreform hautnah miterlebt: Erst besaßen alle Menschen haufenweise (wertloses) Geld und es gab nichts zu essen, dann plötzlich besaß man fast kein Geld mehr (man bekam 40 Mark) und die Schaufenster hingen voll mit Wurst und anderen lang vermissten Köstlichkeiten. Stein bringt einem die Armut von damals sehr nahe: Rabe teilt sich ein Zimmer zur Miete, ihre Schuhe sind kaputt, sie hat ständig Hunger. Als der nette Gerichtsmediziner Ares Ida eine Dattel und ihre Kollegin Vera eine Olive probieren lässt, sind beide sehr überrascht vom Geschmack. Solche Kleinigkeiten machen die Bücher spannend. Man glaubt zu spüren, was das Leben damals mit sich brachte. Und fühlt mit Ida Rabe mit, wenn sie ihre alte Bekannte aus der Unterwelt, die "Bunkerkönigin" Marlise, zu Recherchen trifft und verzweifelt herauszufinden versucht, wohin ein Kind verschwunden sein könnte. Keine hohe Literatur, aber schön zu lesen. Gut. Thi Linh Nguyen und Alexander Oetker, Das Dunkel aller Tage. Berliner Osten. Hinten im Ho-Chi-Center wurde Crystal Meth gekocht, einer der Köche kippt etwas in den Topf, rennt davon, und die ganze Halle 15 fliegt in die Luft. Das Center war das Lebenswerk von Duc, dem Bruder der Polizistin Linh Schmidt. Er wird als Drahtzieher festgenommen. Sie glaubt an seine Unschuld. Ihr Mann Adam Schmidt zweifelt, ist aber arbeitsunfähig - psychische Probleme. SEK-Leiter Rabenstein täte nichts lieber, als Adam aus dem Job zu kicken - und wird auf den Fall angesetzt. Aber Adam will seiner Frau helfen. Eine schwierige Gemengelage, spannend, aber doch etwas überladen: Ein paar Probleme zuviel. Die Nachbarin etwa hätte es nicht gebraucht, und die Auflösung dieser Geschehnisse ist handwerklich nicht wirklich überzeugend erzählt, es wirkt hölzern. Dennoch: viele gute Ideen, so etwa wird ein Geschäftsmodell mit Crystal Meth gut erklärt (S. 38ff - ob es funktioniert, weiß ich natürlich nicht). Besonderer Hinweis: Während Frauen in Krimis lange Zeit als gleichsam unbesiegbar erscheinen durften, begegnete ich in den letzten Jahren auch Frauenfiguren, die bei einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Mann verlieren, was auch ausdrücklich thematisiert wird. Hier (207), auch zB in der Auftaktfolge der Krimiserie "Über die Grenze" (TV, 2017). Das ist einerseits (meist) realistisch, andererseits voyeuristisch. Gut. John Grisham, Die Entführung. Wer kennt "Die Firma" nicht - das Buch (1991), mit dem John Grisham berühmt wurde, und das mit Gene Hackmann, Tom Cruise und Jeanne Tripplehorn verfilmt wurde (1993)?! "Die Entführung" ist die Fortsetzung und spielt 15 Jahre später. Der junge Anwalt Mitch McDeere und seine Frau Abby waren mit einigen gestohlenen Millionen aus Memphis geflüchtet, nachdem Mitch mithilfe des FBI entdeckt hatte, dass seine Kanzlei, die "Firma", für die Mafia tätig war und Anwälte, die ausssteigen wollten, ermorden ließ. 15 Jahre später lebt das Paar in Manhatten, arbeiten - er wieder als Anwalt, sie als Lektorin - hat Zwillingssöhne und führt ein ganz normales Leben. Dann aber reist er nach Libyen, um ein Bauprojekt zu überprüfen, und dort wird jemand entführt. Die Lösegeldforderung ist absurd hoch und Mitch McDeere setzt alle Hebel in Bewegung, um das Geld zusammenzubekommen. Dabei wird er beobachtet - und seine Familie auch. Auf Grisham ist immer Verlass: Der Mann versteht sein Handwerk. Er schreibt Krimis, die meistens superspannend sind, seine Leute haben zwar Probleme, sind aber im Grunde attraktiv und gesund, und obwohl Alkoholismus durchaus problematisiert wird, vertragen sie ziemlich viel. Sie sind fit und in Form, aber der Leser wird nicht mit langweiligen Einzelheiten langweiliger Fitnessprogramme genervt. Bei aller Spannung sind es Wohlfühlbücher. (Mein Lieblingsbuch von Grisham: "Das Manuskript" - schafft verlässlich gute Laune!) Außerdem zeigt Grisham Verständnis für die "kleinen Leute", die vom System gequält werden, etwa durch überteuerte Studienkredite, unseriöse Ausbildungsstätten - oder die Todesstrafe (wie hier, obwohl eigentlich nicht klar wird, was die Episode im Buch zu suchen hat.) Auch die Entführung ist wieder so ein sehr gutes Gute-Laune-Buch: Mitch verzichtet zwei- bis dreimal pro Woche aufs Mittagessen und geht stattdessen trainieren; die Familie genießt dennoch gutes Essen, weil Abby Kochbücher betreut und die dankbaren Autoren dafür in ihrer Küche kochen. Das wünscht man sich. Es ist abgehoben, aber nicht so sehr, dass man sich nicht mehr identifizieren könnte. Die Entführung wirbelt dann alles durcheinander. Dann aber bleibt es zwar spannend, aber nicht so wie gewohnt - spannend ist dies Buch vor allem für Menschen, die sich für internationale (Schwarz-)Geldströme interessieren. Man folgt Reisen, Gesprächen und Telefonaten; ein Hinweis auf "Die Firma" bei einer Reise in ein Steuerparadies hätte weiterverfolgt werden sollen; es gibt auch Tote, aber dennoch ist die Handlung etwas dünn: Es passiert nicht wirklich viel; da hätte man kürzen können. Dennoch: Gut. Max Annas, Berlin, Siegesallee. Berlin, März 1914. Vier Menschen, ein Plan: Joseph Ayang (Sohn eines Kameruner Kolonialbeamten, will Theologie studieren), Friedrich Smith (im "Reich" geborener Sohn eines schwarzen Afrikaners), Ernst (wurde von seinem "Herrn" aus Deutsch-Südwest-Afrika mitgenommen), also drei Schwarze, die teils in Afrika unter übelster Gewalt durch Weiße gelitten hatten und nun in Berlin unter ständigen Demütigungen durch Weiße leiden, von kleinen Fiesheiten bis hin zur Arroganz gegenüber kolonialisierten Schwarzen, und als vierte Florentine von Baum (Fabrikantentochter, die für Frauen die gleichen Rechte wie für Männer will). Erst ermorden die Männer in Belin Soldaten. Damit wollen sie die Verbrechen in den Kolonien rächen. Aber nichts ändert sich. Dann, zu viert, planen sie: Der Kaiser soll sterben. Annas lässt die Handlung ganz langsam beginnen. Eine Begegnung von Joseph Ayang und Friedrich Smith in Berlin: Ayang sieht, wie ein Busfahrer Smith nicht mitnimmt. Erst allmählich begreift man, dass der Busfahrer sich herausgenommen hat, Smith zu demütigen, weil er Schwarze verachtet. Ayang und Smith schließen Bekanntschaft, Ernst und Florentine kommen dazu und ein Viererkreis entsteht. Dann entsteht der Plan wahrscheinlich auch - aber das weiß ich nicht, denn ich habe auf Seite 95 die Lektüre abgebrochen. Annas hat sich verdient gemacht mit Krimis um wahre Fälle, in denen er immer wieder auf gesellschaftliche Misstände aufmerksam gemacht hat. Ds ist wohl auch hier der Fal, so soll wohl Smiths Verachtung für Brahms ("Gassenhauer") zeigen, dass Schwarze Weiße in deren eigenen Kategorien (Musik als europäische "Hochkultur") schlagen können - aber das ist eine Holzhammer-Methode und nervt, und dann bringt Annas das auch noch zweimal (S. 23, 24). Seine Sprache ist manchmal billig und unfreiwillig komisch (von Baum wird "vom Bedürfnis gequält, etwas zu tun" und beschließt, sich einen Kaffee machen zu lassen (36)). Die Mörder fühlen zu wenig, man merkt nichts von Nervosität oder Angst, Schwitzen, Zittern, Hass oder Wut, der Leser wird weder überrascht noch vorbereitet, einzig eine Aktion von Ernst (81 u.ö.) zeigt, dass der gefährlich werden könnte. Ayangs Erinnerungen an die Exekutionen in Afrika wären wichtig, weil entsetzlich, und ein Motiv für Rache, aber über sie wird geradezu langweilig geschrieben. Wie junge Frauen aus wirtschaftlichen Gründen verheiratet werden, bleibt als feministischer Antrieb hohl (84ff). Die Morde bzw. die Gründe dafür werden zwar historisch nachvollziehbar. Aber nur historisch. Das Buch wirkt, als hätte Annas mal was über Kolonialismus und die Unterdrückung von Frauen schreiben wollen, aber ohne mit dem Herzen dabei zu sein. Schwer vorstellbar, dass dies seine Motive waren - die anderen Bücher, die ich von ihm kenne, sind wirklich gut. Dies nicht. Nicht gut. Februar 2024Neue Krimis - die letzten des Jahres 2023für die Stuttgarter Kriminächte 2024Anne Freytag, Mind Gap. Deutschland, im Jahr 2033. Es ist so praktisch und (fast) jeder hat ihn: Der NINK, ein Chip, den man sich implantieren lässt und der das menschliche Gehirn direkt mit dem Internet verbindet. Aber diese technische Errungenschaft kann wie jede andere auch missbraucht werden. Manche Menschen verweigern den NINK und werden scheel angeguckt (so wie heutzutage die Menschen, die ein Smartphone verweigern). Silvie Mankowitz hat keinen NINK, sie ist Journalistin, und eines Tages erhält sie einen Anruf von ihrem Bruder, einem Elitesoldaten - den sie seit zwei Jahren tot glaubt. Natürlich geht Mankowitz der Sache nach, natürlich wird es gefährlich für sie - und dann sieht sie sich plötzlich einer Übermacht gegenüber, die sie sich nie und nimmer hätte vorstellen können. Dies Buch von Anne Freytag ist meine dritte Lektüre innerhalb weniger Monate, die letztlich zu der Frage nach dem Sinn des freien Willens führt. Manche Figuren haben einen freien Willen, wissen damit umzugehen und wollen ihn behalten. Andere denken das bloß, haben ihn aber gar nicht. Und wieder haben ihn, wissen aber nichts damit anzufangen oder wollen ihn nicht. Und was ist mit der Technik, die uns heute schon umgibt, und die zur Überwachung missbraucht werden kann? Große Fragen, glücklicherweise ohne erhobenen Zeigefinger. Stattdessen ein klug komponierter Thriller voller Überraschungen, mit viel Technik, die aber nur soweit nötig erklärt wird. Macht Spaß und gibt Stoff zum Nachdenken (wenn man will). Sehr gut. Marc Raabe, der Morgen. Eine junge Journalistin entdeckt eine weibliche Leiche. Auf der steht mit Blut geschrieben die Privatadresse des Bundeskanzlers. Dieser verlangt, dass der berühmt-berüchtigte Ermittler Artur Mayer auf den Fall angesetzt wird, und der wiederum trifft auf die kluge Kommissar-Anwärterin Nele Tschaikowski. Dann taucht eine weitere Leiche auf. Ein bisschen hoch gegriffen, gleich ein Bundeskanzler im Visier. Ein Minister hätte es auch getan. So hat man das Gefühl, es soll ein politischer Roman sein, was er aber nicht ist. Auch die "Berliner Morgenpost" gibt es tatsächlich - eine Phantasie-Zeitung hätte ich besser gefunden. Dazu Kleinigkeiten: Ein Messerstecher, der das Messer von einer Hand in die andere wechselt, ist kein Angeber, sondern wahrscheinlich erfahren und gefährlich (233). Faken würde ich eher auf englische Art konjugieren, also nicht gefakt, sondern gefaked (427). Und die Geschichte ist ziemlich konstruiert. Andererseits ist der Handlungsverlauf vielfach überraschend, die verschiedenen Zeitebenen sind spannend, und die beiden Ermittler nicht unsympathisch. Also: ein Thriller, den ich gern gelesen habe. Gut. - Lesung bei den Kriminächten: Sonnabend 16. März Marc Elsberg, Celsius. Über dem chinesischen Luftraum erscheint ein Geschwader riesiger schwarzer Flugobjekte: massiver Rumpf ohne sichtbares Cockpit, sechs Flügel, größere Spannweite als die eines A 380. Aber sie greifen Taiwan nicht an und auch nicht den Rest der Welt - jedenfalls nicht konventionell: Sondern sie verändern das Klima. Und damit auch die Welt. Andere Nationen antworten, aber kann sich der globale Norden seiner Vormachtstellung noch sicher sein? Spannender Thriller, viele überraschende Wendungen. Dennoch wirkt das Buch auf mich irgendwie kalt, zwar handwerklich sehr gut, aber ohne Herzblut. Warum, weiß ich eigentlich nicht, denn Elsberg nimmt sich mit dem Klimawandel und der Benachteiligung des globalen Südens gegenüber dem Norden wichtiger Themenkomplexe an. Dazu einiger Kleinkram: Die Szenerie S. 545 ist sehr unwahrscheinlich, denn im Süden gibt es einen viel höheren Anteil an jungen Menschen. Immer wieder schildert Elsberg kleinen Szenen, in denen Menschen, denen er sogar Namen gibt, plötzlich sterben. Sie tauchen im Buch nur auf, um getötet zu werden (z.B. Kap. 109). Auch die Loser sterben alle. So bleibt man bei den Hauptpersonen, aber es wirkt, als hätte der Autor diese Nebenfiguren bloß erfunfen, um Spannung zu erzeugen. Szenen wir der Schuhplattler im Süden (S. 581f) sollen spiegeln, wie heutzutage im globalen Norden die Kultur des globalen Südens folkloristisch gezeigt und damit herabgewürdigt wird, eigentlich ein gutes Bild, aber es fühlt sich nicht richtig an, zumindest nicht für mich. Dennoch ein, wie gesagt, handwerklich sehr guter, rasanter Thriller, und Elsberg führt den Leser immer wieder an der Nase herum. (S. 289 u.ö.) Gut. Lesung bei den Kriminächten: Lesung Sonnabend 23. März (ausverkauft). Kunst in HamburgNoch bis zum 1. April zeigen die Hamburger Deichtorhallen die Ausstellung „Dix und die Gegenwart". Die verblüffte mich zunächst einmal mit einem Bezug auf die Vergangenheit. Der normale Museumsgänger ohne besondere künstlerische Vorbildung, also ich, kennt natürlich von Caspar David Friedrich den „Wanderer über dem Nebelmeer“ und die anderen Bilder, die „man“ eben kennt. Aber nicht die Landschaftsbilder. Die gerade in einer großartigen Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zu bewundern sind. (Die berühmten Bilder von CDF hängen natürlich auch da.) Und dann geht man nach der CDF-Schau in der Kunsthalle in die OD-Schau in den Deichtorhallen, sieht Dix´ Landschaftsbilder, und die erinnern – mich zumindest - SEHR an die Friedrichs. Dix ist vor allem durch seine bösen, zugespitzten, bizarren Gesellschaftsbilder aus der Weimarer Zeit bekannt, in denen er das weit verbreitete soziale Elend überdeutlich zeigte und so anprangerte. Im Nationalsozialismus dann wurden er und seine Werke durch die Ausstellung „Entartete Kunst“ diffamiert, und die „zuvor frappierenden Gesellschaftsbilder transformierten nach 1933 in teils subversive, teils subtile Formen der Zeitkritik. Anstelle von Kriegsszenarien und soziokritischen Milieus traten primär Landschaftsdarstellungen, Auftrags-Porträts und ab 1937 christlich-allegorische Motive.“ Aber, so die These der Kuratorin Ina Jessen, die darüber auch promoviert wurde, Dix´ Werk aus der NS-Zeit war nur „vermeintlich“ unpolitisch, nur eben sei seine Bildsprache weit weniger offensiv gesellschaftskritisch gewesen. Das Schaffen aus diesem Zeitraum sei weniger erforscht worden, und in dieser Ausstellung sollten nun Landschaften, Porträts und christliche Sujets im Kontext seiner Zeit erfasst werden. Dazu würde der Maler, sein Werk und sein beruflicher Werdegang in den künstlerischen und politischen Kontext der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Zeit kurz nach Kriegsende gestellt. Beim zweiten Schwerpunkt der Ausstellung geht es um „die künstlerische Rezeption von Otto Dix in Hinsicht auf Sujets, politische Ikonographie, Stil, Technik und Genre.“ Dix´ Werken werden Werke von etwa 50 zeitgenössischen Künstlern gegenübergestellt. Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt noch bis zum 28. April "Kairos", die mit über 230 Werken bisher größte Einzelausstellung mit Werken von Margit Jäschke. Jäschke (Halle/Saale) schafft Gegenstände, man kann sie sehen als Schmuck, Installation, Malerei und Skulptur, und man kann es nicht immer von einander trennen. Lieblingsstück: "The golden thread", 2018, Halsschmuck, Gold / Silber feinvergoldet /Kunststoff, Collection Marion Fulk (USA), Collection Markau (DE). Diese Ausstellung war schon in Leipzig, Pforzheim und München. Sie beginnt eine Ausstellungsreihe „Contemporary Craft“, die jährlich begleitend zur MK&G messe präsentiert wird. Sie stellt die Arbeit in- und ausländischer Künstler und Kunsthandwerker vor. Die Reihe soll den "Stellenwert des Kunsthandwerks im zeitgenössischen Diskurs" erhöhen und die "traditionellen Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk" zu überwinden. Gute Idee! Kunst in KarlsruheWieder einmal die art KARLSRUHE, die in diesem Jahr vom 22. bis zum 25. Februar stattfand.In den vier Hallen stellten rund 175 Galerien, Museen, Verbände und Vereine, Bildungseinrichtungen und Verlage die Werke unterschiedlicher Künstler aus. Diese Messe konzentriert sich auf neue Kunst und hat die Hallen – aber nicht ganz streng – nach Themenbereichen aufgeteilt. So findet man in der Halle 1 die „Klassische Moderne“, also die Kunst aus dem vergangenen Jahrhundert mit Stilrichtungen wie Expressionismus, Kubismus, Surrealismus oder Konstruktivismus, in der Halle 2 die „Kunst nach 1945“ mit Stilpluralismus, Futurismus, Fluxus und Pop Art, in der Halle 4 (dm-arena) „Gegenwartskunst“, also zeitgenössische Kunst, und „Skulptur“. Außerdem „paper square“ mit Papierarbeiten aus vier Galerien, Neueinstiege mit 25 statt 50 Quadratmetern pro Stand.Lieblingsstücke: „Waldkauz“ von Matthias Garff aus Aluschüssel, Kochtopf, Spülbürsten … Dieser Künstler schafft aus den unterschiedlichsten Materialien Tierfiguren, ein bisschen skurril, sehr humorvoll - und immer wiedererkennbar, selbst eine 2,5 Meter große Kohlmeise oder der riesige Kranich. Dann die „Extinction Series“ von Mark Dion und Bob Braine mit Bildern ausgestorbener Tiere wie dem Dodo oder der Wandertaube. Von Stefan Bircheneder die kleinen halb verrosteten Metallschließfächer mit dreckigem Geschirr und anderem Zeugs, täuschend echt Öl und Acryl auf Leinwand. Von Anne Carnein die Skulptur aus Stoff, Garn und Draht von Pilzen, „A Story of Becoming“. Scheinbar kein Paper Square, sondern in Halle 1: Aus der Galerie Stefano Forni, leider ohne Angabe des Künstlers, ein wunderbares, überraschendes Relief aus lauter Notizblöcken, die Kurven formen.Immer wieder doof: Bilder mit nackten oder halbnackten Frauen vor Autos, die bloß aufreizen sollen.Die nächste art KARLSRUHE findet vom 20. bis zum 23. Februar 2025 statt. Vormerken!Januar 2024Neues Buch, noch ein Nicht-Krimi: Bodo Kirchhoff, Seit er sein Leben mit einem Tier teilt. Italien, kurz vor Mariä Himmelfahrt, dem höchsten Feiertag. Es ist heiß. Louis Arthur Schongauer lebt oberhalb des Gardasees in einem alten Steinhaus mit seiner Hündin Ascha und einem Revolver. Früher spielte er in Hollywood Nebenrollen als Nazi, jetzt ist er einsam und wartet auf seinen 75. Geburtstag. Da bleibt eine junge Reisebloggerin mit ihrem Wohnmobil in seiner steilen Zufahrt hängen. Keine Handwerker zu Hand, kurz vor dem Feiertag, also wird sie erstmal bleiben müssen. Für den darauffolgenden Tag erwartet Schongauer eine Autorin, die ein Portrait über ihn schreiben will. Zwei Frauen, die da hängen bleiben, ihn in seinem Alleinsein stören, irgendwie fürchtet er sie. Geichzeitig genießt er das sanfte Chaos, das sie verbreiten. Allerdings fangen sie an, private Dinge zu erfragen und in seinen Wunden zu stochern. Vor allem die Autorin ist dabei sehr treffsicher und penetrant. Und dann taucht auch noch die Mutter der Bloggerin auf. Kirchhoff, ein alter weißer Mann, schreibt über einen alten weißen Mann, und man kann nicht anders, als diesen Schongauer zu mögen, ein bisschen widerwillig, aber naja, so ist es eben. Der Mann ist einsam, will es eigentlich nicht sein, aber mit Menschen will er eigentlich auch nicht sein. Vor fünf Jahren ertrank seine Partnerin Magda vor seinen Augen, und er merkte es erst gar nicht. Sie war Tierfotografin und unmittelbar vorher hatte sie noch ein totes Pferd fotografiert, das genau dort ertrunken war. Dieses letzte Foto hängt nun riesengroß aufgezogen in Schongauers Haus. Einmal denkt er: "Magda, das kann sie [die Autorin, die Schongauer interviewen will] sich eigentlich denken, war kein Bund fürs Leben, sondern für das Vorankommen von Magdas Arbeit als Fotografin." (179). Wie kann Schongauer so brutal ehrlich gegenüber sich selbst sein! Wessen Herz macht sowas mit. Und tatsächlich, sein Herz ist nicht fit, er hat schon einen Stent, ist kurzatmig, und immer wieder ist er sich dessen bewusst, dass er etwas "noch" kann: Sein Boot flottmachen zum Beispiel. Man fragt sich, wo das hinführt, und eines Tages ruft der eifersüchtige Ehemann der Autorin an. Der ist Kardiologe, seine Frau überlässt das Telefon Schongauer - und dann folgt das geilste Telefonat, das ich je gelesen habe (288ff). Ab da erwartet man eigentlich das Ende, Schongauer auch, und er handelt entsprechend. Aber an seinem Geburtstag erlebt er eine Überraschung, und, ja, wie geht es nun weiter? Tolles Buch! Großes Lob an die Kollegen von CORRECTIV für ihren ebenso wichtigen wie schockierenden Artikel "Geheimplan gegen Deutschland"! (Beachtenswert: Das "gegen" im Titel ...) Lobenswert sind nicht nur die Recherche und der Artikel, sondern auch das Drumherum, also die knappe Beschreibung des "Making-Of" und den Liveticker über die Folgen der Recherche. Sehr gut, dass Ihr das an die Öffentlichkeit gebracht habt - Glückwunsch! Ausnahmsweise ein Nicht-Krimi, stattdessen ein Sachbuch: Rainer Moritz, Das Buch zum Buch. "Was Sie schon immer über Bücher wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten" - Rainer Moritz (oder ein Verlagsmitarbeiter. Jedenfalls derjenige, der den Text für die hintere Umschlagseite, der heutzutage auch unter "Klappentext" fällt (S. 101) geschrieben hat.) wandelt einen Satz von Woody Allen um. Tja, vieles hätte man vielleicht zu fragen gewagt - wenn man bloß wüsste, wen! Wer kann solche Fragen beantworten: Was ist ein Fräuleinwunder? Sind Eselsohren abzulehnen? (Ja!) Was sind Nackenbeißer? (Trivialzeugs mit Sex.) ... Also: Wen fragen? Wer hat Ahnung von Büchern und all dem Drumherum? Antwort: Der Autor von "Das Buch zum Buch". Rainer Moritz ist der Chef des Hamburger Literaturhauses und hat Ahnung. Er schreibt kurzweilige Kapitel zu 65 alphabetisch geordneten Stichwörtern, und er erklärt auch einiges mehr als bloß diese Stichwörter. So erfährt man bei der Lektüre des Kapitels zum Stichwort "Bücherentsorgung", dass allein in Deutschland jedes Jahr rund 90.000 Bücher erscheinen. Bei so einer Zahl kann einem schon schwindelig werden - vor allem, weil, so Moritz, erstens viele von ihnen schlecht sind und zweitens immer weniger gelesen wird. Außerdem kritisiert Moritz aktuelle Trends (?) wie Sensibles Lesen, dekliniert den Autor (im Singular), und schreibt auch ein paar Zeilen zur "Autofiktion", die zu denken geben. Eine besserwisserische Fußnote kann ich mir nicht verkneifen: Moritz zitiert seine Top Ten der schlechtesten Klappentexte (er nennte es seine persönliche Hitliste), und die Nummer Eins hat der zu "Mittwoch" von Wolf Wondratschek inne: "[...] Wir laufen in zu engen Schuhen." Zur Lösung dieses Problems zitiert Moritz den Tübinger Orthopäden und Fußspezialisten Dr. Norbert Becker (der war übrigens auch mein Arzt, leider ist er inzwischen in Rente, ein echter Verlust für Sportler!), der einen Zentimeter Zugabe vor den Zehen empfiehlt. Tja - das ist der Rat, um nicht zu enge, sondern zu kurze Schuhe zu vermeiden. Aber egal, Moritz hat mit feiner (Selbst-)Ironie einen lesenswerten, ja, Ratgeber verfasst. Macht Spaß und ist informativ. Kurz: Lohnt sich! Dezember 2023Neue KrimisMonika Geier, Antoniusfeuer. Kriminalkommissarin Bettina Boll ist mit den Kindern ihrer verstorbenen Schwester in ein altes Haus in der Pfalz gezogen. Es ist das Haus ihrer ungeliebten Tante, und die hatte eine Leiche im Keller. Eigentlich arbeitet Bettina Boll bloß halbtags, aber nun soll sie einen Tod im Jugendgefängnis untersuchen, einem verschwundenen Sozialarbeiter aufspüren, bemalte Marienbilder entschlüsseln, und sich mit Drogen und Dämonen beschäftigen. Zu viel, und vor allem: total skurril. Ich habe schon eine ganze Reihe Krimis gelesen, in denen Religion eine Rolle spielte; die meisten waren langweilig oder schlichtweg dumm, weil die Autoren keine Ahnung hatten. Geier dagegen hat Ahnung - am Schluss dankt sie allen Schwestern des St. Franziskus-Gymnasiums in Kaiserslautern, die ihre katholische Bildung begründet haben - und der Krimi ist richtig toll: Die Handlung ist verrückt - so etwa geht es auch um Dämonen und ihre Austreibung, also Exorzismen - aber glaubwürdig. Die Menschen sind vielschichtig, die Handlung schlägt immer wieder überraschende Volten. Ein großes Lesevergnügen! Toll. Tibor Rode, Der Wald. Im Jahr 2023 erhalten überall auf der Erde Tausende Menschen Post: Päckchen, kaum größer als ein Briefumschlag, leicht, und darin unbekannte rote Samen. Viele Empfänger säen die Samen aus - und dann nimmt das Unheil seinen Lauf: Eine Planze einer bis dahin unbekannte Spezies wächst heran und zerstört alles um sich herum: Menschen, Tiere, andere Pflanzen. Der Biologe Marcus Holland und die Botanikerin Waverly Park versuchen herauszufinden, woher diese Päckchen kommen. Sie ermitteln unheilige Allianzen, geraten selber in Gefahr - und entdecken eine monströse Gefahr für die gesamte Menschheit. Ein Science Fiction-hafter Thriller, der im Jahr 2023 spielt - das muss man erst mal wagen! Aber Rode schafft das durchaus glaubwürdig. Sein Buch erinnert ein bisschen an den alten Bestseller "Der Schwarm": Eine Spezies scheint plötzlich der Menschheit entgegenzustehen. Rode schreibt spannend, aus der Sicht verschiedener Protagonisten und Antagonisten, und er verflicht mehrere Zeitebenen. Das ist nicht einfach, aber ihm ist es gelungen: Ich habe das Buch an einem Tag durchgelesen. Wenige kleine Fehler, z.B. kann man auch aus roten Trauben Weißwein keltern (https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-verstehen/haetten-sies-gewusst/pflanzenbau/weisswein-aus-roten-trauben-geht-das), anders als Rode suggerieren lässt (131). Haare bindet man zu einem Pferdeschwanz; zu einem Zopf werden sie geflochten (135, 164). Aber sowas kann man vernachlässigen. Tragisch, dass das Goethe-Museum in Weimar in Flammen aufgegangen ist (224) - wie gut, dass ich vorher noch dort war ;-) Sehr gut. Max Bentow, Engelsmädchen. Das Buch beginnt mit einem Mord, erzählt aus der Sicht des Mörders. Es fährt fort mit einer Begegnung in einem Club, die für eine Profilerin mit Ohnmacht und Ungewissheit endet. Dann nimmt sich eine Jugendliche das Leben - und direkt vorher nennt sie den Namen eines seit vielen Jahren vermissten Mädchens. Der Berliner Kommissar Nils Trojan und die Kriminalpsychologin Carlotta Weiss versuchen, den Todesfall aufzuklären. Dann sterben noch mehr Menschen und Trojan und Weiss stellen fest, dass sie einem Serienmörder auf der Spur sind. Sicher sind auch Polizisten manchmal unprofessionell, aber einiges im Verhalten von Carlotta ist unglaubwürdig unprofessionell: Dass sie ihre Waffe mit in den Club nimmt etwa, dass sie ein Beweismittel verbrennt oder dass sie unbewaffnet eine Verfolgung aufnimmt. Und warum schrieb der Mann, der sie im Club belästigte, ihr seine Handynummer auf den Arm? Feministische Kritik: Der Polizist hat einen Nachnamen, die Polizistin nur einen Vornamen. Außerdem rettet er ihr gleich zweimal das Leben. Feministisches Lob: Sie kann gut schießen - und hacken. Der "Verlust" der Jungfräulichkeit (S.33) ist umstritten, da stehe ich aber eher beim Autor. Kurz: Ein Thriller ohne großen Anspruch, aber ein spannender und netter Zeitvertreib. Gut. Christine Brand, Todesstrich. Das Buch beginnt mit einem Mord, erzählt aus der Sicht des Opfers, einer Prostituierten. Dann geht es um die Lebenden: Lisa Kunz ist die neue Leiterin des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern, und sie hat einen Mann, der richtig gut kocht - leider kann sie wegen ihrer vielen Überstunden oft nicht mit ihm zusammen essen. Renate Berger war drogensüchtig gewesen, war clean geworden mit Mann und Kind, aber dann fiel sie zurück. Bruno Bärtschi lebt mit seiner Mutter auf einem Bauernhof - alle acht Geschwister sind fort und seine Mutter weiß nicht recht, was mit ihm anzufangen ist. Die Autorin erzählt die Geschichten der drei Menschen, die zu einer Geschichte wird. Dann verschwindet noch eine Prostituierte. Das Buch war schon im Jahr 2009 erschienen; Atlantis hat nun eine grundlegend überarbeitete Neuausgabe herausgebracht. Todesstrich ist "inspiriert" durch ein tatsächlich geschehenes Verbrechen. Die Geschichte ist spannend, die Autorin schreibt hinreichend gut, manchmal wäre etwas Zurückhaltung angebracht: "Niedergeschlagen fuhr er mit dem Bus nach Hause. Er fühlte sich, als hätte sich eine schwere Last auf seine Schultern gelegt, Steine, die ihn niederdrückten und Schatten warfen auf sein Herz." (175) Für meinen Geschmack zu dick aufgetragen. Kein großer Wurf mit Anspruch, aber insgesamt ein recht spannender Krimi. Ganz gut. November 2023Neue KrimisMatthias Wittekindt, Fünf Frauen. Manz´ Enkel Matti wird konfirmiert. Im Gottesdienst trägt er das Gedicht "Wer bin ich?" von Dietrich Bonhoeffer vor. Das erinnert Manz an einen Fall vor 40 Jahren: Im Frühsommer 1983 wurde die Leiche eines Pfarrers in einer Neuköllner Altbauwohnung entdeckt. Und obwohl alle Hausbewohner versicherten, eine gute Beziehung zu ihm gehabt zu haben, dauerte es eine ganze Woche, bis die Polizei gerufen wurde. Und Manz bekam immer mehr das Gefühl, dass die Menschen im Haus nicht das waren, was sie zu sein vorgaben. Wittekindt legt mit "Fünf Frauen" den vierten Band um Kriminaldirektor a.D. Manz vor. Wieder kommen bei einem Ereignis im Hier und Jetzt alte Erinnerungen an einen Fall hoch. Wittekindt bleibt ganz nah an Manz, an seiner damaligen Arbeit, seiner Familie, wie sie damals war, und der Familie, wie sie jetzt ist. Mit gemeinsamen Erinnerungen - aber auch Erinnerungen, die Manz und seine Frau eben nicht teilen, etwa was das Verhalten ihrer früheren Vorgesetzten betrifft. Er schreibt lakonisch, auch düster, man spürt beim Lesen Manz´ Älterwerden, Altsein, vielleicht ist es das düsterste Buch der Reihe bisher, und doch liest man es gern, es ist spannend und lässt einen nicht los. Toll. Andreas Pflüger, Wie Sterben geht. 1979 bis 1983, ungefähr. Nina Winter arbeitet beim BND am Schreibtisch und langweilt sich ein bisschen. Rem Kukura, Deckname Pilger, TOP-Agent des BND beim KGB, will nur weiter spionieren, wenn Winter als seine Führungsoffizierin nach Russland kommt. Für Winter eine großartige Chance, sie lernt in Windeseile Verfolgung und das Abschütteln von Verfolgern, den Gebrauch von toten Briefkästen etc. Sie geht nach Moskau, arbeitet dort fast vier Jahre lang, erfolgreich. Dann soll Schluss sein und Pilger gegen den Sohn eines Politbüromitgliedes ausgetauscht werden. Und da fliegt die Glienicker Brücke in die Luft, mitsamt Winter und Pilger. Pflüger hat wieder einen sehr spannendenThriller vorgelegt, der sich richtig gut liest. Er ist nicht ganz unkompliziert, immer wieder schlägt die Handlung neue Volten, und die Agenten verstehen die gegnerischen Bemerkungen meist etwas schneller als der Leser. Und Nina Winter ist eine kluge und starke Heldin, völlig übertrieben, aber wen stört das? Eben ein weiblicher James Bond. Wie seine Heldin Jenny Aaron in der Trilogie Endgültig/Niemals/Geblendet - die hier übrigens angekündigt wird. Aber, und das ist immer ein bisschen mein "Aber" bei Pflügers Büchern, er macht seinen Helden das Töten etwas zu einfach: Bei James Bond ist es entweder direkte Notwehr oder ironisch übertrieben, bei Andres Pflügers Heldinnen wirkt es mir etwas zu sehr gerechtfertigt. Dennoch: Sehr gut! Roger Graf, Ticket für die Ewigkeit und Tödliche Gewissheit: Dies sind die Bände 2 und 3 der Reihe um Philip Maloney, und sie sind die beiden ersten Fälle um Maloney und Jasmin Weber. (Der erste Band um Maloney, "Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney", geht teilweise auf die gleichnamige Hörspielserie zurück (seit 1989 sonntags in den Schweizer Radios DRS3 und SDR3) und ist auch als Taschenbuch erschienen.) Jetzt bringt der Atlantisverlag, der zum Kampaverlag gehört, fünf Bücher neu heraus. Diese beiden waren zuerst in den Jahren 1994 bzw. 1995 im Verlag Ricco Bilder in Zürich erschienen. Das war der Hintergrund; jetzt zur Handlung: Privatdetektiv Philip Maloney bekommt eine neue Nachbarin, Jasmin Weber, Detektivin, sie sagt, sie sei spezialisiert auf vermisste Personen. Er hat nichts, sie hat zwei Fälle - eine Frau erhält seltsame Postkarten und vermutet als Absender ihren Vater, den sie aber nie kennengelernt hat; ein Journalist ist verschwunden - und gibt ihm einen ab, den er widerwillig annimmt und nun ständig über Leichen quasi stolpert und sich mit einem etwas dussligen und faulen Polizisten herumärgert. Im nächsten Band findet Maloney einen Erhängten - der aber angeblich schon seit zehn Jahren tot ist. Graf schreibt Krimis, die zwischen klassisch und skurril oszillieren. Es geht um Mittel fürs ewige Leben und um Erpressung, um zur Macht zu gelangen; die Geschichen sind absurd genug für eine Persiflage aufs Krimigenre, aber glaubwürdig genug, um spannend zu sein. Außerdem hat Graf einen richtig guten Stil, Maloney ist herrlich lakonisch: "Ein Langhaariger humpelte auf zwei Krücken über die Straße und stieß laute Verwünschungen aus. Und zwei Straßen weiter sang die Heilsarmee von einem anderen Langhaarigen." (Ticket: 76) "Ich drehte mich mitten in einem der Sätze um und ging. Hinter mir hörte ich ihn weiterreden; er war es sich [sic!] gewohnt, dass ihm niemand zuhörte." (Ticket: 164) Ab und an ist Graf verblüffend aktuell (Seminar über Rassismus in uns, Ticket: 21; Epidemien, Ticket: 101). Nur wenige kleinere Fehler (Schwarzdrosseln muss man nicht auf einem Hügel beobachten, die sind Kulturfolger und häufig, Ticket: 187; Tränen "purzeln" nicht, Gewissheit: 134). Die Lektüre lohnt sich! Gut bis sehr gut. Constanze Scheib, Mord im Dreivierteltakt. Wien, 1973: Ehepaar/Zweckgemeinschaft Ehrenstein besucht den Philharmonikerball. Dort begegnet Herr Ehrenstein einem Herrn Hall, und diese Begegnung verläuft so merkwürdig, dass "gnä´ Frau" Ehrenstein neugierig wird. Sie macht sich auf, dem Herrn hinterherzuspionieren, und weil der ein kleines Theater leitet, lässt sie sich als Mäzenin einspannen. Es stellt sich heraus, dass der Star des Theaters, eine ehemalige Primadonna, erpresst wird. Frau Ehrenstein ermittelt - und ihr Dienstmädchen Marie, ihre heimliche Vertraute, hilft ihr. Es ist nicht schlecht geschrieben, aber auch nicht gut. Immer wieder ein paar Adjektive zu viel, z.B.: "Der junge Mann nickte eifrig, die Primadonna ging von der Bühne, und die Schauspieler atmeten lautstark durch." (47) Nicht einfach, so ein Krimi in den "höheren Kreisen": Wenn "gnä´ Frau" und ihr Dienstmädchen sich gut verstehen, dann fragt man sich, ob Standesunterschiede verharmlost werden, dabei waren solche Allianzen wahrscheinlich gar nicht so selten. Anders herum wirken Maries Vorträge in Soziologie, etwa betreffend die ärmliche Nachbarschaft des Theaters: "Ah, gehn´S, Frau Ehrenstein. Des san keine daherg´laufenen Verbrecher da drauß´n, des san junge Leut, die in den maroden Häusern wohnen, wo sonst kaner mehr leben mag. Die tun kanem was." (92) auf mich dick aufgetragen. Ein Wohlfühlkrimi, ja, aber ist er ehrlich mit seiner ironischen und liebevollen Sozialkritik? Vielleicht ja, aber dann habe ich das Gefühl, man will mich erziehen. Abgebrochen S. 94. - Allerdings gehöre ich scheinbar zu einer Minderheit; die Krimiserie um "Gnä´ Frau ermittelt" ist durchaus erfolgreich. Nicht mein Geschmack. Kerstin Ruhkieck, Meine Lüge ist Deine Wahrheit. Elena, Teresa und Miriam sind miteinander verbunden, und ein gemeinsam verbrachter Sommer war das Ende ihrer Freundschaft - offensichtlich aber auch der Anfang einer anders gearteten Verbindung. Die drei haben mehr oder minder erfolgreich versucht, diesen Sommer zu vergessen, aber plötzlich, Jahre später, bekommen sie seltsame Briefe, werden bei Anschlägen verletzt, treffen sich wieder und müssen ihre Erinnerungen ausgraben. Ein interessanter Plot, und Kerstin Ruhkieck legt ihn mit den Kapiteln aus wechselnden Perspektiven interessant an. Dennoch nicht gut. Es fängt mit der Grammatik an: "Er beugte sich über sie, seine Erektion deutete anklagend in ihre Richtung, nannte sie Schlampe und Hure." Seit wann kann eine Erektion sprechen? (31) Nicht nur solche Sexszenen, sondern auch zu viele Adjektive lassen den Text billig wirken: " Er [...] vervollständigte seine geordnete Erscheinung, indem er ihn [den Gürtel] mit falscher Gelassenheit durch die Laschen seiner Jeans zog." Was ist falsche Gelassenheit? (35) Der Satz auf S. 90 unten ist unvollständig. Bilder sind schief ("Teresa verschmolz mit dem dunklen Wohnzimmer, wurde zu einer von der Glut des Feuers skizzierten Statue ...") Hätte da nicht mal ein Lektor lesen können? Das Ganze ist auch etwas wirr, ich fand nicht rein; zwar hätte mich interessiert, was in dem Sommer passiert ist, aber das Buch hat mich zu sehr genervt. "In Deinen Augen der Tod" von derselben Autorin war ein sehr guter Thriller (Rezension August 2022), ich hoffe, Ruhkiecks nächstes Buch wird wieder so gut - vielleicht hat sie sich bei diesem hier bloß zu sehr beeilt. Gelesen bis S. 134. Langweilig. Maren Lassander, Kreuzschmerzen. Maren Lassander ist das Pseudonym einer Schweizer Autorin und "Kreuzschmerzen" ist ihr Krimidebut. Protagonistin L. scheint Archäologie zu studieren und der zweite Protagonist Jorne war mal Bergführer. Gemeinsam stahlen sie lange Zeit Reliquien aus Kirchen, nun werden sie von der Polizei gesucht und haben sich zurückgezogen. Da meldet sich nochmal ihr alter Auftraggeber und will, dass sie ein Brustkreuz der Tempelritter stehlen, das sich in einer sehr abgelegenen Krypta in einem Hochtal befinden soll. L. hat sehr schlechte Erfahrungen mit Kirchenleuten gemacht und nun soll man ihre Beschimpfungen lesen. Die sind weder lustig noch aufregend. Wer so etwas in gut lesen möchte, versuche es bei Jenny Hval (Gott hassen) oder Lucas Rijneveld (Was man sät). Auch die Vorbereitung auf den Raub sind einfach nicht spannend. Gelesen bis S. 182. Langweilig. Kunst in StuttgartNoch bis einschließlich Sonntag den 5. November zeigt das Kunstmuseum Stuttgart „Wolfgang Laib. The Beginning of Something Else“. Laib ist kein Künstler im herkömmlichen Sinne, also kein Maler und als Bildhauer auch sehr ungewöhnlich. Die Ausstellung beginnt im dritten Obergeschoss. Dieses besteht, neben dem Treppenhaus natürlich, aus einer einzigen großen Halle, in der Laib ein „Reisfeld“ installiert hat: lauter Häuflein aus Reis bilden lange Reihen, dazwischen stehen zwei Treppen und ein Zikkurat. Im Verlauf der Ausstellung zeigt er einen gelben Teppich aus Blütenstaub von Kiefern. So etwas habe ich noch nie gesehen. Man darf sich nicht allzusehr nähern, aber man kann das Werk vom Nebenraum betrachten oder, der ungewöhnlichen Architektur des Kunstmuseums sei Dank, von oben. In einem anderen Raum stehen Häuschen aus Bienenwachs – ein unbeschreiblicher Duft. Im Untergeschoss kann man einen "Wachsraum" aufsuchen, eine dauerhafte Installation im Museum, dabei handelt es sich um einen bedrückend engen Gang in einer Konstruktion aus Holz und Bienenwachs. In Stuttgart steht eine von weltweil sieben derartigen Installationen. „Sein Denken und Schaffen stellt seit Ende der 1970er-Jahre Fragen an unser Sein und Handeln als Teil fragiler Lebensräume und könnte darin nicht aktueller sein“, so die Ausstellungsmacher. Ich fand keinen rechten Zugang. Die Erklärung zu einem Bild von Dix z.B. kann ein Aha-Erlebnis ein und ich habe das Gefühl, ich habe etwas verstanden; ich bekomme außerdem Respekt vor dem Künstler, der die Grauen der Zwischenkriegszeit gezeigt hat. Lese ich Erläuterungen zum Werk von Wolfgang Laib, übrigens ein promovierter Mediziner, denke ich „na und?“ und würde lieber einen Sachtext über Umweltschutz lesen. Aber wahrscheinlich gehöre ich damit zu einer Minderheit; vielfach scheint Laibs Kunst aufrüttelnd zu wirken und zu bewegen. So nahm er schon an der Biennale in Venedig und zweimal an der Documenta teil. Also, wer das mag oder neugierig ist: Nix wie hin; am Sonntag um 11 Uhr wird noch einmal der "Milchstein" - eine besonders bekannte Installation von Laib „befüllt“ – Mitarbeiter des Museums gießen Milch auf eine weiße Marmorplatte, dann sollen sich die Materialien vorübergehend verbinden. Neue KrimisRegina Nössler, Kellerassel. Die Protagonistin dieses Buches, Isabel Kepler, kennt man aus "Katzbach" (Dezember 2021). Die Ereignisse aus "Kellerassel" finden danach statt, beziehen sich teilweise darauf, sind aber auch allein verständlich. Kepler ist noch genau so chaotisch, aber nicht mehr ganz so arm, weil sie Geld erpresst hatte. Das reicht nicht mehr lange und nun will sie die Erpressung wiederholen. Stattdessen wird sie bedroht. Sie arbeitet in einem Impfzentrum, ebenso wie Oliver, der ihr nachsteigt und extrem nervt. Außerdem lernt sie zufällig Antonia kennen, die kürzlich nach Berlin gezogen ist, und die auf überraschende Weise mit ihrem Lover verbunden ist. Der Sommer ist heiß und die Leute werden aggressiv. Kellerassel ist ein herrlich skurriler Thriller von Regina Nössler. Mal weiß man mehr, mal weniger als die Protagonistin, mal mehr und mal weniger als Oliver, und Nössler führt ihre Leser andauernd an der Nase herum - und das macht Spaß. Sehr gut. Frank Göhre, Harter Fall. Hamburg und Jamaika, Ende der 1970er Jahre: Eine Dänin trampt nach Flensburg. Ein junges Mädchen wird in Hamburg tot aufgefunden. Drei junge Männer reisen nach Jamaika. Eine junge Frau beginnt eine Affäre mit einer Kiez-Größe. Terroristen der RAF werden gesucht. Alles hängt irgendwie zusammen, allmählich entwirrt sich ein Knoten nach dem anderen, und am Schluss auch das Rätsel um die Tote. Wie so oft bei Göhre kommt vieles anders als man denkt, und die Menschen werden desillusioniert, meistens auf die harte Tour. Frank Göhre ist immer für Überraschungen gut. Inhaltlich, in Prinzip auch formal - auch wenn er für seine Stakkato-Sätze bekannt ist - und diesmal, ganz neu, für den Aufbau: Er wechselt immer zwischen der Handlung des Buches und der Handlung des Filmes "The harder they come"; einzelne Szenen daraus stellt er manchen Kapiteln als eine Art Prolog voran. Ich konnte das Buch nicht einfach so nebenbei lesen, erstens muss man den Film (den ich nicht kenne) im Hinterkopf behalten, zweitens folgt Göhre in seinen kurzen Kapiteln immer wechselnd vier, fünf Gruppen von Protagonisten. Manchmal übertreibt er etwas, vor allem bei einer oder zwei Kampfszenen bin ich hängen geblieben. (Wer schlägt mit der Rückhand???, S.20. Und der Vermieter müsste, um strampeln zu können, eigentlich erst zu Boden gehen, S.54.) Ein Erlebnis der besonderen Art war schließlich die Lektüre der Predigt (72f), die erinnert mich an die Botschaften meines Großvaters. Insgesamt: Sehr gut. Zoe Beck, Memoria. Deutschland, ein Sommer in naher Zukunft: Eine einigermaßen dystopische Welt mit Bränden, großen Unterschieden zwischen Armen (von denen es sehr viele gibt) und Reichen, aber immer noch mit Kaufhäusern und Musik. Harriet, Anfang 30, früher eine angehende Konzertpianistin, jetzt eine arme Frau, rettet eine ältere Frau vor einem Feuer. Harriet kennt sie nicht, aber die Frau scheint sie zu kennen. Dies Erlebnis lässt nach und nach Erinnerungen auftauchen, die nicht mit Harriets anderen Erinnerungen über ihr Leben zusammenpassen. Sie weiß nicht mehr, was sie erlebt hat und was sie nicht erlebt hat, und vor allem: was sie erlebt hat, ohne sich daran zu erinnern. Sie fängt an, nachzuforschen - und muss plötzlich um ihr Leben fürchten. Zoe Beck hat wieder einen spannenden und intelligenten Thriller geschrieben, der in naher Zukunft spielt. Und sie hat wieder ein Thema aufgegriffen, das in Deutschland in den Nullerjahren in die Medien kam (z.B. hier und etwas später hier) und mich seitdem beschäftigt, es ist unheimlich. Erinnerungen sind nicht nur notorisch unzuverlässig, sondern Beck zwingt zum Nachdenken über die Frage: Wem gehört eine Erinnerung?! Man fühlt mit Harriet mit. Sehr gut. Eberhard Michaely: Frau Helbing und der Casanova aus Winterhude. Frau Helbing hat von ihrer Freundin Heide einen Wassergymnastik-Schnupperkurs zu Weihnachten bekommen. Der macht ihr Spaß, nur der einzige Mann im Kurs, Herr Hoyer aus Winterhude, ist ein nerviger Gockel. Erst baggert er die ehemalige Schauspielerin Olga Suditzky an und als nächstes Ingeborg Kappel, mit der Frau Helbing sich gerade anzufreunden begann. Aber dann wird Frau Suditzky tot aufgefunden - ermordet! Frau Helbing macht sich an die Aufklärung, obwohl die ermittelnden Polizisten nicht mehr mit "Amateurdetektivinnen" reden dürfen - Dienstanweisung (oder so). Einer der seltenen Wohlfühlkrimis, der mir wirklich gut gefällt (und sicher nicht nur, weil ich in Hamburg geboren bin). Ich mag, dass Frau Helbing und Heide Freundinnen sind, obwohl sie so unterschiedlich sind, und obwohl Heide auch ziemlich reich/gebildet/arrogant ist. Und die etwas altmodische, verschmitzte und liebenswerte Frau Helbing ist lebenstüchtig (die Szene mit dem Lammbraten geht zu Herzen) und entdeckt in jedem Band etwas neues Kulturelles in Hamburg, nach unter anderem Musik und Kunst ist es jetzt das Theater, allerdings gefällt ihr das Stück von Peter Handke nicht (es würde mir, glaube ich, auch nicht gefallen). Kurz: Ich liebe diese Krimis sehr - und im nächsten hätte ich gern wieder etwas mehr Interaktion mit Heide und vor allem Herrn Aydin. Gut bis sehr gut. Susan Kreller, Salzruh. Ein paar Urlaubsgäste treffen sich scheinbar zufällig in einer heruntergekommenen Pension in der Altmark. Unvermittelt teilt die Wirtin ihnen mit, dass sie die Pension nicht verlassen dürfen. Zu ihrer eigenen Sicherheit, sagt sie. Aber wovor sie sicher sein sollen, worin die Gefahr besteht, das sagt sie nicht. Durch die Fenster betrachten die Urlauber den Wald und ein altes Schloss, früher ein beliebtes FDGB-Erholungsheim. Das Setting verspricht ein interessantes Kammerspiel, und die Autorin belässt es nicht dabei, sondern sie hat eine Reihe skurriler Charaktere erschaffen und sie schreibt wirklich intelligent. Leider konnte ich mit dem Buch nichts anfangen, diese Menschen, die sich nicht raustrauen (wahrscheinlich hängt es mit ihrer Vergangenheit zusammen), haben mich einfach nur genervt. Abgebrochen auf Seite 158. Geschmacksfrage, daher: wahrscheinlich sehr gut. Marcel Huwyler, Frau Morgenstern und der Abgrund. Die pensionierte Grundschullehrerin Violetta Morgenstern und der Ex-Söldner Miguel Schlunegger sind erfolgreiche Profikiller und richtig nett, manchmal jedenfalls. Und natürlich nur, wenn es dem jeweiligen Auftrag nicht schadet. Gerade haben sie einen eigentlich auch ganz netten Menschen ermordet, als sie ihrerseits einen Mord aufklären sollen: Ein Enthüllungsjournalist mit, nun ja, nicht ganz astreinem Ruf wurde erschossen, und eine Kollegin von ihm glaubt nicht, dass es ein bloßer Raubüberfall war. Violetta und Miguel recherchieren - und kommen einer furchbaren Geschichte auf die Spur, die sich 86 Jahre vorher zugetragen hat. Liegt da des Rätsels Lösung? Ein ungewöhnliche Krimi einer offensichtlich erfolgreichen Reihe: Frau Morgenstern und der Abgrund ist schon der fünfte Fall für die alte Dame. Das Buch liest sich in der Tat gut. Huwyler hat originelle Ideen, von der Gangster-WG selbst (herrlich banal: S. 79) über ihre Unterkunft bis zu den vielen Wortspielen. Ein bisschen zu meckern: Zum Beispiel scheint die Wundversorgung mit Sekundenkleber tatsächlich zu funktionieren, aber die Anleitung auf S. 38 liest sich, als sollte man ihn auf die Wundfläche selbst tun, ich fand online aber den Hinweis, dass man gerade das NICHT tun sollte. In der Szene um S. 120 sind Violetta und Miguel etwas zu offen mit ihrer Selbstauskunft. Sowas, halt Kleinkram. Keine große Literatur (weder die psychologische Tiefe von Patricia Highsmith bei Tom Ripley, noch eine wirkliche Reflektion des eigenen Tuns: Die Überlegungen beim ersten Mord sind etwas platt, auch keine Satire wie etwa in "Achtsam Morden"). Aber nett zu lesen. Ganz gut. Sascha Michael Campi, Demaskiert. Bern, zur Corona-Zeit. Alina Leipold feiert mit ihrer besten Freundin ihren 18. Geburtstag und verschwindet nach einem Streit. Matteo Meier ist schweizweit bekannt, weil er gegen Coronamaßnahmen der Regierung auftritt. Der ehemalige Kriminalbeamte Walter Lehmann und die Witwe Lisi Badou eröfffnen ein Detektivbüro und suchen erst nach einer Katze, dann nach Alina. Alles hängt zusammen, aber wie und warum? Ein mittelspannendes und nicht besonders gut geschriebenes Buch. Etwa so eine Sexszene "… sie schauten sich sehnsüchtig und innig in die Augen, die Lippen zogen sich gegenseitig an, beinahe schon magnetisch, bis sie sich berührten, sie sich öffneten und so ihren Zungen den Weg zum Zungentango ebneten" (62) ist platt. Daneben ist viel unlogisch: "`Du musste dir abgewöhnen [da fehlt ein Komma] allen zu versprechen, dass wir die Vermissten zurückbringen ...`" (72) - Die Angesprochene hatte ein derartiges Versprechen zum ersten Mal gegeben, hatte es sich also gar nicht angewöhnt. Und die Katze hatte die vier Mäuse entweder gefressen, ODER man fand deren "Leichen" (79). Ich hätte zwar gern gewusst, wie die Geschichte ausgeht, aber sooo spannend war es nicht und solche Schlampereien ärgern mich, darum habe ich auf S. 100 aufgegeben. Nicht gut. Benjamin Stückelberger, Asche zu Asche und Auf der Kanzel. Autor Benjamin Stückelberger war jahrelang Pfarrer in der Schweiz. Protagonist Roger Gabathuler hat zwölf Jahre lang bei der Kantonspolizei Zürich Frauenhandel und Organisierte Kriminalität bekämpft. Nach einem Einsatz mit mehreren Toten hat er den Polizeidienst quittiert, er studierte Theologie und tritt nun seine erste Pfarrstelle an (Auf der Kanzel). Kaum angekommen, muss er feststellen, dass sein Pfarrhaus vermietet ist an Asylbewerber - die er als russische Mafiosi, üble Gestalten im Frauen- und Drogenhandel wiedererkennt. Er versucht, sich des Problems zu entledigen (so salopp kommt es tatsächlich herüber), aber dann kommt ein Killerkommando, das ihm an den Kragen will. Im nächsten Band (Asche zu Asche) beerdigt er eine Frau und muss danach erfahren, dass sie keinesfalls eines natürlichen Todes gestorben ist. Und bald muss er versuchen, zwei Zwangsprostituierte zu retten. Neben all dem hat er Ärger mit Familie und Freundin aber er hat auch Sex und geht spazieren. Und bringt Leute um - aber nur böse Leute. Er wirkt dabei aber weder zerrissen noch cool, sondern unglaubwürdig und nichtssagend. Es hätte so eine feine Serie werden können, vielleicht ein moderner Pater Brown, aber die beiden einzigen Stellen, die ich in puncto Kirche/Glaube/Religion lustig bzw. interessant fand, waren die Beschreibung einer quälend langatmigen Sitzung der Kirchenverantwortlichen mit ihrer Diskussion über die Vorzüge und Nachteile von Baby-Klavier, Spinett etc., und die Beschreibung des Glaubensinhaltes der christlichen Religion, nämlich der Glaube an den Gekreuzigten, ein Skandal: In anderen Religionen wird die Allmacht Gottes beschworen, nur im Christentum eben der leidende Gott (Kanzel, 85). Aber bei Stückelberger geht es um Sozialdarwinismus, genauer Religionsdarwinismus: Dies nämlich sei ein entscheidender Vorteil im Überlebenskampf der Religionen, im "religiösen Survival of the Fittest". Von einer inneren Wahreit des Christentums, vom Glauben ist hier nicht die Rede und da ist man wirklich froh, dass der Autor nach 15 Jahren den Pfarrberuf aufgegeben hat und nun Musicals und Krimis schreibt (die man zum Glück nicht hören bzw. lesen muss). Unerhört platt auch der ganze Rest: Etwa (Asche, 65f), wie der Pfarrer anhand der Krebserkrankung einer Frau den Reichtum des Pfarrberufes beschreibt - sicherlich gibt es im Umgang mit Todkranken viel zu lernen, aber es geht um die Kranke, nicht um den Pfarrer. Die ganze Zeit vermittelt Stückelberger einen Egoismus und eine Egozentrik, die schwer erträglich ist, und die er auch nicht glaubwürdig problematisiert, weder, indem er den Pfarrer als komplexe Persönlichkeit erzählt (manche Autoren legen solche Protagonisten als Alkoholiker an), noch in seiner eigenen Rolle als allwissender Autor. Die Bücher sind eitel. Gar nicht gut. Oktober 2023Kunst in BerlinNur noch bis zum 22. Oktober 2023: Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann in der Alten Nationalgalerie. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fanden immer mehr Künstler die akademischen Strukturen überholt und einige besonders Fortschrittliche und Mutige gründeten Secessionen als Abspaltungen von traditionellen Künstlervereinigungen. Sie bereiteten den Weg für die moderne Kunst. Die wichtigsten Secessionen im deutschsprachigen Raum waren München (1892), Wien (1897) und Berlin (1899). Die jeweils prägenden Künstler mit ihren Stilen waren Franz von Stuck mit seinem Symbolismus (München), Gustav Klimt mit seinem Jugendstil (Wien) und Max Liebermann mit seinem Impressionismus (Berlin); allerdings standen die Secessionen generell für viele unterschiedliche künstlerische Positionen, Stile und Richtungen. Nur in der Berliner Secession waren von Anfang an Frauen dabei: etwa Dora Hitz, Sabine Lepsius und später Käthe Kollwitz. Von letzterer wird ein Selbstbildnis gezeigt: ein flächiges Gesicht, es ist ebenmäßig, aber der Ausdruck „schön“ passt nicht. Nicht, weil sie hässlich gewesen wäre, im Gegenteil, aber so ein Wort verbietet sich angesichts der Genauigkeit, mit der sie sich zeigt, sie sieht das Leben wie es ist, und sie sieht es hoffnungslos. So wirkt das Bild auf mich. Die Alte Nationalgalerie will beiden Aspekten - den drei prägenden Künstlern ebenso wie der Vielfalt der Stile - gerecht werden. Sie stellt die drei Secessionen mit ihren „Stars“ aber eben auch insgesamt mehr als 80 Künstler mit über 200 Gemälden, Skulpturen und Grafiken einander gegenüber, dazu Gäste wie Ferdinand Hodler, Edvard Munch und Auguste Rodin. Ferner zeigt sie Themenräume wie „Ablehnung und Aufbruch“ (München lehnte z.B. Salome von Corinth ab, aber in Berlin wurde es ein Erfolg), „Kinderwelten“ (Kinderportraits wurden vor allem für Künstlerinnen eine gute Erwerbsgrundlage) oder „Secession als Marke“ (Secession galt bald als Gütesiegel für fortschrittliche Kunst, und das forcierten die Secessionisten mit Werbekampagnen, Signets etc., so entwarf Thomas Heine ein Plakat mit einer Frau im Tüllrock, die einen etwas widerwilligen Berliner Bären küsst). Lieblingsbilder: Die Sünde von Franz von Stuck (sehr bekannt, aber richtig toll und fies, mit der Schlange, die der Frau über die rechte Schulter guckt. Eva mal nicht dusselig, sondern bewusst erotisch). Judith Holofernes von Gustav Klimt (auch sehr bekannt, und sie guckt den Betrachter mit einem Blick an, der sagt, „ach, Ihr Armen, Unwissenden“, und auf den zweiten oder dritten Blick sieht man dann auch noch Holofernes´ Kopf rechts unten). Und Heinrich Eduard Linde-Walther, Der Maler Gutmann mit Kind (ungewöhnlich, dass Männer Gefühle so zeigten). Tolle Ausstellung - Nix wie hin! Passende Lektüre zur Ausstellung: Elisabeth Sandmann, Der gestohlene Klimt. Wie sich Maria Altmann die Goldene Adele zurückholte. September 2023Neue KrimisMaiken Nielsen, Die Frau, die es nicht mehr gibt. 1977: Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader werden begraben und ein Mädchen schließt sich der RAF an. Sie nennt sich Christiane Gärtringen - und ist plötzlich verschwunden. 1984/85: Die junge Hamburger Fotografin Alex trampt in den Lubéron und schließt sich einer Gruppe von Straßenkünstlern an. Der französische General René Audran wird ermordet. Gegenwart: Alex, inzwischen Kamerafrau in Hamburg, kehrt in den Lubéron zurück und begegnet ihrer alten Freundin Mado wieder. Und die entpuppt sich als jemand anderes. Die Autorin wurde selber in Hamburg geboren, reiste per Anhalter und landete im Lubéron-Gebirge. Wie Alex. So liest sich das auch, man glaubt ihr jedes Wort. Man folgt Alex in den 1980ern, wie sie in Mado eine Freundin findet, die plötzlich verschwindet, wie sie sich in den Seiltänzer Loic verliebt, wie sie immer wieder fotografiert, wie sie Prominente sieht und Menschen, die sich verstecken wollen, wie sie im Sommer schwitzt und im Winter friert. Und man fühlt mit ihr, wenn sie in der Gegenwart der alten Freundin plötzlich gegenübersitzt und diese wieder nur nach und nach mit der Sprache rauswill. Was ist Freundschaft, wer ist ein Mensch wirklich, und wie war es damals mit der zweiten Generation der RAF? Sehr guter, toller Kriminalroman. Jochen Rausch, Im toten Winkel. Mit diesem Band beginnt eine neue Krimiserie, die "Grenzland-Reihe". Die Ermittlerin Marta Milutinovic hat München nach einem schrecklichen Schicksalsschlag und einem schlimmen Fehler verlassen. Nun leitet sie die örtliche Polizeidienststelle in Schwarzbach, eine Kleinstadt im ehemaligen Grenzgebiet zwischen BRD, DDR und CSSR. Eigentlich könnte sie sich zurücklehnen. Stattdessen gräbt sie einen Cold Case um einen toten Abiturienten aus, ermittelt - und gerät in höchste Gefahr. Jochen Rausch hat mit Marta Milutinovic eine interessante Figur erschaffen. Obwohl sie recht spröde ist, rätselt man mit ihr, was damals bloß passiert ist, bangt mit ihr oder eher um sie, und freut sich mit ihr über schöne Erlebnisse. Aber die Stärken der Figur sind gleichzeitig ihre Schwächen, schriftstellerisch betrachtet. Endlich eine Frau, die Schicksalsschläge überlebt und nicht den Rest ihres Lebens als Alkoholikerin fristet, sondern eine, die sich wehrt. Einerseits. Andererseits ist kaum denkbar, dass das Erlebnis ab S. 116 sie so cool lässt, wie es im Buch scheint. Der Krimi ist sehr spannend, aber das letzte Drittel ist weniger glaubwürdig: Johanna und die Gemeindemitglieder wirken unecht, was sie ja in gewisser Hinsicht auch sind, aber die Figuren sind nicht so überzeugend wie etwa Hertmann. Dennoch: Spannende Lektüre. Gut. Christof Weigold, Der böse Vater. Detektiv Hardy Engel sitzt unschuldig ein, als der Medienmogul William R. Hearst ihn zu sich zitiert: Er wird erpresst und Engel soll sein Problem lösen: Dann kommt er frei. Bei der Erpressung geht es um den Tod des Tonfilmpioniers Thomas Ince fünf Jahre zuvor, kurz nach einer Feier auf Hearsts Luxusyacht. Engel vergräbt sich in den Fall und arbeitet auch wieder für - oder gegen? - Carl Laemmle, den Chef von Universal, der aus Laupheim in Baden-Württemberg stammt und dessen Sohn ihn früher sehr bewundert hatte. Weigold hat eine spannende Geschichte um den tatsächlich geschehenen und angeblich nie wirklich aufgeklärten Tod von Thomas Ince gewebt. Sein bewährter Privatdetektiv Hardy Engel ermittelt auf dem Hintergrund des Übergangs vom Stummfilm zum Tonfilm, des Machtkampfes zwischen mächtigen Filmleuten, der Verfilmung von "Im Westen nichts Neues" - und des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland. Mehrere Handlungsstränge werden aufgenommen und miteinander verbunden, es geht um Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, und die Rollen von all dem gehen weit über eine Illustrierung hinaus, sondern haben ihren eigenen Wert. Man rätselt lange mit Hardy Engel, worum es bei der Erpressung eigentlich geht, und das Buch bleibt spannend bis zum Schluss. N.B.: Mir gefiel, dass Hardy Engel erst mit dem Trinken und dann mit dem Rauchen aufhört - aber der Schluss geht mir etwas gegen den Strich. Andererseits wurde Alkoholismus erst viel später, in den 1960ern, von der WHO als Krankheit anerkannt. Und Engel war, anders als Marion Davies, vielleicht gar nicht alkoholkrank. Die nächsten Bücher werden es zeigen ... Gut. Max Reiter, Erinnere dich! Dr. Arno Seitz, Dozent in Berlin, erlebt plötzlich sehr merkwürdige Dinge: Er bekommt per Post ein Handy, und über dieses wiederum erhält er seltsame Botschaften, die erste: ERINNERE DICH! 20 Jahre vorher hatte er mit drei Freunden eine Wanderung gemacht, auf der eine von ihnen, seine damalige Freundin Maja, plötzlich spurlos verschwand. Er hat das mehr oder weniger gut verdrängt, aber in der Folge blieb er mehr oder weniger einsam. Und nun macht er sich auf zu einem Abiturtreffen. Dort begegnet er seinen drei alten Mit-Wanderern und Majas deutlich jüngerer Schwester. Sie beschließen, den alten Weg noch einmal zu gehen, und Arno sieht plötzlich Bilder und Erinnerungen. Er beginnt, sich zu fragen, ob er Schuld an Majas Verschwinden war. Eigentlich ein spannendes Setting, so ein Krimi um die Verlässlichkeit von Erinnerungen. Der Autor hatte die Idee zu diesem Thriller bei einem Klassentreffen, bei dem sich herausstellte, dass er manche Geschichten gar nicht in Erinnerung hatte, andere wiederum ganz anders als seine ehemaligen Klassenkameraden.Etwas in der Art dürften die meisten von uns schon erlebt haben, und ein Krimi um so eine Alltagssituation, in der plötzlich ein vergangenes Drama aufbricht, könnte einen Leser durchaus fesseln. Aber Autor Max Reiter (eigentlich Andreas Götz) lässt seinen Protagonisten Arno Seitz zu viel erklären. Zwar folgt man dadurch dem inneren Geschehen, aber es wird zu viel und nervt manchmal ein wenig, und man kann trotzdem nicht immer seinem Handeln folgen. Ganz gut. Claudia Bardelang, Schwarz ist der Wald und Schwarz ist die Gier. Mit "Schwarz ist der Wald" beginnt eine neue Krimireihe um Kriminalhauptkommissar Johann Briamonte. Der kehrt aus Frankfurt am Main zurück in den Südschwarzwald. Dabei ist er dort zwar aufgewachsen, aber nie wirklich angekommen, weil er als "Italienerkind" galt. Nun hat er einen alten Hof gekauft, will ihn renovieren - und hat prompt seinen ersten Fall am Hals: Ein Kellner wurde mit einem präzisen Kopfschuss ermordet. Wer hatte es auf ihn abgesehen? Und wer war dieser Kellner überhaupt - da stimmt irgendetwas nicht mit seinen Papieren?! In "Schwarz ist die Gier" besucht Briamonte den Empfang einer renommierten Kunsthandlung, als deren Auszubildender in der Jugendstilvilla zu Tode stürzt. Kurz zuvor hatte er den Auftrag für eine Fälschung bekommen: Eine alte Frau hatte dem Galeristen eine Skizze von Franz Marc angeboten, ohne zu wissen, was sie da hatte. Der Galerist behielt die Skizze zur Begutachtung und beauftragte seinen begabten Azubi, eine Kopie herzustellen. Nun ist der Azubi tot, und es bleibt nicht bei diesem Tod. Claudia Bardelang schreibt über ihre eigene Heimat: Sie wuchs im Breisgau auf und lebt auch dort; gelegentlich lässt sie die Figuren im dortigen Dialekt sprechen. Mit Johann Briamonte hat sie eine sympathische Figur erschaffen. Die beiden ersten Krimis der Reihe kann man lesen; sie sind keine große Literatur, Krimis können auch so spannend sein, aber diese Krimis versuchen mehr, als sie erfüllen können: Ein einsamer Kommissar ist ein bekanntes Sujet, aber Briamonte wirkt nicht wirklich glaubwürdig, der familiäre Hintergrund passt nicht, die Liebe wirkt künstlich, die alte Bäuerein klischeehaft, der Killer einerseits äußerst routiniert, andererseits ungeschickt, und dass er sein Präzisionsgewehr zu Boden wirft, ist mehr als unwahrscheinlich (Wald: 57; 173). Dazu Kleinigkeiten: Das Wort "Schweiß" für Blut (Wald: 33) müsste erklärt werden, die Sprache ist manchmal etwas billig (Wald:89, "Der Gedanke daran entlockte ihm ein widerliches Lachen"). Im zweiten Band wäre die allmähliche Wandlung des Galeristen interessant gewesen, man hätte das mehr ausführen können - aber es kommt nicht glaubwürdig rüber. Ganz gut. Christof Gasser, Solothurn hüllt sich in Schweigen. Solothurn. Die Polizei hat gut zu tun: Erst wird eine Informandin ermordet, dann ein Mann, scheinbar unbekannt. Hauptmann Dominik Dornach recherchiert mit seinem Team, seine erwachsene Tochter Pia mischt sich ein, und dann tauchen Gestalten aus seiner Vergangenheit auf und haben auch irgendwie damit zu tun. Ein deutsch-arabischer Familienclan scheint das verbindende Element zu sein. Gasser schreibt den Roman aus der Sichtweise mehrerer Beteiligter: Polizistin Maja Hartmann (von der hätte ich gern mehr gelesen), Hauptmann Dominik Dornach, dessen Tochter Pia Zenklusen (deren Handeln nicht immer ganz glaubwürdig ist, und wie sie ihre vielen Aktivitäten unter einen Hut bekommt, ist mir auch ein Rätsel). Das bringt unterschiedliche Stimmlagen in den Fall, und nach kurzer Zeit kann man die vielen Beteiligten (nicht nur diese drei, sondern auch Opfer, Täter etc.) auch schnell auseinanderhalten bzw. einordnen. Farbe kommt ins Ganze auch dadurch, dass Gasser verschiedene tatsächliche Fälle in leicht abgewandelter Form aufgreift, etwa einen Juwelenraub in Berlin (wohl eine Mischung aus dem Einbruch ins Dresdner Grüne Gewölbe und den Diebstahl der schweren Goldmünze aus einem Berliner Museum). Zu mäkeln habe ich nur an ein paar Kleinigkeiten. So ist es gelegentlich etwas platt: Etwa "für Männer seines Schlages waren Frauen Gebrauchs- und Dekorationsgegenstände. Man nahm sie bei Bedarf hervor und schmiss sie weg, wenn sie nutzlos wurden." (146) Oder: "Sie verstand, was Kleopatra bei der ersten Begegnung mit dem römischen Feldherrn gefühlt haben musste. Sergio Arcuri atmete und strahlte das aus, was Kriegsherren, Diktatoren und Verbrecherbosse von den Anfängen bis heute gemein hatten: dunkle, zerstörerische Macht." (195) Außerdem ein paar Kleinigkeiten, so etwa ein Todeszeitpunkt "kurz nach Mitternacht und heute früh" ist falsch, richtig wäre "zwischen Mitternacht und heute früh" (49), und sagt man in der Schweiz tatsächlich "Durchsuchungsbefehl" und nicht "Durchsuchungsbeschluss"? (99) Das Konzept der "Rabenmutter" ist meines Wissens eher deutsch, nicht ukrainisch (160). Schießereien unter Banden in Skandinavien erwähnt der Autor mehrfach. - Aber da ist nicht viel zu mäkeln: Vielleicht kein großer Wurf mit politischem oder sozialem Hintergrund, auch keine große Literatur. Aber solides Handwerk: Die Lektüre hat Spaß gemacht, ein klug durchdachter und strukturierter Kriminalroman, der sich spannend liest. Ganz gut. Kunst in Regensburg: Barock! Bayern und BöhmenNoch bis Dienstag 3. Oktober zeigt das Haus der Bayerischen Geschichte die Ausstellung Barock! Bayern und Böhmen. Es ist eine Bayerisch-Tschechische Landesausstellung 2023/24 und wird nach den Monaten in Regensburg vom 8.12.2023 bis zum 8.5.2024 im Nationalmuseum Prag gezeigt. Allein die Ausstellungsorte verraten eine Besonderheit dieser Ausstellung: Regensburg und Prag – eine gemeinsame Veranstaltung, und es werden unterschiedliche Sichtweisen gezeigt. So sind die großen Texttafeln nicht nur auf Deutsch und Englisch, wie man es aus allen größeren Museen in Deutschland kennt, sondern auch auf Tschechisch. Vor allem geht es um die Inhalte: Viele Sätze rufen die Sicht der Anderen (für mich also die Sicht der Teschechen) ins Gedächtnis, etwa „Diese Demütigung wirkt bis heute nach“, wenn es um die öffentliche Hinrichtung der „Aufständischen“ in Prag geht, nachdem bayerische Truppen eingefallen sind und der Habsburger Ferdinand den gewählten böhmischen König Friedrich abgelöst hat. Zum Glück wird der geschichtliche Hintergrund erklärt, den ich hoffentlich korrekt wiedergebe: Allgemein: Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren große Teile Europas verwüstet, außerdem litten die Mitteleuropäer im 17. und frühen 18. Jahrhundert unter Missernten, Hungersnöten und Seuchen. Die Kleine Eiszeit störte die Wachstumsperioden, die Säuglingssterblichkeit stieg auf zwei Drittel und alle zehn Jahre kehrte die Pest wieder (1720 brach sie hier zum letzten Mal aus). Die Menschen wurden fromm oder verbrecherisch und jagten Zauberer und Hexen. Bayern: Am 25. Februar 1623 erhob der Habsburger Kaiser Ferdinand II. den bayerischen Herzog Maximilian I. (Katholik) im Regensburger Bischofshof zum Kurfürsten und übergab ihm Kurhut und Hermelinmantel. Die sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation durften den Kaiser wählen und die Münchner Wittelsbacher, sehr papsttreue Katholiken, waren glücklich. Böhmen: Der Majestätsbrief von 1609 sicherte allen Untertanen freie Religionsausübung zu – einmalig im Reich. Die meisten Stände der böhmischen Länder waren protestantisch. König war aber der Katholik Ferdinand aus dem Hause Habsburg. 1616 setzten die Stände ihn ab und wählten Friedrich V. von der Pfalz. 1621 richteten die Sieger 27 führende Aufständische in Prag öffentlich hin und enteigneten die Aufständischen. Viele Nicht-Katholiken und Unterstützer des Ständestaates mussten das Land verlassen und verteilten sich auf das protestantische Europa. Aber ab 1642 (Böhmen) bzw. 1628 (Oberpfalz) mussten Nichtkatholiken aufgrund Fürstlicher Mandate konvertieren oder auswandern. Die Obrigkeit beauftragten neue Orden aus Südeuropa mit der Verbreitung des Katholizismus: Jesuiten leiteten Universitäten und Gymnasien; Kapuziner und Unbeschuhte Karmeliter kümmerten sich um die kleinen Leute. „Alle Orden setzten auf die Wirkung von Bildern, Wallfahrten, sinnlicher Glaubensvermittlung. Ein großer neuer Markt für sakrale Kunstwerke entsteht.“ Die Ausstellung zeigt viele solcher Kunstwerke, manche finde ich kitschig und schwer erträglich. Aber es geht nicht nur um Kunst, sondern auch um Wallfahrten - und Logistik. So zeigt eine Ausstellungstafel Jesuitenniederlassungen in Bayern und Böhmen, und ein alter Kupferstich die jeweiligen Entfernungen – eine Gehstundentabelle, heute kaum noch vorstellbar. Auf einem Gemälde unterrichten Jesuiten die Landjugend. Auf einem weiteren umarmt Jesus vom Kreuz herab Bernhard von Clairvaux. Und eine Memento-Mori-Darstellung zeigt Mary Poyntz von den „Englischen Fräulein“, rechte Gesichtshälfte als Schädel, linke lebendig. 1627 erließ König Ferdinand die „Verneuerte Landesordnung“: Die Länder der böhmischen Krone wurden Teil des habsburgischen Erbkönigreiches und „damit siegt in Mitteleuropa der fürstliche Absolutismus über die Idee einer Ständerepublik.“ – Noch so ein Satz, der den Besucher auf die böhmische Seite zieht. Bayern und Böhmen ging es im Krieg besonders schlecht. Aber: „Inmitten von Krieg und Zerstörung beginnt ein neuer Kunststil seinen epochalen Siegeszug“: Der Barock. In Bayern ebenso wie in Böhmen, in beiden Ländern herrschte Bauboom, er begann, nachdem der Dreißigjährige Krieg im Jahr 1648 durch den Westfälischen Frieden beendet wurde und blühte vor allem ab 1680. Es entstanden zahlreiche Handelswege zwischen Bayern und Böhmen. Der neue Stil war dramatisch und bewegt. Adlige bauten für ihren Ruhm, Äbte für den Ruhm Gottes; im 17. Jahrhundert kamen die Bauunternehmer vor allem aus Oberitalien, später dann „hiesige Meister“, viele arbeiteten grenzüberschreitend. Die Architektur wurden nach strengem Regelwerk errichtet, aber üppig ausgestattet und dekoriert. Kunst und Natur sollten sich zum Ruhm Gottes verbinden, die Natur wurde gestaltet, es entstanden geistliche Landschaften mit Kreuzwegen, marianische Gnadenorte für Wallfahrten und Schlossgärten etc., auch Bibliotheken, die die ganze Breite der Schöpfung Gottes abbilden sollten. Überraschend: Im Jahr 1626 erlaubte der Kaiser der protestantischen Reichsstadt Regensburg, eine geräumige evangelische Kirche, die Dreieinigkeitskirche, zu bauen. (Für die Glaubensflüchtlinge aus Österreich und der Oberpfalz.) Und: Viele Musikinstrumente aus der Barockzeit werden auch heute noch gespielt, zum Beispiel Gitarren oder Flöten. Nicht aber der Serpent – ein schlangenförmiges Instrument für laute tiefe Töne. Beeindruckend, sieht man heutzutage höchstens im Museum. Würde ich gern mal in einem Konzert hören! Auch interessant: Eine Hofkapelle, deren Mitglieder eine einheitliche Livree trugen (gtehörte zum standesgemäßen Lebensstil eine barocken Fürsten), die Rolle von Hoflehrern und Tanzmeistern – und für die Damen Korsett und ein Retikül (kleine Damenhandtasche) mit Riechsalz. Ferner Fächer, Flohfallen (Wasser galt als ungesund) und Schuhe mit Absätzen, die, so die Ausstellungsmacher, eine erhabene stolze Haltung förderten – meiner Erfahrung nach muss man sich damit allerdings um eine solche Haltung besonders bemühen, denn die natürliche Reaktion auf hohe Absätze ist ein Entenpo. Ich vermute eher, dass gerade die Tatsache, dass hohe Absätze so schwierig zu tragen sind, der Distinktion von den „niederen“ Ständen dienten. Viele scheints nebensächliche Erkenntnisse: „Ohne Bier kein Barock“: Brauereien waren eine sehr wichtige Einnahmequelle. Und der „Fichtenvorstoß“: Die Kleine Eiszeit begünstigte das Wachstum von Fichten im Gegensatz zu den besser an trockene und wärmere Witterung angepasste Tannen. Die Ausstellung ist auch sehr kinderfreundlich: Schön die vielen Erklärungen für Kinder auf ovalen Tafeln, „Schau hin!“, sie weisen auf viele Einzelheiten hin, die man als Erwachsener leicht übersehen kann. Der Besuch lohnt sich! Kunst in München: Der Blaue Reiter im LenbachhausDas Münchner Lenbachhaus zeigt noch bis zum 8. Januar 2024 die Ausstellung „Der Blaue Reiter“. Die Ausstellung ist im Projekt „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter und Kollektive der Moderne“ entstanden, entsprechend geht es besonders um die Beziehungen der Mitglieder untereinander, zur Ursprungsgruppe Neue Künstlervereinigung München (NKVM) und zu nichteuropäischer Kunst. Der Blaue Reiter entstand als Protest gegen und Abspaltung aus der NKVM: Ende 1911 verließen Kandinsky, Marc und Münter die Vereinigung und richteten eine Gegenausstellung zu deren Ausstellung aus. Sie gaben einen Almanach mit dem Titel „Der Blaue Reiter“ heraus und dieses „programmatische Jahrbuch etablierte den Blauen Reiter als Künstler*innenkreis, der sich als Teil eines weltweiten, epochen- und gattungsüberschreitenden Kunstschaffens verstand“, schreiben die Ausstellungsmacher auf der Museumshomepage. „Weltweit“ ist dabei ein Stichwort, das sich durch die gesamte Ausstellung zieht. So geht es etwa um das Verhältnis der Künstler zum europäischen Kolonialismus; ein Thema, dem man derzeit überall begegnet, ungeheuer wichtig, natürlich, aber ich bin nicht sicher, ob es in dieser Ausstellung nicht zu „unhistorisch“ behandelt wird: „Gefangen in der Mentalität des Hochimperialismus vor dem Ersten Weltkrieg, gelang es auch seinen Mitgliedern nicht, eine emanzipatorische Auffassung von Kunstproduktion jenseits des europäischen Horizonts umzusetzen.“ So die Homepage. Und eine Tafel in der Ausstellung: „Ihre Vision der im Almanach formulierten Gleichberechtigung der Kunst aller Völker und Zeiten war wegweisend, zugleich war ihr Blick jedoch besonders in der Bildauswahl gefangen in der Zeit der kolonialen Weltordnung vor dem Ersten Weltkrieg und deren Wahrnehmung von Kunstwerken aus globalen Kontexten.“ In der Tat, mit ihrer Sprache haben die Künstler gezeigt, dass sie ihre, also die europäische Kunst, als am höchsten entwickelt und damit als am höchsten stehend betrachteten. Dennoch bemühten sie sich um die Rezeption nichteuropäischer Einflüsse. Mit Wörtern wie „gefangen“ spricht man ihnen jedoch genau das ab, mehr noch, jede Möglichkeit der eigenen Weiterentwicklung; man stellt sie als passiv dar. Dabei schrieben sie immerhin Sätze wie: „Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit.“ (Kandinsky und Marc im damals unveröffentlichten Vorwort zum Almanach.) Die Ausstellungsmacher vernachlässigen die historische Einordnung gegenüber der Bewertung. Künstler wie Kandinsky und Münter sammelten Kinderbilder, weil sie diese einfach und natürlich fanden. Man stellte sich eine anthropologische Entwicklungslinie vor, mit dem Frühstadium Kindheit, dann Volkskunst, afrikanische Plastik etc und der Spitze die europäische Kunst. Das wird in der Ausstellung kritisiert, zu Recht, wie auch ich finde, aber mir fehlen Erklärungen und Argumente auf den Tafeln. So, wie es da steht, wirken manche Texte auf mich wie eine politisch korrekte Phrasendrescherei. In der Musik zB ist es so, dass in Europa die Melodie das Entscheidende ist, und afrikanische Musik kann so betrachtet „primitiv“ wirken – aber nur, wenn man nicht weiß, dass es bei dieser um Rhythmen geht: Wer dies versteht, kann sie kaum mehr für primitiv halten. – Und versteht gleichzeitig nicht nur die Musik besser, sondern auch den eigenen Irrtum. Solche Erklärungen hätte ich mir gewünscht. Andererseits: Diese überstarke Wertung der Münchner werte ich wiederum in diesem Blog auch überstark. So wie mir, die ich mich gerade von allen und Ecken erzogen und bevormundet fühle (was mich ganz extrem nervt), geht es den Ausstellungsmachern vielleicht auch – in der anderen Richtung, dass sie in vielen Museumsbeständen (oder anderswo) auf schlecht verhohlene kolonialistische Arroganz stoßen. (Dass sie einer allgemeinen Diskussion folgen und bloß politisch korrekt sein wollen, kann natürlich ebenfalls sein, muss aber nicht.) Zum Abschluss aber ein Lob: Im Kapitel „Exotismus“ haben die Ausstellungsmacher die historische Betrachtung gut hinbekommen. Dort geht es um Zivilisationskritik, verbreitet um 1900. Besonders interessantes Beispiel ist die Stilisierung der Tierwelt als Gegensatz zum Zivilisatorischen – Marc suchte dabei Reinheit und Ursprünglichkeit in der Natur, Macke betrachtete Zoobesucher in ihrer illusorischen Flucht in andere Wirklichkeiten. Und noch ein (halbes) Lob: Alle Ausstellungstexte gibt es doppelt, den Texten im üblichen „Museumssprech“ sind Texte in einfacher Sprache vorangestellt. Die sind kürzer, enthalten natürlich weniger Informationen, aber wirken aufrichtig und korrekt und damit respektvoll – im DHM dagegen hatte ich einmal eine Ausstellung besucht, in der ich die Texte in einfacher Sprache aufgrund der Auswahl der Informationen als manipulativ empfand (s.u.). Allerdings hätte man „Almanach“ erklären sollen, finde ich. Und dass der Genderstern einen Text einfacher zu lesen macht, bezweifle ich. Im Großen und Ganzen jedoch eine gelungene Ausstellung, die viele Denkanstöße gibt. Und großartige Kunstwerke zeigt. August 2023Neue KrimisAnita Augustin, Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier. Elisabeth, 12 Jahre alt, ist verschwunden. Ihre Mutter, Apothekerin, alleinerziehend, fasst einen Plan. Der zweite Krimi, den ich innerhalb kurzer Zeit lese, in dem es - auch - um Pädophilie geht und in dem - auch - aus der Sicht eines (potentiellen?) Täters erzählt wird. Während bei Jan Costin Wagner der Täter der Protagonist ist, geht es bei Anita Augustin um die Mutter des verschwundenen Mädchen. Diese bricht für ihre Tochter fast alle Tabus, unterwirft ihr ganzes Leben diesem Ziel - bis sie letztlich sich doch fürs Weiterleben, ein neues Leben entscheidet. Ganz am Schluss weiß der Leser mehr als sie. Die Autorin bürstet das Genre "verschwundenes Kind, verzweifelte Mutter" gegen den Strich, aber wie! Man fühlt mit den Menschen mit, mit der Mutter, mit den anderen, man fragt sich, was moralisch vertretbar ist, man rätselt bis zum Schluss, was geschehen war. Und dazu kommen noch ein sehr schräger Humor und eine gelegentlich verschobene Metaebene (Anleitung zum Daten 196 ff., Anleitung zum Bücherschreiben 203 ff.). Toll. Jürgen Seidler, Schmutziges Licht. Viktoria Ebuk, 13 Jahre alt, verschwindet. Ihr Vater Peter war ein hoher Polizist in Uganda, hatte zu viel aufgedeckt und musste fliehen. Die beiden sind in Brandenburg gelandet und nun ist Viktoria fort: Hat der Geheimdienst aus Uganda sie entführt? Sie schien frisch verliebt - hat der Junge etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Peter Ebuk lernt Jana kennen, eine Wissenschaftlerin, deren Bruder Polizist war, vor fünf Jahrenm spurlos verschwand und nie wieder auftauchte. Gibt es einen Zusammenhang damit? Jürgen Seidler schreibt aus unterschiedlichen Perspektiven - des Vaters einer verschwundenen Tochter, des entführten Mädchens, der Wissenschaftlerin, des Entführers. So entfaltet er hinter der Geschichte um eine Entführung zwei weitere Geschichten: Die eine um Integration in Deutschland aus Sicht zweier Afrikaner, die andere um rechtsextremistische sektenhafte Völkische Siedler, die der real existierenden Anastasia Sekte, die in Brandenburg in der Tat verbreitet ist, ähnelt. Eine Konstruktion, bei der viele Fallen warten, aber Seidler fällt in keine hinein: Weder schreibt er einen gefühlsduseligen Vater-Tochter-Schmarrn, noch eine billige Story um einen guten Afrikaner im bösen Brandenburg, obwohl der Afrikaner in der Tat gut ist. Stattdessen durchaus realistische Einblicke in die Schwierigkeiten, plötzlich die Mimik und Körpersprache einer bis dahin fremden Ethnie und Kultur lesen zu müssen. Von Anfang an bewundert man Ebuks taktische Finesse, ja Schläue, wenn er sich etwa bei einem Fußballspiel integriert, indem er nicht gar zu gut spielt. Man fühlt mit ihm, wenn er zur Polizei geht und dort zunächst abgewimmelt wird. Man ist froh, wenn Jana, die Wissenschaftlerin, ihm beisteht. - Zu guter Letzt vermeidet Ebuk auch hier ein wünschenswertes Ende, welches wohl zu billig wäre. Abgesehen davon, dass Seidler alle Fallen gschickt umkurvt hat: Er hat einfach einen spannenden Krimi geschrieben. Sehr gut. Marcel Huwyler, Das goldene Taschenmusser. Und ders., Der lila Seeteufel. "Das goldene Taschenmesser" ist der erste Band einer Reihe um Eliza Roth-Schild und erschien im vergangenen Jahr, "Der lila Seeteufel" folgte in diesem Jahr. Eliza geborene Schild, verheiratete Roth, ist unversehens zur Witwe geworden. Nicht nur das: Während sie bis dahin gut, also richtig gut gelebt hat, stellt sich bald heraus, dass ihr Gatte nicht nur tot ist, sondern auch bankrott war. Die Witwe braucht Geld, und das schnell. Und da stellt sich heraus, dass ihr Mann ein goldenes Taschenmesser besessen hat, hinter dem gleich mehrere Menschen her sind: Es soll sich nämlich einst an Bord der Titanic befunden haben, und fürt solche Gegenstände gibt es Sammler. Außerdem bietet man ihr einen schrägen Job an: Sie soll für einen, tja, "Impresario aus der Hochfinanz" einen Konkurrenten aushorchen. Da ist es doch wirklich hilfreich, dass sie Stewardess war, bevor sie Lebedame wurde. Diese Wirtschaftsspionage mit Stil liegt ihr ganz offensichtlich - sie hat schließlich gelernt, sich unter den Reichen und Mächtigen zu bewegen. Diese Kenntnisse - zum Beispiel: wie man sich auf Yachten undsoweiter bewegt - braucht sie auch in "Der lila Seeteufel", als Kuno Schenk, Sanitär-Unternehmer, sie damit beauftragt, den Verlobten seiner Tochter zu durchleuchten. Mit Eliza Roth-Schild hat Marcel Huwyler eine Wohlfühl-Ermittlerin erschaffen. Ohne übergroßen literarischen Ehrgeiz, aber gut geschrieben und eine wundervolle Sofa-Lektüre. Ich hatte meinen Spaß, ihr dabei zuzuschauen, wie sie den Schicksalsschlag meistert (erstaunlich gut, aber so eng war das Paar ohnehin nicht mehr) und mit einiger Chuzpe ein neues Leben aufbaut. Und was für eines! Und sie schafft es sogar, in Second Hand richtig gut auszusehen! Die Tochter im lila Seeteufel ist eher ein Töchterlein, der Vater hat sie offensichtlich schon vorher überbehütet, das Ergebnis ist eine leider etwas dämliche Kuh. Das ist schade, mir hätte eine junge Frau besser gefallen, die der Welt eins auswischt: Die Tochter ist so, wie sie ist, nicht recht glaubwürdig. Störend ist in beiden Bänden auch Kleinkram, wie der Hamburger sagt: "unaussprechlich" kann man nicht steigern (Taschenmesser: 39), den Stoff "Tweed" schreibt man mit "d" am Ende (ebd: 40, sonst aber richtig geschrieben), "Rohstoff" hat im Dativ ein "n" am Ende (ebd. 61). Zum Joggen hat sie sich ihr Haar vermutlich zu einem Pferdeschwanz gebunden und nicht zu einem Pony (Seeteufel: 6) und Jesus ist nicht schon "über" 2.000 Jahre tot (ebd. 104), sondern "fast" oder "knapp" - er wurde nach aktuellen Vermutungen zwischen 30 und 36 AD gekreuzigt, dann ist er im Jahr 2023 seit etwa 1.993 bis 1.987 Jahren tot, und bestaussehend ist schon der Superlativ, bestaussehendst ist falsch (ebd. 104). Naja, wie gesagt: Kleinkram. Sollte man aber schon drauf achten! Insgesamt eine nette Wochenendlektüre. Gut. Stephan Pörtner, Der Campingplatzkiller. Henry Kummer ist Rentner. Vorher war er bei der Polizei gewesen. Aber nicht als Überflieger, er war kein Kripomann, der komplizierte Mordfälle gelöst hat und nun die Rache der Mörder zu befürchten hat. Sondern er hatte an der Pforte gesessen. Und nun sitzt er in einem Campingwagen, hat wenig Geld und - eine andere Camperin wird in ihrem Wohnwagen tot aufgefunden. Kummer lässt eine Kleinigkeit mitgehen, will den Fall aufklären, und dann geschieht der nächste Mord. Das Buch ist untertitelt mit "Der erste Fall für Henry Kummer", und ein Ex-Polizist, der eben KEIN Star ist bzw. war: eine originelle Idee für eine Krimireihe. Kummer ist ein bisschen dusselig (36, 102, 121), aber er will immer das beste. Er hat Sorgen, aber nicht nur - keiner der vielen daueralkoholisierten Ermittler, zum Glück, dafür einer von denen, die gern Musik hören (78). Mal lernt die Schweiz von ihrer nicht-reichen Seite kennen, die normalerweise verborgen bleibt. Der Autor steht auf der Seite der Frauen, aber seine Überlegungen sind ein wenig banal (10, 105). Manche Menschen bleiben ein wenig blass (92, 94). Nicht besonders aufregend (ich las bis S. 126), sondern ein Wohlfühlkrimi für heiße Sommertage. Nicht schlecht. Geht so. Max Ziegler, Sylter Sandflut. Sylter Sandflut ist der zweite Fall für Ed Koch. Hinnerk Hinnerksen vom Sylter Tagblatt zeigt an, dass ein Kollege aus Flensburg verschwunden ist. Der hatte über Sandvorspülungen auf Sylt recherchiert. Koch nimmt das erstmal nicht ganz ernst, aber dann wird im Haus des Vermissten eingebrochen, seine Großmutter schwer verletzt und sein Laptop ist verschwunden. Koch gerät unter Druck. Wegen des Falls - aber auch, weil seine Tochter bei ihm eingezogen ist und seine Ex-Frau nervt. Die Geschichte ist eigentlich nicht schlecht, aber wie der Autor sie aufschreibt, nervt. "Doch Ed wusste aus seiner beruflichen Erfahrung, dass die Erlebnisse in Lasse gleichwohl weiterarbeiteten, auch wenn er sich kaum etwas anmerken ließ. Die Wunden, die der Verlust gerissen hatte, schmerzten gewiss entsetzlich." (9) Lasse ist Eds Sohn, und wenn der Vater nur aus seiner beruflichen Erfahrung weiß, dass der Sohn leidet, muss er ein ziemlicher Idiot sein. Ed läuft "mit erhöhtem Tempo an ihm vorbei" (14) - warum "überholt" er nicht einfach? "´Natürlich auch nicht`, hauchte Hinnerk schluchzend." Auf S. 156 abgebrochen. Nicht gut. Philipp Gurt, Bündner Sturm. Giulia de Medici, Alpinpolizistin und Chefermittlerin der Kantonspolizei Graubünden, wird auf den Roseggergletscher gerufen. Der hat nach langer Zeit eine Leiche freigegeben: eine junge Frau in einem roten Kleid. De Medici wundert sich, weil ihre Vorgesetzten zur Eile treiben und dabei ungewöhnlich geheimnisvoll tun. Dann entdeckt sie auch noch eine zweite Leiche: Die Wartin einer nahen Hütte. Autor Philipp Gurt hat sicher eine Reihe berechtigter Fans, und der Krimi ist auch hinreichend spannend. Aber mich nervt der Stil so, dass ich auf S. 103 abgebrochen habe. Das fängt an bei Ungenauigkeiten: "Ein schlechter Scherz des Anrufers? Wäre ja nicht der erste." (15) - Der erste schlechte Scherz? Besser: "Wäre ja nicht das erste Mal." Oder: Warme blaue Augen (18) - Blau ist aber eine kalte Farbe. Im Nebenstrang, der Geschichte von Jerome, reiten die Männer Hengste. Ich würde da eher Wallache erwarten, vor allem, da es mehrere Hengste in der Herde zu geben scheint: Würden die nicht kämpfen? Und dann, immer wieder, der Stil - die vielen Adjektive sind Effekthascherei. ZB hat der Hengst ein majestätisches Haupt, das er auf- und abwirft (61). Nicht gut. Neues Buch (ausnahmsweise kein Krimi)Jami Attenberg, Bis hierher war´s ein weiter Weg. Mein ach so grandioses Leben als Autorin. Jami Attenberg ist Autorin zahlreicher Essays und Erzählungen und Romane, von denen inzwischen sechs auf Deutsch erschienen sind. Wobei dieses Buch in ihrem deutschen Verlag Schöffling & Co. zwar als Roman läuft, aber eigentlich ein Memoir ist. (So liest es sich jedenfalls.) Memoirs sind autobiografische Berichte (aber wenn "Memoir" vorn drauf steht, verkauft es sich wohl nicht so gut). Sie berichten im Gegensatz zu Memoiren nicht ein ganzes Leben, sondern konzentrieren sich auf einen bestimmten Aspekt. Bei diesem Buch ist es das Schreiben und das Autorinwerden und -sein. Attenberg wollte immer schreiben, sie hat an der Johns Hopkins University Schreiben studiert, dann hat sie kleinere Texte geschrieben, aber eigentlich ging es ihr immer um Bücher, den Gold-Standard unter Schreibern. Attenberg hat es geschafft, aber sie hat viel Kraft gebraucht. Sie fand und verlor Agenten, Verlage, Ideen und Manuskripte, war krank und hatte einen Unfall und verstand den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamsein, zog unzählige Male um und hielt sich 20 Jahre lang mit Brotjobs über Wasser. Brotjobs sind bei Künstlern nicht selten: Es sind die Jobs, mit denen sie ihr Brot verdienen, um Kunst machen zu können. Attenbergs Buch handelt vom Schreiben, davon, wie sie Autorin wurde. Und wie jedes gute Buch handelt es noch von anderem: In tieferem Sinne handelt davon, wie man seinen wirklich wichtigen Wünschen folgt und dafür enorme Opfer bringt, weil man es einfach tun MUSS. Und neben dem Schreiben handelt es auch von Freudschaft (erstaunlich, bei wie vielen Menschen sie kürzer oder auch länger auf dem Sofa schlafen darf), von Männergewalt gegen Frauen (nicht nur physisch, sondern auch im übertragenen Sinn psychisch und beruflich), und davon, wie die Herkunft das Leben prägt (ihr Vater war Handlungsreisender und das scheint sie für ihre Lesereisen vorbereitet zu haben). Und mehr. Attenberg beschreibt sich und ihre Umwelt mit Selbstironie und feinem Witz, etwa als sie von den Kleidern für eine Lesereise erzählt: Die Leute "sollen denken, dass ich Stil habe. Und dass ich ein guter Mensch bin, oder zumindest okay. Schau, die nette Frau da oben in dem hübschen Kleid. Kaufen wir ihr ein Buch ab." (109) Sie reflektiert ihre Reisen und ihren Tourismus, ihren Wohnort in New York, der hip und unbezahlbar wurde, auch weil Menschen wie sie darüber schrieben. Und als ihre Bücher erschienen, ging sie auf Lesereisen, flog hier- und dahin und führte ein so hektisches Leben, das hätte kaum jemand durchgehalten. Sie brauchte erst Tabletten und dann einen radikalen Schnitt. Und jetzt, glaubt (und hofft) man, ist sie eine Autorin, der es gut geht. Von der wir noch viele Bücher lesen wollen. Kultur in MünchenEin Glaskasten voller Reisepässe. Eine Million Reisepässe. Eine Million Möglichkeiten. Wer die Pinakothek der Moderne betritt, sieht in der Rotunde die Installation "One Million German Passports" von Alfredo Jaar. Die Pässe sehen echt aus, sind es aber nicht, weiß die Süddeutsche. Eine Million, das „ist die Zahl der Menschen, die die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 in Deutschland willkommen hieß. Es ist aber auch die Zahl der Menschen, die sich später von ihr und ihrer Partei (CDU) distanzierten und 2017 die rechtsextreme Partei Afd [sic!] wählten“, steht auf der Website. Wenn ich die schiere Menge der Pässe betrachtet, stelle ich mir die Frage, wie viele Menschen damit vor Hunger und Krieg gerettet werden könnten, aber auch, ob das möglich wäre, und welche die Folgen wären. Ich weiß es nicht. Noch bis zum 27. August. Leichter verdaulich ist die Ausstellung Das Fahrrad. Kultobjekt. Designobjekt. Wohl niemand kann etwas gegen dieses Fortbewegungsmittel haben, das die Gesundheit fördert (sofern man keinen Unfall hat) und gut für die Umwelt ist. Unglaublich viele Fahrräder werden gezeigt, tolle Studien von italienischen Designern wie Luigi Colani, aber, hey, ich habe wohl einen hoffnungslos altmodischen Geschmack: Meine Lieblingsräder waren ein Bambusfahrrad von 1989 aus Österreich (Design: Franz Grundner). Und ein Klapprad mit Lederapplikationen (1981/3, Design: Nicola Trussardi), das vorher ein Militärfahrrad gewesen war – Schwerter zu Pflugscharen, hey, großartig! Noch bis zum 22. September 2024. Und sonst: Tolle Plastiken, tolle Bilder, tolle Fotos (Mein Lieblingsfoto zeigt: Patti Smith). Juli 2023Kultur in StuttgartNoch bis zum 2. September läuft in der Raumgalerie im Stuttgarter Westen die Ausstellung AN ORT UND STELLE - SPUREN WÄNDE RÄUME des Fotografen Lutz Schelhorn. Zu den Arbeiten des Fotografen gehört etwa die "Chemie der Erinnerung", ein Gedenkprojekt an NS-Deportationen aus Stuttgart. In der aktuellen Ausstellung hängen Arbeiten unter anderem aus dem alten Stuttgarter Hauptbahnhof und den Travertinhallen zwischen Bad Cannstatt und Münster. Schelhorn lässt sich auf Orte ein und zeigt die Spuren der Menschen, die gegangen sind. Man steht vor den Bildern und möchte gleichzeitig lachen und weinen, etwa wenn man ein Klavier sieht, das in einem Toilettenraum abgestellt wurde. Und man sieht, wie sich die Zeiten geändert haben, wenn die Telefonapparate bis auf einen aus den Zellen am Hauptbahnhof entfernt wurden und die Türen zu den Zellen weit offen stehen - selbst für Graffiti-Künstler ist die Szenerie schräge, erstaunlich wenig ist bemalt. Tolle Ausstellung, unbedingt hingehen! PS: Die Raumgalerie befindet sich in der Ludwigstraße 73, im Vorderhaus. Hinten, in der Ludwigstraße 73A, trainierte ich in den 1990er Jahren Boxen bei Conny Mittermeier. Eine glückliche Zeitreise... Neue KrimisSabine Schiffner, Nachtigallentage. Sigune lebt in einer unglücklichen Ehe mit Andreas und den zwei gemeinsamen kleinen Kindern am Stadtrand von Köln. Versehentlich ersticht sie ihren Mann. Sie versteckt seine Leiche. Dann lernt sie ausgerechnet den ermittelnden Polizisten besser kennen. Schiffner schreibt aus Sigunes Sicht, man glaubt ihr, dann zweifelt man, ist hin- und hergerissen, bangt mit ihr, ist verzweifelt über ihre Trägheit und kann sie doch verstehen. Eigentlich ist das Buch kein Krimi, aber es wird jemand getötet und es wird ermittelt. Und ich habe das Buch nicht als Rezensionsexemplar erhalten, sondern privat geschenkt bekommen. Also gehört es eigentlich nicht in diesen Blog. Aber es gefällt mir so gut, dass ich es unbedingt empfehlen muss. Toll. Elsemarie Maletzke, Agathes dunkler Garten. Die alte Agathe wird mit anonymen Briefen erpresst und will fliehen. Sie kauft ein verwildertes Flussgrundstück mit einer ehemaligen Mühle, dort zieht sie ein und lernt kennen: einen ehemaligen Bauern, der als junger Mann versehentlich einen Menschen totgefahren hat und nun ihr Grundstück in Ordnung bringen will. Einen jungen Schornsteinfeger, der als Junge im Fluß bei der Mühle eine ermordete Frau entdeckt hat und nun dort eine Rohrdommel hört. Noch mehr Menschen. Aber weiterhin bekommt sie anonyme Briefe von jemand, der entsetzlich viel über sie weiß. Und der Schornsteinfeger findet im Garten eine neue Spur des alten Mordfalls. Elsemarie Maletzke hat schon eine ganze Reihe Bücher geschrieben, aber für mich ist sie eine Neuentdeckung, und die lohnt sich! Die Personen, die dieses Buch bevölkern, sind eine skurriler als die andere, aber nie lächerlich. Sie haben Schicksalsschläge verursacht und erlitten, und Maletzke enthüllt nach und nach ihr Leben, ihre Taten und ihre Untaten. Der Krimi entführt uns in den dunklen Garten, aber auch nach Estland, und immer wieder passiert irgendetwas vollkommen Überraschendes. Auch der Stil gefällt mir sehr: "Das Beschweigen alte Schuld und frischen Leids hatte im Hause Finkenwirth Tradition und wurde über Generationen mit Hingabe gepflegt." (48) Toll. Jan Costin Wagner, Einer von den Guten. Einer von den Guten ist der Ben-Neven-Krimi Nummer 3. Im ersten Krimi widerstand Kriminalpolizist Ben Neven sich selbst, zwar nicht vor dem Computer, auf dem er Bilder nackter Jungen betrachtete, aber er widerstand sich in der Realität. Im zweiten schaffte er das nicht mehr und hatte Sex mit einem Jungen, der sich prostituierte. Der dritte beginnt mit den Worten: "Während der Kriminalpolizist Ben Neven nach Dortmund fährt, um Böses zu tun ..." Der Leser dieser Reihe wird Zeuge des langsamen Abstiegs eines Mannes, der in jedem Buch ein neues Tabu bricht. Wagner erzählt wieder aus unterschiedlichen Perspektiven, aus der von Ben Neven und, neu, aus der von seinem Opfer Adrian. Irgendwann hofft man, alles wird wieder gut. Landmann, väterlicher Freund und Kollege im Ruhestand, schien mir im ersten Band noch überflüssig. Dann gewann er an Kontur. In diesem Band ist er eine zentrale Figur - und dann spürt man plötzlich einen Schlag ins Gesicht, weil man mit Ben Neven trotz allem irgendwie mitfühlt oder zumindest mitgefühlt hat, und nun wird einem dies Mitgefühl um die Ohren gehauen. Die Figur des Ben Neven wurde anfangs noch geleitet vom schlechten Gewissen gegenüber dem Bild, das er von sich selbst als Kriminalbeamter hat. Nie aber wurde sie geleitet vom schlechten Gewissen gegenüber seinem Opfer. Nun wird sie immer offensichtlicher geleitet von der Angst vor Entdeckung; er geht dabei bis zum Letzten, und gewinnt an Glaubwürdigkeit. Andere Figuren sind nicht ganz so stimmig: Vera ist zu weise, ihre Eltern sind, genauer: ihre Mutter ist zu liberal, um glaubwürdig zu sein, auch Adrian wirkt zu heil für das, was er erlebt hat (etwa bei den Überlegungen zu seiner Mutter, S. 171). Und Nevens Kollege Christian könnte sich zu einer Lichtgestalt entwickeln, von dem hätte ich gern mehr gelesen. "Selten haben wir über ein neues Buch verlagsintern so intensiv diskutiert wie über Jan Costin Wagners neuen Roman, dessen Hauptfigur sicher eine der kontroversesten literarischen Figuren ist, die man sich vorstellen kann." - Ein Glück, dass die Diskussion zur Veröffentlichung geführt hat! Sehr gut, toll. Franzpeter Messmer, Tanz auf der Brücke. Mehmet ist Pianist mit Tourette, Islamisten zerstören sein Klavier und er flieht nach Deutschland. Sein Freund Ahmet wird von Taliban vertrieben, auch er landet in Deutschland. Mehmet wird von einem berühmten Dirigenten protegiert, der aber auch eine Sängerin protegiert und dafür mit ihr ins Bett geht. Mehmet verliebt sich in eine Rechtsrockerin, die über ihren Vater in ein rechtsterroristisches Netzwerk verstrickt ist. Der Verfassungsschutz wirbt Mehmet an, Mehmet gibt ein Open Air Konzert - und entdeckt im Publikum Ahmet - mit einem Bombengürtel. Das klingt etwas wirr, aber eines folgt dem anderen, die Verbindungen sind da. Franzpeter Messmer bringt es fertig, in den Mittelpunkt seine Buches einen Pianisten mit Tourette zu stellen, ohne dass es lächerlich wirkt. Man fühlt mit Mehmet, wenn der Vater findet, dass er lieber die traditionelle Musik spielen sollte, man folgt ihm bei seiner Flucht, sorgt sich mit ihm um die zurückgebliebenen Eltern, denkt mit ihm nach über seine Schwester, die Bauchtänzerin ist und von einer Fatwa verfolgt wird, grübelt über den Freund Ahmet und weiß nicht recht, was man vom Verfassungsschutz zu halten hat. Messmer malt nicht schwarzweiß, die Menschen sind unterschiedlich, die Kulturen sind unterschiedlich. Die Flucht über das Meer war traumatisch, auch in Deutschland gibt es Mord und Totschlag, die bauchtanzende Schwester ist keine selbstlose Feministin. Und: Viele Autoren schreiben über etwas, was sie nicht richtig kennen. Messmer dagegen kennt sich gut mit Musik aus - und das merkt man dem Buch an. Wirklich gut. Tina N. Martin, Apfelmädchen. Vidar Vendel kommt von der Arbeit nach Hause und sieht vor sich die Füße seiner Frau. Sie ist an einem Lampenhaken aufgehängt. Sie hatte keine Feinde, und niemand kann sich einen Selbstmord vorstellen. Eine junge Frau verschwindet. Ein Mädchen wird aus dem Kindergarten entführt. Kriminalkommissarin Idun Lind und ihr Partner Calle Brandt ermitteln: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Fällen? Dann geraten die Kommissare in höchste Gefahr. Parallel zu dieser Geschichte verfolgt man Ereignisse aus der Zeit ab Mitte der 1970er. Man ahnt Zusammenhänge, aber so richtig löst sich das Rätsel erst ganz am Schluss auf. Tina N. Martin hat einen spannenden, klug konstruierten Thriller geschrieben. Es geht um religiösen Missbrauch und Rache, das ist schnell klar, aber was genau war und ist, das versteht man erst am Schluss. So weit, so gut. Stilistisch überzeugt das Buch nicht: Etwas plump manchmal die Erläuterung von Hintergrundwissen (59) oder auch die Darstellung von Sympathien der Ermittlerin (sichtlich teure Jeans, 61 empathielose Frau); auch die Ausdrucksweise nervt manchmal (flammender Blick, 167, Verächtlichkeit statt Verachtung, 191, ein Blick hart wie Stahl, 419). Ein Ermittler bewahrt Latexhandschuhe wohl kaum einfach so in der Hosentasche auf (415), und der Begriff "Sekte" ist zwar gebräuchlich, in der Wissenschaft aber höchst umstritten, wenn ein Wissenschaftler den benutzt (454), sollte das also zumindest problematisiert werden. Allerdings handelt es sich um ein Debut, da muss man nicht so streng sein. Gut. Karen Sander, Der Strand. Band 3: Vergessen. Der dritte und letzte Teil der Trilogie "Der Strand": Lilli Sternberg, 19 Jahre alt, gehörlos, ist weiterhin verschwunden.Wahrscheinlich ist sie tot. KHK Tom Engelhardt und LKA-Kryptologin Mascha Krieger suchen weiter; mit wechselnden Erfolgen. Aber sie finden heraus, dass genau dort, wo Blut von Lilli gefunden wurde, 20 Jahre vorher die Leiche ihrer Mutter entdeckt wurde. Damals wurde ein Mann verurteilt, der später seine Unschuld beteuert hat - inzwischen ist er gestorben. Sander schreibt spannend, aber ein paarmal hakt es. So etwa widerrief der damalige Verdächtige sein Geständnis, als er im Knast saß. Aber das half ihm nichts. Es klingt so (289), als hätten die damaligen Ermittler in den Augen von Krieger und Engelhardt einen Fehler gemacht, als sie daraufhin den Fall nicht wieder aufrollten. Aber geschieht so etwas nicht häufig? Das hätte ich gern ausführlicher gelesen. Dayitas Artikel (296 ff) müsste bei den Ermittlern eigentlich wie eine Boombe einschlagen. Davon merkt man aber nichts. Und Fabienne ist wirklich extrem dämlich. Dennoch: ich habe die Trilogie gern gelesen, eine leichte Sommerlektüre, und bin gespannt auf weitere Fälle von Krieger und Engelhardt. Ganz gut. Gabriela Kasperski, Diesseits vom Jenseits. Diesseits vom Jenseits ist der erste Fall für Friedhofsgärtner Paul Blom. Eigentlich ist er ja Anwalt, getrennt lebend, verwaister Vater. Plötzlich meldet sich ein alter Kommilitone aus London und bittet ihn um Hilfe, es geht um eine Erbschaftsangelegenheit. Blom beginnt etwas widerwillig, zu diesem Fall auf dem Zürcher Friedhof Enzenbühl zu recherchieren. Als ihn der Friedhofsgärtner für den neuen Praktikanten hält, nutzt er die Gelegenheit und stürzt sich in die Recherche. Parallel dazu recherchiert die Historikerin und Podcasterin Ruby Kosa in einer Erbschaftsangelegenheit für eine Londoner Familie. Das führt sie in die Schweiz - und bald kommen Blom und Kosa einander gehörig ins Gehege. Bloms Situation ist gleichzeitig traurig und komisch und Kosas Podcasts - und ihre Folgen - sind auch lustig. Ein originelles Umfeld, unterschiedliche Personen, eine hinreichend spannende Handlung: kurz: Ein netter Wohlfühlkrimi für heiße Sommertage. Ganz gut. Gabriella Wollenhaupt: Ein böses Haus. Alix David bekommt Besuch von der Polizei: Ihre Schwester wurde ermordet. Scheinbar von der zehnjährigen Nichte. Die hat ein Asperger-Syndrom und schweigt. Alix glaubt nicht, dass das Kind die Mutter getötet hat. Alix David ist Lektorin schlechter Texte. Aber der Text dieses Krimis ist auch schlecht: Personen und Handlung sind unglaubwürdig, der Stil hat keine gute Qualität. Zum Beispiel die Protagonistin: Die hatte zwar schon lange mehr keinen Kontakt zu ihrer deutlich älteren Schwester, aber dass sie gleich in die Wohnung zieht, in der diese gerade erst ermordet wurde, wird nicht nachvollziehbar dargestellt. Dass der ermittelnde Polizist durch eine Bemerkung über verschiedenfarbige Socken so durcheinandergebracht wird, dass er stammelt und sich auf der Stelle rechtfertigt (S. 11), kann man auch nur schwer glauben. Und man "lächelt" keine Wörter, sondern spricht sie aus (S. 11). Ferner nerven Widersprüche: Das Messer wurde wieder aus dem Körper des Opfers herausgezogen, so ist die Frau innerlich verblutet (14), sie war ohnehin nicht mehr zu retten (15). Und so weiter. Ich brach auf S. 52 ab. Nicht gut. Juni 2023Neue KrimisYasmin Sibai, Punked. In den 1990ern war Bey Bassistin in einer Avantgarde-Punkband. Nun ist sie Architektin und lebt mit Mann und Kind in Holland am Deich. Plötzlich bekommt sie eine Nachricht: Ihr Ex-Freund Iggy ist gestorben. Sie fährt zur Beerdigung nach Berlin. Dort trifft sie ihre Gefährten von damals wieder und findet Datenträger, die sie vermuten lassen, dass Iggy ermordet wurde. Sie fängt an zu recherchieren, aber einige von den alten Gefährten bremsen sie aus. Rasanter Roman. Man durchlebt mit Bey die Zeiten des Punk in Hannover und Berlin, die Zeiten von harten und weichen Drogen, von dreckigen Wohnungen und schmutzigen Kellerklubs; und die aktuellen Zeiten mit Hackern in ihren Verstecken. Man fiebert mit ihr um die Kinder und schwankt mit ihr, wenn es um die alten Ideale und die neuen Notwendigkeiten geht. Und zwischendrin die abgedrehten Ideen, die ganz real wirken: Hätte es eine Punkband wie "Bodenkontrolle" nicht wirklich geben können, vielleicht sogar müssen? Und was ist mit dem Empire Backer? Sibais Ideen sind wirklich genial - übrigens auch, was die Durchführung und Verschleierung der kriminellen Handlungen betrifft. Und über das Bogotá habe ich mal geschrieben - und nun in einem Buch von dem Hotel zu lesen, machte mir besonderen Spaß. Toll. Michaela Kastel, Unsterblich. Sonja Raich ist bei ihrem Großvater im Wald aufgewachsen. Sie ist Tierpräparatorin: Früher hätte man gesagt, sie stopft tote Tiere aus. Ihre Kundschaft ist sehr gemischt. Einige wollen ganz normale Tiere und zahlen ein normales Honorar, einige wenige wollen, sagen wir, ungewöhnliche Wesen und zahlen ungewöhnlich hohe Honorare. Raich lebt sehr einsam, die Menschen im nahegelegenen Dorf scheinen sie zu verabscheuen. Dann zieht ein junger Tierarzt mit seiner kleinen Tochter ins Dorf. Die beiden verlieben sich ineinander. Sonja lernt soziales Verhalten und entwickelt gegenüber dem kleinen Mädchen mütterliche Gefühle. Dann bekommt sie aber zwei Aufträge, die nicht nur ungewöhnlich sind, sondern sogar kriminell, mit denen sie aber ihre ererbten Schulden abbezahlen könnte und endlich Ruhe hätte. Kastel hat mit einer sehr originellen Idee - wer käme schon auf eine Tierpräparatorin - einen spannenden Thriller geschrieben. Man staunt über den Beruf anhand der interessanten Beschreibungen (ich jedenfalls hatte keine Ahnung) und fühlt sich dem jungen Tierarzt gegenüber genau so ambivalent wie die junge Frau. Man versteht, jedenfalls so einigermaßen, warum sie so einsam lebt und greift sich an den Kopf, wenn sie ein paar haarsträubende Fehler im Umgang mit gewissen Mitmenschen begeht. Ein paarmal ist die Handlung etwas unglaubwürdig (zu viel Einsamkeit, was ist mit der Schulpflicht, warum schweigt sie Jonathan gegenüber so lange), dennoch: solides Thriller-Handwerk, originelles Setting, und gerade am Schluss noch ein paar äußerst überraschende Wendungen. Sehr gut bis gut. Kim Koplin, Die Guten und die Toten. Berlin. Im Kofferraum eines Staatssekretärs unter Kokain findet die Polizei eine Leiche. Der Staatssekretär zeigt sich überrascht. Die junge Kriminalkommissarin Nihal Khigarian ermittelt und stößt dabei auch auf den Parkhauswächter Saad. Die beiden mögen sich. Aber es gibt auch Nihals kriminellen Bruder, Waffenhändler, Saudis mit Interesse an Waffen, Drogen - und Saads Vergangenheit. Interessante Gemengelage. Dazu eine junge Ermittlerin und ein rotziger Ton. Das ist im Trend - gefällt mir auch - und im vergangenen Jahr hat Sibylle Ruge für so eine Konstellation einen Stuttgarter Krimipreis verdient und erhalten. Und der Titel lehnt sich an das Antikriegsbuch "Die Nackten und die Toten" an. Aber Koplins Krimi fällt gegenüber solchen Vorläufern ab: Der Grund für Khigarians Zwangsurlaub - wirklich ausreichend? Und wieso durfte sie vorher mit, den Waffendieb zu verhaften? Warum flüchtet Saad einmal ganz schnell nach Hamburg, ein zweites Mal bei derselben Gefährdungslage aber nicht? Die Boxszenen (boxende Frauen begeistern mich natürlich, aber um übers Boxen zu schreiben, muss man vorher gründlicher recherchieren) passen nicht. Warum Schwimmen schulterschonender als Seilspringen sein soll, erschließt sich mir nicht, vor allem im Ganzkörperschwimmanzug: Schließlich üben die Ärmel Druck auf die Schultern aus. Und wie wahrscheinlich ist der Schluss? Trotzdem unterhaltsam. Etwa die Dialoge (zB 223ff). Die Zusammenhänge auch. Spannend. Gut. Christine Neumeyer, Der Kuss des Kaisers. Wien, Herbst 1908. Gustav Klimt ist schon ein großer Star und sein neues Gemälde "Der Kuss" soll im Schloss Belvedere gezeigt werden. Dann aber werden in den Brunnen um das Schloss Leichenteile gefunden. Aber der Kopf der Leiche bleibt verschwunden. Die Kriminalbeamten Pospischil und Frisch suchen also den Kopf des Opfers, den Täter und das Motiv. Zugang zum Park mit den Brunnen haben der Amtssekretär Josef Krzizrek und die Angestellte Erna Kührer, die sich Hoffnungen auf eine höhere Stellung macht. Dann aber wird ihre 12jährige Tochter übelst misshandelt und eine zweite Leiche taucht auf. Das historische Wien mit Hofstaat, Beamtenküngel, rechtlosen Angestellten und unantastbaren Adeligen bietet genug Stoff und Atmosphäre für viele Krimis. Die eigentliche Hauptfigur ist allerdings Erna Kührer, die alles tut, um ihre Familie durchzubringen und ihre Tochter zu schützen.Neumeyer lässt die Leute im Wiener Dialekt sprechen, aber abgeschwächt, auch der Nicht-Wiener versteht alles. Trotzdem ist das Buch nicht wirklich originell, und vieles ist unglaubwürdig: die Ahnungslosigkeit der Mutter (S.37); der "Duft der Jungfrau" ist ja nicht real, der Zuhälter hätte das Mädchen weiter aus Jungfrau anbieten können; und kann eigentlich ein nicht abgerichteter Hund eine Spur verfolgen? Außerdem ist auf der Presseinformation der Name der Autorin falsch geschrieben. Geht so. Frederic Hecker, Morddurst. Ein Serienkiller flüchtet aus dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Kriminalhauptkommissar Joachim Fuchs und Fallanalystin Lara Schuhmann jagen ihn, können aber nicht verhindern, dass er wieder mordet. Eigentlich nicht schlecht. Aber ich habe das Buch bloß bis zu Seite 161 gelesen (es hat 618), denn erstens ist es die soundsovielte Geschichte über einen Serienmörder und gefährdete Frauen, was mich einfach nicht mehr interessiert. Und zweitens ahnte ich zumindest bis zur Seite 161 sehr oft vorher, was als nächstes passieren würde. Ein "normaler" Thriller halt. Geht so. Mai 2023Neue KrimisSiebo Woydt, Unter dem Wald, neben dem Wasser der Tod. Talvi Caster, Juristin und Polizistin, wurde bei einem Einsatz schwer verletzt und entstellt. Lange lebte sie zurückgezogen, nun will sie neu anfangen, und zwar bei der Kripo Greifswald. Dort wird der Chefposten frei und sie könnte sich bewerben. Dann werden auf einem Fischerfest drei Schädel gefunden, übel zugerichtet, jeder mit einem Personalausweis zwischen den Zähnen. Caster ermittelt, aber ihre Ermittlungen werden sabotiert, außerdem scheint irgendjemand sie zu verfolgen. Siebo Woydt entwickelt in einer harten, bösen, lakonischen Sprache einen Krimi um drei Totenschädel. Fast alle Ermittler um Talvi Caster suchen verzweifelt nach einem Zusammenhang, einer Verbindung zwischen den Ermordeten. Aber die Ermittlungen werden sabotiert, genauer: Casters Arbeit. Kommt das von einem internen Konkurrenten, oder muss sie eine Spur aus der Vergangenheit verfolgen? Man folgt Caster, fühlt mir ihr und - vor allem - leidet mit ihr. Tolle Sprache, tolle Handlung, böses Ende. Eigentlich gar kein politischer Krimi, aber die zweite Ebene, das Mobbing gegen Caster, ist eben doch politisch. Toll. Rainer Wittkamp, Mit aller Macht. Deutschland, 1930er Jahre und drumherum: Fritz Wernicke will Karriere im Hotelfach machen und wählt dazu einen sehr speziellen Weg, den er geheim halten muss. 1960er Jahre und drumherum: Wernickes Sohn Peter Körber, der in der DDR bei seiner Tante aufgewachsen ist und seinen Vater nie kennengelernt hat, macht Karriere bei der Stasi. Die aber wird durch die Republikflucht seiner Frau jäh gestoppt, und dann bekommt er ein Angebot. Erst will er ablehnen, aber dann gibt man ihm die Tagebücher seines Vaters. Nun muss er sich entscheiden, ob er denselben grauenvollen Weg geht wie der. Wittkamp stellt zwei Lebenswege in den beiden deutschen Diktaturen einander gegenüber. Dadurch, dass die Protagonisten Vater und Sohn sind, zieht er den Leser in die Parallelität ihrer Wege. Man fragt sich: Kann man über den eigenen Lebensweg entscheiden? Worüber darin kann man entscheiden? Und wann ist es zu spät für die Entscheidung? Wittkamp erzählt zwei Leben in zwei Diktaturen, macht das Große im Kleinen verständlich - oder auch nicht - und das Buch ist spannend. Das Nachwort von Christian Adam fasst das, was man beim Lesen eigentlich verstanden hatte, noch einmal in kluge Worte und auch diese Lektüre lohnt sich. Sehr gut bis toll. Horst Eckert, die Macht der Wölfe. Moskau will mit 40 Millionen Euro die "Berliner Faschisten" stürzen. Dennis Schubert wird aus der Haft entlassen und ermordet. Brigitte Veih, ex-RAFlerin, Fotografin und Mutter von Hauptkommissar Vincent Veih, wird verprügelt. Kriminalrätin Melia Adan wird mit einem Hilfeersuchen der Bundeskanzlerin konfrontiert. Einem konservativen, wenn nichtrechtspopulistischen, Fernsehmoderator wird ein hoher, sehr hoher Job in der Politik angeboten: Die Macht der Wölfe ist der vierte Teil der Reihe um Kriminalrätin Melia Adan und Hauptkommissar Vincent Veih von der Polizei Düsseldorf. Melia Adan hat schon eine gute Karriere hingelegt. Die Beziehung zwischen ihr und Veih wird nicht überall gern gesehen. Und nun bittet die Bundeskanzlerin sie um Hilfe, denn sie wird erpresst. Anfangs habe ich mir eine Liste der Personen und Ereignisse angelegt, es dauerte ein paar Kapitel, bis ich sie mir merken konnte: Horst Eckert schreibt rasant, viele kurze Kapitel aus der Perspektive unterschiedlicher Menschen, und ganz allmählich zeigen sich immer mehr Zusammenhänge zwischen den einzelnen, schon in sich spannenden Geschichten. Sehr gut. Lucas Fassnacht, Tartarus - Dein Wissen ist tödlich. Leon Gärtner hat gerade seine Masterprüfung mit dem Thema Gene Drives - genetische Manipulation von Pilzen oder Insekten mit dem Ziel, dass sich das geänderte Erbgut in der gesamten Population ausbreitet - bestanden. Aber nur mit Zwei, weil der eitle Prüfer ihm nicht abnahm, dass er eine bestimmte Formel selbst entwickelt habe. Eine Zwei - für die Promotion an einer Top-Uni hätte er eine Eins gebraucht. Dann aber eröffnet sich eine Möglichkeit: Die Promotion bei einer Koryphäe in Zürich. Er geht dorthin und - bald stimmt gar nichts mehr: Er kommt einer Frau näher, und die wird ermordet. Er lernt einen Milliarder kennen, der will den Hunger in der Welt besiegen und scheint Leon zu umgarnen. Er lernt eine Frau kennen, die mehr als undurchsichtig ist. Das Schlimmste: Leon weiß nicht mehr, ob er seiner Doktormutter, der Schweizer Koryphäe, vertrauen kann. Fassnacht hat einen spannenden Thriller über das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik geschrieben. Es geht um Gentechnik, Agrar-Lobby und Geheimdienste. Wie entsteht Macht, wo zeigt sie sich, und führt ihr Besitz zwangsläufig ins Dunkel - das sind immer Fassnachts Fragen, und der junge Leon Gärtner lernt sie auf die harte Tour. Spannender, solider Thriller. Sehr gut bis gut. Oliver Juli, Das Gebot des Bösen. Ein namenloser Mann beobachtet und zeichnet. Er bereitet eine (nicht medizinische) Operation vor - und er steht seinerseits unter Beobachtung. Eine junge Polizistin und ihr Partner untersuchen einen seltsamen Fall: Viel Blut in einem Wald in der Nähe eines Internats, eine verschwundene Schülerin - und dann verschwinden noch mehr Menschen. Der junge Rom Neven arbeitet für einen Clan der Organisierten Kriminalität aus dem Balkan, aber er hilft auch der Polizei bei der Suche nach der Schülerin. Menschen sterben, immer neue Geheimnisse tun sich auf, und das Geschehen steuert auf ein furioses Ende zu. Oliver Juli hat einen klug konstruierten und spannenden Erstling geschrieben. Im Mittelpunkt zwei, drei Personen, sehr unterschiedlich. Ein Ziel ist bei allen gleich, aber ansonsten haben sie ziemlich gegensätzliche Ziele. Und Wege, ihre Ziele zu erreichen. Das wäre schon spannend genug, aber was mir am Krimi besonders gefällt, sind die genauen Beschreibungen, wie die Personen ihre Ziele erreichen: Neven etwa, der seine Zeichenkunst einsetzt, ein Fahrrad "reserviert" und benutzt und so weiter: viele Kleinigkeiten, die dem Ganzen Spannung und Farbe geben. Und das Geschehen auf Seite 155 ist für einen Krimi auch eher ungewöhnlich. Viele überraschende Wendungen. Gut bis sehr gut. Kunst in KarlsruheImmer wieder interessant und anregend! Ein paar Stunden auf der art KARLSRUHE, der internationalen Messe für Klassische Moderne und Gegenwartskunst, sind eigentlich zu wenig, ein paar Kunstwerke verpasst man immer, aber das ist kein Wunder, so viel, wie da ist: Vier Tage, vier Hallen, eine große Eingangshalle und ein begrünter Innenhof… Das Schöne an solchen Messen ist die Vielseitigkeit. Natürlich war auch Prominenz vertreten wie Schiele, Klimt und Nolde. Aber meine Lieblingsstücke, auch weil es Werke sind, die man eben nicht unbedingt im Museum sieht: „The Orgin of the World: Vulva“ von Marion Mandeng, „Mein Schutzengel macht sich über mich alten Mann lustig“ von Werner Lehmann, „Fadenfrauen 56“ von Marlis Albrecht, außerdem alles von Albrecht Genin, die Schilder von Jens Andres, „concrete love“ von Fredrik Erichsen. Und die Eis-am-Stil-ähnlichen Skulpturen von Lola Luk haben viele Kinder angelockt. Die nächste art KARLSRUHE soll vom 22. bis 25. Februar 2024 stattfinden. April 2023Kunst in HamburgNoch bis zum 21. Mai zeigt das Bucerius Kunst Forum Hamburg die Ausstellung Gabriele Münter. Menschenbilder. Darin wird zum ersten Mal in einer Schau der Fokus auf die Portraits der bedeutenden Expressionistin (1877–1962) gelegt. Versammelt sind rund 80 Gemälde, Druckgrafiken, Zeichnungen, Fotografien und eine Hinterglasmalerei. Münters Lebensweg ist mehr als ungewöhnlich, und von Anfang an ging es ihr um Menschen und ihre Portraits: Als Kind zeichnete sie Menschen mit Bleistift, als junge Frau reiste sie schon in den Jahren 1899/90 mit ihrer Schwester durch die USA. Dabei hat sie viel fotografiert. Ihr Foto von drei schwarzen Frauen im Sonntagsstaat hat mich umgehauen, ich finde es großartig. Sie hielt Skizzenbücher, darin zeichnete sie in wenigen Strichen Menschen, „unübertroffen“ in Ausdruck und Komposition, wie es auf der Website heißt. Im Jahr 1907 hatte sie ihr künstlerisches Debüt im Salon d’Automne in Paris, und die meisten Werke waren Portraits. Die Hamburger Ausstellung hat sechs „Kapitel“: Selbstbildnisse, Porträts, Kinderporträts, Figurenbildnisse, Menschen in Zeichnungen und Gruppenporträts. Jedes Kapitel ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit Münters frühen Fotografien. Während sie großartige Fotos mache und in den Jahren um ihr künstlerisches Debüt ausdrucksstarke Bilder schuf, finde ich anderes eher bieder, etwa ihr Selbstportrait von etwa 1916: ein biederer Mensch, bieder gemalt. Mochte sie sich eigentlich selber? Mein Lieblingsbild: Mädchen mit roter Schleife 2, 1908: Ein verschmitzt-trauriges Mädchen schaut aus dem Bild hinaus, der Ausdruck ist unfertig. Wird sie ein Hausmütterchen oder setzt sie sich durch? Die Hamburger Kunsthalle ist immer einen Besuch wert, weiß ich ja schon ewig, und wiederhole es auch immer gern. Diesmal neu: Kluge Fragen in der ständigen Sammlung. Zum Beispiel: „Ist das Bewunderung, Voyeurismus oder Sexismus?“ unter dem Bild „Phryne vor den Richtern“ von Jean-Léon Gérôme (1824-1904), das eine schöne nackte Frau zeigt, die vor einer großen Gruppe rot gekleideter Richter steht, die um sie herum in einem Rund sitzen. Die Frau zieht sich nicht selber aus, sondern wird entblößt, ein Mann reißt ihr ein blaues Tuch vom Leib. Die Richter richten ihre Blicke auf sie, aber sie selber verbirgt ihren Blick doppelt, indem sie sich abwendet und den Arm vor ihre Augen hält. Tja. Aber: Sie war Angeklagte wegen Gotteslästerung – ein Bildhauer nahm sie als Modell für eine Göttin – und es ist ihr Verteidiger, der ihr das Tuch vom Leib reißt, und die Richter werden sie schließlich freisprechen – wer so schön ist, kann nicht schuldig sein. Außerdem werden die glotzenden Männer bloßgestellt, und ein Modell der Göttin Athene richtet ihren Speer auf das lüsterne Richter-Publikum. So ungefähr jedenfalls der kluge Kollege von Chrismon. Klar: Irgendwie ist eine solche Verteidigung trotzdem entblößend, und hätte der Maler den Anwalt nicht bittebitte VOR der Nackten malen könne, sodass der Betrachter des Bildes die Nackte nicht sieht! Also: Feministisch gesehen: aus meiner Perspektive nicht perfekt. Aber trotzdem ziemlich ok. Gute Idee der Mitarbeiter der Hamburger Kunsthalle. Und gute Fragen, es gibt noch mehr davon – regt an zum Nachdenken! Neue KrimisBernhard Aichner, Bildrauschen. Pressefotograf David Bronski ist runter mit den Nerven und macht Urlaub, Blockhaus in den Tiroler Bergen. Er geht spazieren. Findet eine Frauenleiche. Er will Hilfe rufen - und dann ist die Leiche plötzlich weg. Alles nur Einbildung? Es wird noch schlimmer: Er verläuft sich, landet in einem Luxuschalet mit einer Handvoll Influencer, und wird eingeschneit. Geniale Idee, ebensolches Setting: Eine Handvoll Influencer trifft sich in den Bergen, um füreinander Werbung zu machen, und dabei ein paar Follower vom anderen dazuzubekommen. Sie werden eingeschneit, sind nicht in der Welt, aber sie sind online. Sie fotografieren alles, schreiben ein paar Worte dazu und stellen das Ganze in Nullkommanichts auf ihre Social Media Accounts. Aichner erzählt das Ganze in Staccato-Dialogen, gelegentlich eingeordnet oder kommentiert durch einen inneren Monolog Bronskis. Man leidet mit ihm und manchmal fragt man sich auch, warum er sich grade mal wieder so bescheuert verhält. Die Gesellschaftskritik merkt man gar nicht, sie ist nicht aufgesetzt, sondern gehört dazu. Sehr gut. Hubertus Borck, Die Klinik. Ein Krankenhaus in Hamburg. Ein junger Familienvater wird eingeliefert. Er liegt im Koma, aber kaum ist er außer Lebensgefahr, stirbt er. Seine Witwe glaubt, er wurde ermordet und beauftragt einen Anwalt: Sie hat recht. Die 59-jährige Kriminalkommissarin Franka Erdmann und ihr junger Kollege Alpay Eloglu gehen diesem Todesfall nach und es scheint, dass noch mehr Menschen in dem Krankenhaus auf nicht natürliche Weise ums Leben kamen. Nun befürchten sie weitere Todesfälle. Unterdessen macht die junge Witwe eine merkwürdige Entdeckung. Und dann muss Eloglus Vater in das Krankenhaus. Man weiß fast von Anfang an, wer hier mordet. Aber irgendwie eben doch nicht. Die Dinge passen nicht zusammen. Das, und natürlich die Angst vor weiteren Morden, machen das Buch spannend. Nebenher macht es Angst vor jedem Krankenhausaufenthalt, weniger davor, ermordet zu werden, als vielmehr vor dem Gewinnstreben ausgerechet im Gesundheitswesen, das allzuschnelle Routinen, Überarbeitung bei Ärzten und letzlich Schlamperei fördert. Spannend. Gut. Lioba Werrelmann, Tod in Siebenbürgen. Paul Schwarzmüller kam als kleiner Junge mit seinem Vater aus Rumänien. Ziemlich überstürzt, und die Hintergründe dafür hatte er nie verstanden. Und nun ist seine Tante dort gestorben. Dabei hatte er sie längst tot geglaubt. Sie hat ihm ihren Hof vermacht. Paul ist inzwischen Investigativjounalist, und obwohl er bloß wegen des Erbes nach Rumänien reist, hat er dort plötzlich zu tun: Die Menschen lehnen ihn ab, nur sein alter Jugendfreund Sorin freut sich. Dann geschieht im Dracula-Schloss Bran ein Mord und Sorin wird festgenommen. Paul fängt an zu recherchieren, er will seinem Freund helfen, aber niemand vertraut ihm. Tod in Siebenbürgen ist der erste Band einer Krimireihe um Paul Schwartzmüller. Regionale Krimis gibt es inzwischen noch und nöcher, aber ein Draculaschloss bei den Karpaten ist als Tatort tatsächlich ungewöhnlich. Werrelmann hat mit Paul Schwartzmüller eine nette Figur erschaffen, vielleicht etwas lahm, aber das passt zur Geschichte. Das Buch ist hinreichend spannend, aber nicht immer überzeugend, die geheimnisvollen Kräfte der schönen Maia etwa passen nicht so recht ins Ganze. Ganz gut. Karen Sander, Der Strand - Verraten. "Verraten" ist die Fortsetzung von "Vermisst" (siehe März). Die 19jährige Lilli Sternberg ist noch immer vermisst, ihr mutmaßlicher Mörder tot. Ermittlungsleiter Tom Engelhardt will den Fall weiter verfolgen, ebenso die Kryptologin Mascha Krieger. Da wird eine weibliche Leiche angespült. Und ihre DNA stimmt nicht mit der von Lilli Sternberg überein. Karen Sander hat wieder einen soliden Thriller herausgebracht. Die Polizisten, die gegen ihre Vorgesetzten die Fortführung ihrer Recherche durchsetzen wollen, die Spannungen in den Familien und nicht zuletzt die einzige Ich-Erzählerin, eine Psychiatriepatientin. Zwar handelt es sich nicht um große Krimiliteratur ist, dazu sind die Menschen nicht wirklich glaubwürdig genug und die Handlung ist eben nur eindimensional. Aber man folgt den Menschen und der Handlung, das Buch ist spannend. Ganz gut. März 2023Kunst in PotsdamDas Museum Barberini zeigt in Zusammenarbeit mit dem Pariser Musée Marmottan die famose Ausstellung Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst, die noch bis zum 11. Juni läuft. Übrigens: Museumsstifter Hasso Plattner hat vier neue Monets gekauft – tja, wer täte das nicht auch gern? Er zeigt sie – inzwischen insgesamt 38 Stück und damit die größte europäische Sammlung seiner Werke außerhalb von Paris – in seinem Museum. Die vier haben einen eigenen Raum für sich. Es sind „Der Tümpel im Schnee“ (wie früher, als wir Kinder waren und auf dem Teich Schlittschuh liefen), „Das Parlament, Sonnenaufgang“ (Monet hat 19 Parlament-Bilder gemalt), „Der kugelförmige Baum in Argenteuil“ (hinter einem See, ist er trotzdem das zentrale Motiv des Bildes) und „Der Apfelbaum“ (in grandioser Blüte). Unbedingt anschauen! Neue KrimisVera Buck, Wolfskinder. Unten, im Dorf, sitzt das Böse. Die Welt ist gefährlich. Das lernt man von klein auf in Jakobsleiter, einem winzigen Dorf hoch in den Bergen, wo noch die Wölfe heulen und man sich sein Essen selber anbaut - oder schießt. Doch seit Jahren verschwinden immer wieder Frauen aus der Gegend. Niemand scheint sich dafür zu interessieren. Nur die angehende Journalistin Smilla, die aus der Gegend kommt und deren beste Freundin Juli verschwunden war, als beide 16 Jahre alt waren. Und Jesse, selber aus Jakobsleiter, dessen beste Freundin Rebekka eigentlich in die Stadt wollte - und dann plötzlich auch verschwindet. Dann läuft Smilla ein Mädchen vors Auto, das genaus so aussieht wie Juli als Kind. Smilla fängt an zu recherchieren und was sie entdeckt, bringt sie selber in größte Gefahr. Dieser Thriller ist noch mehr als der klassische Wer-war-es, hier fragt man sich bald Worum-geht-es: Die Geschichte wird immer rätselhafter, je weiter man liest. Man folgt Smilla auf ihren Recherchen, man folgt Jesse auf seiner Suche. Im Buch wechseln sich Kapitel ab, die den unterschiedlichen Menschen folgen: Nicht nur Smilla und Jesse, auch Laura, einer jungen Lehrerin, die neu in der Stadt ist und auch die Kinder aus Jakobsleiter unterrichtet, der kleinen schlauen Edith, die mehr sieht als eine Achtjährige sollte, und Isaiah, dem Priester von Jakobsleiter. Buck flicht und entflicht sorgfältig ein Gespinst aus Ereignissen, für die es eine Vielzahl von Motiven geben könnte. Sie hat ein Gespür für Feinheiten, etwa die abgrundtiefe Bösartigkeit im Verhalten des Entführers gegenüber der Entführten (218). Und den Spruch "Die Fliegen haben gewechselt, aber die Scheiße ist dieselbe geblieben", muss ich mir unbefdingt merken. Ein paar kleine Fehler wurden die im Lektorat übersehen (10: Der "Faunfelsen ist größer als in meiner Erinnerung. Dabei sind weder er noch ich seit jenem Tag gewachsen." Logisch wäre als zweiter Satz: "Dabei ist weder er gewachsen noch ich bin geschrumpft." Oder 17: "Im Osten dämmert es. Es ist diese klamme Stunde zwischen Tag und Nacht, in der die Sonne sich anschleicht" - besser: zwischen Nacht und Tag. Usw.) Auch der Schluss ist nicht so ganz überzeugend. Aber abgesehen davon: Eine sehr spannende Lektüre! Sehr gut bis gut Alexander Oetker und Thi Linh Nguyen, Die Schuld, die uns verfolgt. Mitten in Berlin wird ein kleines Mädchen aus seiner Kita entführt und der Polizist Adam Schmidt setzt alle Hebel in Bewegung, das kleine Kind wiederzuinden. Gleichzeitig wird in einem Brandenburgischen Dorf eine Bank überfallen und die Polizistin Linh-Thi Schmidt versucht, eine Eskalation zu verhindern. Die beiden Polizisten sind verheiratet und es verbindet sie noch mehr, nämlich ein lange zurückliegendes Ereignis. Dieser Krimi ist der erste Band einer neuen Serie um das Polizistenehepaar. Es hat einen autobiographischen Hintergrund: Die Autorin Thi Linh Nguyen wurde in der Nähe von Hanoi geboren, kam im Alter von drei Monaten nach Berlin-Marzahn und, so steht es im Klappentext, "erlebte die Hochphase der vietnamesischen Mafia in den Plattenbauvierteln im Osten der Stadt." Die Eltern der Protagonistin hatten sich auch am illegalen Zigarettenhandel beteiligt, bevor sie legale Berufe ergreifen konnten. Und ein Bruder scheint noch immer nicht ganz sauber zu sein - was interessante Interessenkonflikte für spätere Bände verspricht. Nguyen hat mit diesem Krimi debütiert, Oetker hat schon mehrere Romane geschrieben. Ich bin gespannt auf weitere Bücher. Was die Herstellung von Phantombildern betrifft, könnten die Autoren noch etwas recherchieren (191), die Prügelszene S. 213 ist nicht stimmig, ebensowenig wie die Zählerei S. 216, für Kleinigkeiten sollte der Verlag ins Lektorat investieren. Aber der Schluss ist wirklich gut. Gut Karen Sander, Der Strand. Vermisst. Sellnitz auf dem Darß. Lili Sternberg, 19 Jahre alt, verschwindet. Jahre zuvor war ihre Mutter auch schon verschwunden und später aufgefunden - erschlagen. Lili ist daraufhin bei ihren Großeltern aufgewachsen. Und die machen sich nun umso mehr Sorgen, weil Lili gehörlos ist. DIe einzige Spur ist eine seltsame Zeichenfolge, in den Sand gemalt und abfotografiert: Das wurde von Lilis Handy an das ihrer besten Freundin geschickt. Nun versuchen der alleinerziehende KHK Tom Engelhardt, der an der Ostsee eigentlich seine Ruhe haben wollte, und die Kryptologin Mascha Krieger vom LKA, das Rätsel zu lösen und Lily zu finden. Vermisst ist der erste von geplant drei Thrillern um das Verschwinden der Lili Sternberg. Karen Sander lässt mehrere Handlungsstränge nebeneinander herlaufen, die sie im Laufe der drei Bücher weiterentwickelt und entwirrt: Eine Patientin flüchtet aus der Psychiatrie in Teterow. Lilis beste Freundin Fabienne hat etwas zu verbergen. Lilis Großeltern scheinen ein Geheimnis zu haben. Von Lilis Computer sind Daten verschwunden. Die Kryptologin sucht auch noch etwa ganz anderes. Und so weiter. Sander gibt den roten Faden dabei nie aus der Hand, sondern führt den Leser anhand der Zeitangaben durch die kurzen Kapitel. Sie schreibt fast immer aus der Perspektive der Ermittler, nur ein paar Passagen stehen in der Ich-Form, erst relativ spät merkt man, wer dahintersteckt. Andererseits: Es gibt Unmengen Krimis und Thriller mit vermissten Mädchen und Frauen, Kompetenzgerangel zwischen Polizisten, männlichen und weiblichen Polizisten, denen man insgeheim eine Partnerschaft wünscht. Der Thriller ist nicht toll, aber war recht spannend, ich werde auch die beiden anderen Bücher lesen. Ganz gut. Peter Klisa, In den letzten Stunden der Dunkelheit. Deutschland, April 1945. Eine Gruppe Amerikaner fliegt in einer waghalsigen Aktion nach Berlin. Sie sollen verhindern, dass den Russen das Wissen über das Deutsche Atomprogramm in die Hände fällt. Mit dabei ist Frederic Carvis, der einst in Deutschland Physik studiert hatte - und sich dabei in Anna verliebte, die er nun wiederzufinden hofft. Klisa verknüpft zwei Zeiten im Leben von Carvis und damit auch in der Politik: 1936, als die Deutschen den Krieg vorbereiten, eine Zeit geprägt von Arroganz, Rassismus und Fortschrittsglauben. Da lädt Carvis´ Physikprofessor ihn auf ein rauschendes Fest ein, und der junge Student lernt Anna kennen. Und April 1945, als die Deutschen den Krieg im Grunde verloren haben und Kinder an die Flak schicken. Da muss Carvis nach Berlin, wo Gefahr von Russen und Hitlerjungen droht. Eigentlich eine spannende Konstellation. Aber ich kann Klisas Schreibstil nicht ertragen. Diese Sprache! Zum Beispiel "als Kind bin ich in Berlin aufgewachsen" (65), "versetzte das Flugzeug schlagartig in Alarmzustand" (79). Und kann man sich wirklich im Transportraum einer JU 52 unterhalten (94ff) - ist es da nicht viel zu laut? Ich habe es bis Seite 127 geschafft. Nicht gut Februar 2023Neue KrimisSven Stricker, Sörensen seht Land. Nix los in Katenbüll - fast nix: Das EKZ feiert sein Jubiläum. Bei dem Jubiläumsfest rast ein Auto in die Menschenmenge. Menschen sterben. Das Auto gehört einem ehemaligen Praktikanten von Sörensen, dem Kriminalkommissaranwärter Malte Schuster. Sörensen glaubt nicht, dass er der Attentäter ist. Und dann sind da noch ein paar andere Mitfahrer, aber ob die es waren? Die einzige Frau im Wagen ist tot. Sörensen recherchiert, trotz nerviger Vorgesetzter. Sörensen leidet unter seiner Angststörung und darunter, dass alle davon wissen und darüber reden. Er ist ein Anti-Held, macht viele Fehler, und obwohl das nach einem billigen Schema aussieht, ist es das ganz und gar nicht. Erstens kann Stricker richtig gut schreiben, die Bilder machen Spaß: Aus dem Telefonat mit EKHK Rösler taucht Sörensen "auf wie aus einer Toilettenschüssel." (129) Und überhaupt kann man hier über 25 Seiten (S. 74ff) eine großartige und zum Schreien komische Nicht-Sex-Szene lesen. Ab und zu ein Seitenhieb gegen Öko-Essen und Gendern, aber die meiste Zeit geht es eigentlich um die Beziehung zu seinem Vater. Und das liest sich richtig gut. Sehr gut. Fabio Lanz, Das Fallbeil. Die Ermittlerin Sarah Conti und das Team de Mordkommission langweilen sich, ach, hätten sie doch wieder einen spannenden Fall zu lösen, "einen Fall mit allem Drum und Dran" (S. 20)! Tja, und was soll man sagen: Ein Mensch stirbt, wird ermordet, und die Ermittler haben ihren Fall. Nun ja. Der Mord geschieht im Kunsthaus Zürich (das gibt es tatsächlich: https://www.kunsthaus.ch) und zwar mit einer Guillotine, die zu einer Kunstausstellung gehört. Das Opfer war Journalistin. Sie hatte viele Ausstellungen rezensiert und war dabei zahlreichen Leuten auf die Füße getreten. "Im Glanz und Glamour der Kunstwelt mangelt es nicht an Verdächtigen", steht auf der hinteren Umschlagseite des Buches. Der Autor Fabio Lanz kann schreiben, keine Frage, und eine Ermittlerin, die hervorragend Klavier spielt und sich für Kunst interessiert, ist eine richtig gute Idee. Lanz nimmt die Szene um Kunst und Kultur gehörig auseinander, und es liest sich so, als hätte er da gute Insiderkenntnisse. Gleichzeitig ist das Ganze etwas gewollt: Dass sich Mordermittler nach einem spannenden Fall sehnen, disqualifiziert sie in meinen Augen - schließlich geht es darum, dass ein Mensch auf gewaltsame Weise zu Tode kommt. Lanz schreibt auch etwas zu sehr schwarz-weiß: Conti und ihre Galeristin-Freundin und ihr Liebhaber Fred sind "gute" Kulturmenschen; aber zum Großteil sind die Kunst-und-Kultur-Typen in diesem Krimi ekelhaft. Wo bleiben die Grautöne? (in einem Interview beantwortete er die Frage , warum er unter Pseudonym schreibe, mit dem Stress, den die Öffentlichkeit für einen Autor bedeute: "Wenn das Pseudonym mal auffliegen sollte, ist das ok. Aber vorerst lebe ich wie Diogenes in seiner Tonne." https://www.krimi-couch.de/magazin/interview/11-2021-fabio-lanz). Unter mangelndem Selbstbewusstssein dürfte er nicht leiden. - Aktualisierung: Lanz war früher Feuilletonchef der NZZ und heißt in Wirklichkeit Martin Meyer. Sehr gut bis gut. Bernhard Jaumann, Banksy und der blinde Fleck. An verschiedenen Orten in München tauchen Graffiti von Ratten auf. Die ersten werden noch überweißt. Die nächsten werden als "echte Banksys" diskutiert und eine "Geschädigte" beauftragt die Detektei mit der Nachforschung. Schließlich kommt es in einem Münchner Auktionshaus zu einer spektakulären Bieterschlacht um eine Tür mit Graffito. Daraufhin schützt die "Geschädigte" ihr Graffito mit einer Plexiglasscheibe und entzieht der Agentur den Auftrag. Aber die drei Detektive recherchieren aus Neugier weiter und jeder scheint eine eigene Spur zu verfolgen: Echte Banksys? Wenn ja: Wer ist das überhaupt? Oder handelt es sich um Graffiti von Trittbrettfahrern? Gibt es Hinweise auf die Münchner Street-Art-Szene? Aus der Münchner Street-Art-Szene? Und welche Rolle spielen die Medien? Banksy und der blinde Fleck ist der dritte Band der Krimireihe um die drei Detektive der Kunstdetektei von Schleewitz. Der erste Band (Der Turm der blauen Pferde) hatte mir gut gefallen, der zweite Band (Caravaggios Schatten) ging so, nun war ich gespannt auf den dritten. Und? Also, dieser Band gefiel mir wieder. Die drei Kunstdetektive mit ihren Problemen sind nichts Großes, aber man möchte doch wissen, wie es weitergeht. Und das große Thema das Krimis, nämlich die Möglichkeiten einzelner Menschen für eine gewisse Kapitalismuskritik, ist interessant, ebenso wie z.B. die Frage nach Banksy als kapitalistische Marke (81ff) oder das Urheberrecht in der Kunst (92). (Und man kann auch fragen, inwiefern dieses Buch von Banky profitiert. Aber das ist mir egal.) Gut.
Lea Stein (Pseudonym der Journalistin Kerstin Sgonina) hat einen spannenden Krimi geschrieben, bei dem man sich ins Nachkriegsdeutschland hinein versetzen kann: Man fühlt mit Ida Rabe mit, die selber vor Hunger oft kaum arbeiten kann und sich ein Zimmer mit einer anderen Frau teilen muss. Und die eine düstere Vergangenheit in der Hamburger Unterwelt hat. Stein erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Ida und - im kürzeren Passagen - aus der Perspektive einer anderen Person, deren Identität lange unklar bleibt. Lange bleibt auch der wahre Hintergrund der Taten im Unklaren, und das ist spannend. Gut bis ganz gut. Kunst in FrankfurtHistorisches Museum Frankfurt: Alles verschwindet! Carl Theodor Reiffenstein (1820-1893). Bildchronist des alten FrankfurtStädte verändern sich. Neues entsteht und Altes verschwindet. Seltsam ging es in Frankfurt am Main zu: Die Altstadt entstand im Mittelalter und war vor dem Zweiten Weltkrieg eine der besterhaltenen Mitteleuropas. Dann wurde sie durch Bombenangriffe fast vollständig zerstört. Aber in den 2010er Jahren wurde sie wieder aufgebaut. Und nun hat Frankfurt zwischen Dom und Römer eine neue Altstadt: 35 Häuser, davon 15 originalgetreue Rekonstruktionen und 20 Neubauten. |
Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde, ist der erste Fall der Kunstdetektei von Schleewitz: Das berühmte Gemälde "Der Turm der Blauen Pferde" von Franz Marc war erst von den Nazis als entartete Kunst bezeichnet worden, dann hat Josef Göbbels es an sich gebracht. Seit Kriegsende gilt es als verschollen, allerdings soll es noch zweimal in Berlin gesehen worden sein. Die Kunstdetektei von Schleewitz soll für Egon Schwarzer die Provenienz genau dieses Gemäldes herausfinden, er hat es nämlich zum Schnäppchenpreis von drei Millionen Euro gekauft. Spannender Kunstkrimi, der immer zwischen dem heute (2017) und der Vergangenheit(1945 und später) wechselt. So hätte es gewesen sein können, zwar sehr unwahrscheinlich, aber wen stört das? Gut geschrieben, die Empfindungen des Räubers gegenüber dem Gemälde vielleicht nicht ganz nachvollziehbar, aber doch sehr gut. Ich bin gespannt auf die nächsten Fälle dieser Kunstdetektei. Guter Krimi.
Andreas Pflüger, Geblendet, bildet den Abschluss der Trilogie um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron. Sie ist in medizinischer Behandlung, um wieder sehen zu lernen - anstrengender, als man sich das vorstellen kann. Sie hat eine Gegnerin, die ihr sehr ähnlich ist und ihr ebenbürtig scheint. Ihre "Abteilung", eine Spezialeinheit der Polizei, die nicht dem BKA, sondern der Innenministerkonferenz unterstellt ist, hat einen schrecklichen Feind. Ich mag Pflügers Umgang mit Sprache, die Aufzählungen und die Wiederholungen, und auch die seltsame Kombination aus Realität und Phantasie/Karate-Philosophie. Dies Buch ist etwas weniger waffenträchtig als die beiden ersten, fand ich auch nicht schlecht... Nicht schlüssig: Der Psychologe sagt, ihr Vater habe in Jenny Aaron den Sohn gesehen, den er nicht hatte. Kann man schnell durchlesen, aber es lohnt sich, genauer hinzugucken. Sehr gut gefällt mir zum Beispiel, dass so ein Lara-Croft-Typ eine komplizierte Psyche haben "darf". Sehr guter Krimi.
Karsten Dusse, Achtsam morden. Ein entschleunigter Kriminalroman. Der Erzähler ist Rechtsanwalt in einer großen Kanzlei und wird von seiner Frau, für die er keine Zeit mehr hat, in ein Achtsamkeitsseminar geschickt. Das wirkt sich geradezu revolutionär auf seine Arbeit aus, er hat Zeit und Ruhe, allerdings passieren plötzlich lauter Morde. Herrliche Satire, lustige Morde, ideal für alle, deren Freunde seit ihrem Achtsamkeitsseminar davon schwärmen, wie toll ihr Leben seitdem ist, und nur noch nerven. Dazu eine im Absurden schlüssige Handlung. Nur am Schluss sacken Spannung und Anspruch ein wenig ab, die letzten Morde sind etwas zu viele und zu grausam. Als hätte der Autor etwas geschludert, weil er einerseits keine allzu einfache Lösung wollte (etwa, dass der Anwalt das Syndikat auch de nomine übernimmt), andererseits mit der ein bisschen offenen Lösung nicht ganz zufrieden ist. Aber das ist Spekulation. Trotzdem: Ich hab das Buch mit größtem Vergnügen gelesen und sage nicht nur "sehr gut" sondern "toll", weil es so ungewöhnlich ist.
Selim Özdogan, Der die Träume hört. Nizar Benali ist Privatermittler für Cyberverbrechen. Nun soll er einen Darknet-Dealer finden, an dessen Stoff ein Teenager gestorben ist. Im Laufe der Recherche wird er mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert: Er kommt aus "Westmarkt", einer Art Ghetto für "Schwarzköpfe" (Türken, Araber...), und hat einen gewissen sozialen Aufstieg geschafft. Aber das ist auch ein Ausstieg, und nicht einfach zu bewerten. Sehr spannender Krimi über eine Internet-Ermittlung. Sehr souverän: "Er ist nicht der Klügste. Wie Sami, aber das ist mir egal." (S. 213, ähnlich S. 167.) Meist sind die eigenen Leute Helden, aber dieser Autor erzählt differenziert. Man bangt und fühlt mit, wird wütend, und dabei ist es einfach spannend. Nebenher erfährt man einiges über Türken in Deutschland, ohne erhobenen Zeigefinger. Blöd, an sowas zu denken, ist aber einfach so. Sehr guter Krimi.
Dirk Brauns, Die Unscheinbaren. Die Eltern von Martin Schmidt, 18, werden in der DDR als BND-Spione verraten und enttarnt und müssen ins Gefängnis. Jahre später kommt seine Mutter frei und geht in den Westen, Martin folgt ihr und lässt seine Freundin zurück. Heute ist seine Mutter im Altenheim und Martin Tierarzt in Bayern. Wissenschaftler wollen ihn zum Spionagefall interviewen und Martin geht den alten Spuren nach. Was geschah damals wirklich? Wenn die Eltern Spione sind, beeinflusst das die Kinder - nicht erst bei der Aufdeckung. Was haben Geheimnisse für eine Macht über eine Familie? Man geht mit Martin die alten Wege nach, und erkennt, wer alles von Spionage und Verrat profitiert hat. Man beginnt, seine lieblose Mutter zu verabscheuen und über die Rolle Martins nachzudenken. Trauriges Buch über die Folgen von Spionagetätigkeit für die Familien der Spione. Aber auch ein bisschen lahm - ich bin mit Martins Figur nicht so richtig warm geworden, was vielleicht Absicht des Autors war, aber ich verstehe sein Handeln oft nicht. - Die Grafik auf der vorderen Umschlagseite sollte man erst am Schluss angucken. Guter Krimi.
Bewohnerfreundliche Städte, gegenseitige Hilfe: Viele Menschen, laut Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg sogar "immer mehr Menschen engagieren sich weltweit privat und beruflich, weil sie etwas verändern wollen." Das Museum macht dazu gerade eine Ausstellung: Social Design präsentiert 25 ausländische (auf dem Flyer steht "internationale", aber ich will dem Wort "ausländisch" den negativen Klang nehmen) Positionen und eine Reihe Projekte aus Hamburg. Mein Lieblingsprojekt: Vagabunt Hamburg, das Social Fashion mit Straßenkindern, minderjährigen Geflüchteten und Mädchen mit Gewalterfahrung gestaltet. Die "Vagabunten" schreiben auf ihrer Homepage: "Social Fashion will die Strahlkraft von Mode nutzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Und wir sind nicht nur ein Social Fashion Projekt, sondern auch ein super slow fashion-Label: Ein Jahr - eine Kollektion!" Große Klasse: Das Traditionshaus Ladage & Oelke, das auch schon mal eine Anzeige bei Hinz&Kunzt geschaltet hatte, und das gerade vom Neuen Wall in die Großen Bleichen umgezogen ist, hat wunderbare Stoffe gespendet. Hey, das wird ein Traum von einer Kollektion!
Großartiges Konzert, hätte ich nie so erwartet... Hieß Three Generations, weil die Musiker zwischen 18 und 83 Jahre alt sind. Brillant und schön, und nicht mal die teils kitschigen Hintergrundbilder störten. Mein persönlicher musikalischer Höhepunkt für lange Zeit.
Sogar die Vorgruppe, das Lukas de Rungs Quintett, war wirklich gut. Die sahen alle so brav und bürgerlich aus und machten dann so tolle Musik ;-)
Gewächse der Seele - Pflanzenfantasien zwischen Symbolismus und Outsider Art zeigt das Wilhelm Hack-Museum in Ludwigshafen bis Anfang August, und bis Anfang Juli Bild und Blick - Sehen in der Moderne. Bild und Blick hat mir besser gefallen. Die Pflanzen wirkten so, wie man sich einen LSD-Rausch vorstellt. Es geht um die "Bedeutung von Symbolismus und Surrealismus als Vorbedingung für die Entdeckung von mediumistischer Kunst und der ´Bildnerei der Geisteskranken`. Damit hinterfragt die Schau auch die feste Abgrenzung von etablierter Kunst und Outsider Art und unterstreicht die fließenden Übergänge der Kunstproduktionen unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen", naja. Ist mediumistische Kunst nicht eine Einbildung? Die Ausstellung wirkt so, als würden die Macher selbst an sowas glauben, das finde ich befremdlich. Kann man sowas überhaupt entdecken? Oder nicht vielmehr erfinden? Bild und Blick war dagegen vielfach streng und karg, bot für mich trotzdem mehr zu sehen und zu denken. "´Der Betrachter ist im Bild – diese Formulierung des Kunsthistorikers Wolfgang Kemp hebt hervor, dass der Künstler den Rezipienten in der Konzeption seines Werks mitdenkt und damit dessen Standpunkt in seine Überlegungen einbezieht." Ja. - Ist der Künstler eigentlich selbst Rezipient?
Das Zeughaus der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim zeigt Mannheim als glanzvolles Zentrum der europäischen Theater- und Musikkultur im 18. Jahrhundert. (Lebendiges Theater gibts da aber auch bis heute.) Steigt man im Zeughaus alle Treppen hoch, sieht man in der Ausstellung Vorhang auf! Theatergeschichte ein seltenes Bühnenmodell des Theaters aus der Zeit um 1800, eine Windmaschine aus dem Barock, mehrere Bühnenbildmodelle verschiedener Inszenierungen und Hörbeispiele aus berühmten Opern, gesungen von Sängerinnen und Sängern des Nationaltheaters.Aber das Bühnenmodell fand ich am tollsten.
Das KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst zeigt eine Ausstellung zu Jonathan Monk: Exhibit Model Four - plus invited guests. Monk ist Brite und lebt in Berlin. Er ist nicht nur Künstler, sondern er sammelt auch Kunst. In dieser Ausstellung zeigt er einige dieser Werke und stellt ihnen eigene Werke gegenüber, die eigenen aber auf riesigen Schwarzweiß-Fotos.
Das FLUXUS+ zeigt Wolf Vostell Contemporary Art. Naja, wirklich contemporary ist es nicht mehr, mit den Installationen, die vor ein paar Jahrzehnten noch schockiert haben. Ein Zitat von der Homepage des Museums: ""Die Attacke von Fluxus ist eine Attacke gegen die Beschränktheit des freien Ausdrucks, gegen die Beschränktheit des Kunstbegriffes, gegen die Beschränktheit der Sammler und Museumsdirektoren." Wolf Vostell, Covertext VGDL – „Garten der Lüste“, 1982" - Ach ja, die böse Kunstwirtschaft. Trotzdem aktuell: Auf dem Boden sind Pfeile und Zeichen, und Anweisungen: Der Besucher soll zum Beispiel an einem Ort stehen bleiben und irgendwas machen, Grimassen oder Geräusche. Macht Spaß. Ist das Selbstironie?
Im Atelier, welches heute das Kunsthaus Dahlem ist, sollte Arno Breker arbeiten. Hitler bewunderte Breker für seine Kunst und seine nationalistischen Ideen und wollte ihm ein Atelier zur Verfügung stellen. Das wurde nach Plänen von Hans Freeese zwischen 1939 und 1942 errichtet, aber Breker kam nur sporadisch hin, weil das Glasdach durch die Bomebenabwürfe bedroht war. Außerdem schenkte Hitler ihm 1949 das Schloss Jäckelsbruch in der Nähe von Wriezen, wo sich die "Arno Breker Bildhauerwerkstätten gGmbH" befanden. Heute widmet sich das Kunsthaus Dahlem der Kunst der deutschen Nachkriegsmoderne mit Schwerpunkt auf Skulpturen zwischen 1945 und 1961. - Ich würde aber auch gern was von Breker sehen, so schlimm es war. Der Schutz vor schlechtem Einfluss kann auch eine Bevormundung sein, und die Unterstellung, zu einem eigenständigen Urteil nicht fähig zu sein. (Kann, nicht muss, klar. Aber ich empfinde es so.)
Direkt neben dem Kunsthaus Dahlem befindet sich das Brücke Museum. Noch bis zum 11. August läuft hier die Ausstellung Flucht in die Bilder? Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus. Sie waren verfemt, aber die meisten hatten anfangs gehofft, dass die Nationalsozialisten ihre Kunst anerkennen würden, und malten weiter, nur Kirchner nicht, der brachte sich im Jahr 1938 um.
Mantegna + Bellini in der Gemäldegalerie, ach toll. Die beidenwaren Freunde, Rivalen, Schwäger. Sie beeinflussten einander und entwickelten sich doch eigenständig weiter. Tolle Austellung, leider viel zu kurz.
Ein Mädchen steht am Fenster und liest einen Brief. Ihre Wangen sind leicht gerötet, sie ist versunken. Vor ihr das geöffnete Fenser und an der Wand - nichts. Oder ein Putto? Das berühmte Bild von Johannes Vermeer wird auf 1657/59 datiert, es hängt in Dresden. Immer mit einer hellen Wand als Hintergrund. Eine Röntgenaufnahme hatte schon in den 1970er Jahren gezeigt, dass ein Putto das lesende Mädchen betrachtet, aber er war eben übermalt worden. Man dachte, Vermeer selbst hätte ihn übermalt und ließ alles so. Nun aber beschloss man, das Gemälde zu restaurieren. Und entdeckte dabei, dass zwischen der Firniss über dem Putto und der Übermalung Dreck war, und zwar so viel Dreck, dass Jahrzehnte vergangen sein mussten, bevor der Putto übermalt wurde. Vermeer aber starb im Alter von 43 Jahren. Also muss irgend jemand anderes den Putto übermalt haben. Die Dresdner beschlossen, im Zuge der Restaurierung auch den Putto wieder freizulegen. Der Restaurator trägt ganz vorsichtig mit einem Skalpell die Farbe ab. Das ist so anstrengend, dass er nur einen bis zwei Quadratzentimeter am Tag schafft. Einen Monat lang konnte man das Gemälde bewundern, im "Zwischenzustand", mitten in der Restaurierung, mit einem tollen Erklärvideo dabei. Mitte 2020 soll es fertig restauriert sein und wieder ausgestellt werden.
Bei Paul Ingendaay, Königspark, (Vorsicht Spoiler) beginnt die Kampfsportlerin Nuria, als "Hüterin" im Madrider Königspark zu arbeiten, wo vor allem illegale Einwanderinnen zur Prostitution gezwungen werden. Die Hüter sind im Park das, was Wirtschafter im Bordell sind: Sie verteidigen die Frauen gegen gewalttätige Freier, halten sie aber auch zur Arbeit an. Der Zuhälter, für den Nuria arbeitet, beschäftigt, ohne von der Verwandtschaft zu wissen, auch Nurias ältere Schwester Isa, die zehn Jahre vorher von zu Hause abgehauen war und nun freiwillig als teure Escort arbeitet. Nuria wird immer kritischer. Schließlich lernt sie einen Journalisten kennen, dem die Frauen im Park leid tun. Sie befreit zwei Frauen, so dass er Zeuginnen hat, anhand derer er die Geschichte journalistisch erzählen kann, und der Zuhälter fliegt auf. Tolles Buch, es fragt nach Macht und Machtmissbrauch und nach der Verantwortung des Einzelnen in einem komplizierten System. Auf den ersten Blick lässt es viele Fragen offen, sie werden beantwortet mit der Entwicklung der Personen. So könnte man denken, der Zuhälter ist im Grunde seines Herzens ein Guter. Aber er arbeitet sich auf Kosten vergewaltigter Flüchtlinge hoch (Kalkulation Seite 255, Zwang S. 140, System S. 357, er ohrfeigt am Schluss Nurias Schwester, die bis dahin seine Vertraute gewesen war, S. 385). Und Nuria hilft den Frauen und steht ihnen nahe, aber sie hält sie auch zum Arbeiten an, nur eben ohne Drohung (S. 95); letztlich will sie das Böse bekämpfen (S. 347). Es gibt freiwillige Prostitution (ein Transvestit), möglich aber nur ohne Zuhälter; Zwangsprostitution wird von der Gesellschaft toleriert und ist ein schwärendes Übel. Ein anderes Thema ist gesellschaftliches Standesbewusstsein (der Zuhälter will oben ankommen, erkennt aber, dass es ihm nicht gelingt; Nuria liest Jane Eyre und schätzt bei dergesellschaftlich Unterlegenen deren innere Freiheit im Streitgespräch). Ein Buch, welches das Thema der Prostitution aus ungewöhnlichen Perspektiven behandelt, mit überraschenden Wendungen, und vor allem, was ich natürlich großartig finde, mit wirklich guten Einfühlungsvermögen in eine junge Kampfsportlerin.
Martin Suter lässt in Allmen und die Erotik Privatdetektiv Johann Friedrich von Allmen seinen 5. Fall lösen: Er ist mal wieder pleite, wird beim Diebstahl erwischt und erpresst: Er soll von einem fromm gewordenen ehemaligen Porzellanwarenhändler erotische Figuren stehlen, die dem peinlich sind, und deren Anblick er seiner 25-jährigen Enkelin nicht zumuten woill. Darum hat er sie versteckt, und Allmens Erpresser weiß, wo. Das Buch lebt von drei Figuren und der Spannung zwischen ihnen: von Allmen, Carlos, ehemaliger sans-papier und Schuhputzer, und dessen Freundin Maria. Carlos war früher Allmens Diener und ist inzwischen sein Teilhaber. Eine Geschichte um erotische Porzellanfiguren ist in Prinzip interessant. Aber auf mich wirkt das Buch abstoßend. Ich habe zwar geschafft, es bis zum Ende zu lesen, es ist auch handwerklich ok. Aber alles wird vom Verhältnis zwischen Allmens, Carlos und Maria überschattet. Allmen ist von übertriebener Nonchalance, Carlos ein treuer Anhänger und Marias praktisch-vernünftig. Das Ganze wirkt als Überhöhung des Adels, die konterkariert werden soll durch Suters Ironie ("Johann Friedrich von Allmen, der auf das ´von` gerne verzichtete, um diesem mehr Gewicht zu geben, befand sich auf einer Durststrecke.", Marias Lebensklugheit, Carlos´ Freigiebigkeit und Allmens Schussligkeit und Großzügigkeit (S. 36). Aber das funktioniert nicht, weil erstens Allmen zu snobistisch ist (Teesorten, Whiskysorten, Anzugstoffe S. 212) zweitens der Diener eher Kadavergehorsam als Treue zeigt (macht bei einem Diebstahl mit, tut so, als sei er souverän, ist es aber nicht, S. 43) und eben doch unterwürfig ist (Carlos gibt Allmen 3000 Franken, damit er ausgehen kann, "Für Sie, Don John." Allmen antwortet "Nein, es gehört mir nicht.", und der Diener: "Nein, aber es gehört zu [kursiv] Ihnen.", S. 72), und Maria erinnert mich an Mammy in Vom Winde verweht: lässt Lebensklugheiten vom Stapel, ist aber im Grunde unterwürfig "Männer! Stehlen, damit niemand erfährt, dass sie stehlen! Kinder!" (S. 33)
Romy Hausmann, Liebes Kind: Die Studentin Lena aus München wird vermisst. Alles ist anders, als man denkt. Lena erzählt, Hannah erzählt, noch mehr Menschen erzählen. Nach und nach glaubt man, die Geschichte zu vestehen und wird doch immer wieder überrascht. Ein Thriller, wie man sich ihn wünscht: Spannend, überraschend, und obwohl die Handlung verschlungen ist, kann man ihr leicht folgen. Hab ich an zwei Abenden so weggelesen. Bemerkenswert: Die Autorin kann sich phänomenal gut in Menschen hineinversetzen, die mit Tagträumen ein Trauma bewältigen und (Epilog) die ihre Fähigkeit zum Tagträumen einsetzen, um innerlich frei zu sein. Vielleicht keine große Literatur, aber hier schimmert Größe durch.
Beim Hochamt in Neapel von Stefan von der Lahr (Vorsicht Spoiler) laufen mehrere Kriminalfälle über kreuz: Eine Gruppe Menschen sucht in Neapel das Grab Alexanders des Großen. Die Camorra verschiebt radioaktiven Müll und lagert ihn an ungeeignetem Ort. Der IS will ein Attentat in Damaskus verüben. Komplizierte Verflechtungen. Und diese sind intelligent, es gibt überraschende Handlungsstränge. Besonders ist: Religion wird zwar kritisch gesehen, aber nicht niedergemacht. Sie spielt sogar eine besondere Rolle, weil Frömmigkeit und Verzückung eine gesellschaftliche Kraft bilden, eine Bewegung, als siegreiches Gegengewicht zur Bewegung der Camorra.
Matthias Wittekindt, Die Tankstelle von Courcelles. Ein Dorf in den Vogesen. Eine Gruppe von Kindern um Lou, anfangs 9 Jahre alt, wächst heran, wird eine Clique, bekommt einen kritischen Lehrer namens Theron, macht Abitur. Ein Verbrechen geschieht. Ein junger Mann aus der Gruppe nimmt sich das Leben. Ein junger Gendarm, Ohayon, versucht, an die Jugendlichen heranzukommen und es aufzuklären. Sprödes Buch, das immer die Gefühle und Handlungen der Beteiligten erklärt, so wie es auch zB Steinfest macht, aber kälter. Man lernt als Leser niemand richtig kennen, wird auf Distanz gehalten von den Personen, von denen auch niemand wirklich sympathisch wird, außer Ohayon, aber auch den lernt man kaum kennen. Nur einmal wird der links-kritische Lehrer versteckt aufs Korn genommen (er lebt in einem Haus, dem man ansieht, dass er reiche Eltern hat), geschieht ihm recht, denn zwar provoziert er die Jugendlichen und regt sie so zum Denken an, aber letztlich lässt er sie im Stich. Immerhin, eine prekäre Situation mit Lou nutzt er nicht aus. Am Schluss ist der Autor gut zu Lou. Ein sehr gutes Buch, aber ich tat mich etwas schwer mit der Lektüre.
Johannes Groschupf, Berlin Prepper: Berlin, Walter Noack ist etwa 40, Online-Redakteur, zuständig für die Löschung von Hass-Kommentaren bei einer Berliner Tageszeitung (Berliner Morgenpost, eventuell Welt). Er erzählt in der Ich-Form von seiner Arbeit, von seinem Privatleben (er ist Prepper, erwartet Katastrophen und Anarchie, hortet Lebensmittel, hält sich mit Sport fit). Plötzlich wird er zusammengeschlagen, nach ihm auch eine junge Kollegin, und danach erleidet er einen entsetzlichen privaten Verlust. Er setzt sich mit Rechtsextremisten in Verbindung und besorgt sich eine Waffe. Hasskommentare sind ein interessantes Thema, das durch den Mord an Walter Lübcke leider Aktualität gewinnt. Das hat der Autor gut vorhergespürt, und er beschäftigt sich mit denen, die sich hiermit beruflich auseinandersetzen müssen. Der Ich-Erzähler ist ein durchgeknallter Spinner, dem Unrecht geschieht. Groschupf präsentiert ihn nicht als harmlosen sympathischen Mensch, was nahe liegen würde, sondern traut sich, zu differenzieren, was ihm wirklich gut gelingt. Groschupf gibt viele Hasskommentare wieder, die sehr realistisch wirken, außerdem führen sehr unterschiedliche, oft widerliche Menschen in den Dialogen ihre Gedanken aus. Nebenher kritisiert er Verantwortungslosigkeit von Medien, die den Ton ihrer Artikel zum Thema Flüchtling verschärfen, um Klicks zu generieren - und um Kommentare zu provozieren, die weitere Leser anlocken (S. 114 f.) Ungewöhnliches Thema, ungewöhnliche Umsetzung, spannendes Buch.
Sie finden statt vom 13. bis zum 29. März 2020. Und es gibt schon Karten für die Eröffnung, die Bühnenversion von Stephen Kings "Misery" in der Inszenierung von Eva Hosemann. Nix wie hin!
Das neue Buch von Heinrich Steinfest, Der schlaflose Cheng, ist spannend, hat überraschende Wendungen, sprengt den üblichen Rahmen. Und ist wie jeder Steinfest auch etwas maniriert. Das Buch gefällt mir sehr gut, wie soll ich es ausdrücken?, weil es so etwas Pazifistisches und Undogmatisches hat. Gun Love von Jennifer Clement handelt von Pearl und ihrer Mutter, die in einem alten Ford Mercury am Rande eines Trailerparks in Florida leben. Draußen veranstalten die Leute Schießübungen, drinnen geht es um Musik und Kunst und Träume. Dann verliebt sich ihre Mutter, leider in den falschen Mann, mit schrecklichen Folgen. Man wird allmählich in die Familiengeschichte, genauer: die Herkunftsgeschichte der Hauptperson hineingezogen. Wenn Pearl erzählt, zerreißt es mir das Herz und ich werde wütend. Ich habe allerdings eine Handlung von Pearl - ich will sie nicht verraten, aber sie steht in Kapitel 31 - nicht verstanden. Letzte Ausfahrt Stockholm von Ingo Langner beschreibt die Recherche eines hinterbliebenen Freundes: Nico Goldberg ist tot, Adrian Friedhoven war sein bester Freund und zweifelt daran, dass es Selbstmord war. Das Buch hat mir nicht gefallen: Ich habe es nach knapp der Hälfte abgebrochen. Allein die Sprache! Es gibt viele Adjektive, die Wortwahl ist unglücklich (S. 11: "aufgehängt", es heißt gehängt oder noch besser gehenkt.) Das fällt auf, weil der Verlag das Buch ausdrücklich als "literarisch anspruchsvoll" angekündigt hat, und gerade das ist es nicht. Auch ist es schon bei Kleinigkeiten schlampig recherchiert (S. 11: S-Bahnstation "Witzlebenstraße", über den Namen wird herumphilosophiert, aber es gab mal "Witzleben", und die wurde im Jahr 2002 umbenannt in "S-Bahnhof Messe-Nord/ICC"). Berliner Lokalkolorit und Geschichten aus der Journalistenszene sind ganz lustig, es reicht aber nicht. Patria von Fernando Aramburu dagegen ist toll: Bittori kehrt als alte Frau in ihr Dorf zurück. Dort war ihr Mann Txato von Eta-Terroristen erschossen worden. Möglicher Mörder: Der Sohn ihrer bis dahin besten Freundin Miren. Das Dorf ist zerrissen, die Menschen haben Angst und schweigen. Bittoris Rückkehr bringt alles durcheinander. Die Menschen - Täter, Opfer, Mitläufer - erzählen aus ihrer Perspektive. Stoff zum Nachdenken über Freundschaft, Liebe, Schuld und Vergebung. Spaß beim Lesen hatte ich bei Joe Fischler, Der Tote im Schnitzelparadies. Ein Fall für Arno Bussi: Inspektor Bussi wird von Bundeskriminalamt aus dem schönen Wien in ein Tal in der Tiroler Einöde versetzt. Dort muss er gleich einen Mord aufklären, wie kommt ein Kopf in eine Tiefkühltruhe? Vielleicht nicht übermäßig anspruchsvoll, liest sich aber in einem Rutsch mit viel Spaß so weg. Der Autor zieht seine Hauptperson ständig durch den Kakao, aber das wird nie lächerlich: Er kommt rüber als netter Schussel, dem man alles Gute gönnt. Auch die Handlung ist durchdacht. Großartig fand ich von Jocelyne Saucier, Niemals ohne sie. Das Buch spielt in Kanada und fängt mit einem großen Familientreffen an - Eltern, und sie haben 21 Kinder. Das Buch entwickelt sich aus den Erinnerungen mehrerer Familienmitglieder, aus der je eigenen Perspektive. Der Vater hatte eine Zinkmine entdeckt und profitierte nicht vom Gewinn. Die Familie kämpft. Ein Tod, der Alle geprägt hat, wird im Rückblick ganz allmählich aufgeklärt. Ein toller Roman, eigentlich eine Geschichte vom Kampf um Würde gegenüber der Übermacht von Unternehmen und stärkeren Familienmitgliedern, aber auch eine Geschichte von Armut und Stärke, Vernachlässigung und Misshandlung in einer Familie. Bullenbrüder. Tote haben keine Freunde, von Hans Rath und Edgar Rai erzählt von zwei Brüdern: ein Polizist und ein Loser, und sie versuchen, einen Mordfall im Berliner Rotlicht- und Drogenhändlermilieu aufzuklären. Der Loser war mal mit des Polizisten Frau zusammen gewesen und ist jetzt in seinem Gartenhäuschen untergekommen. Wenns drauf ankommt, ist er sehr korrekt (will man das?), sonst erzählt er auch gern mal Lügen. Das Buch ist vielleicht kein großer Wurf, keine Reflexion, nicht einmal nebenher durch die Handlung, aber solides Krimihandwerk und ordentliche Unterhaltung. Sehr gut wiederum von Philip Kerr, Berliner Blau: 1956 soll Bernie Gunther im Auftrag von Erich Mielke eine englische Agentin ermorden. Das will er nicht und flieht, verfolgt vom Stasi-Agenten Friedrich Korsch, mit dem er 1939 einen Mordfall auf dem Obersalzberg gelöst hat. Auch hier zwei Handlungsstränge, spannend verknüpft. Das Buch macht Spaß zu lesen und ist anspruchsvoll, es gibt zu denken, man kann sich über sehr menschliche Nazi-Intrigen amüsieren (darf man das? - ja!), und der Autor (leider 2018 verstorben) hat seine Handlung sehr geschickt in die europäische Geschichte eingebettet. Er kehrt manchmal den Snob heraus, das macht aber nichts, vielleicht ist es auch der Handlung geschuldet. Sehr, sehr guter "historischer" Kriminalroman.
In Basel gibt es viel zu sehen und zu hören: Museen, Konzerte, Theater. Die Stadt ist nicht groß, wer gut zu Fuß ist, gelangt überall hin. Fahrradfahrer dagegen müssen Straßenbahnschienen, Kopfsteinpflaster und Steigungen überwinden. Wer über sein Hotel eine BaselCard erhält, kann die ausgezeichneten Verbindungen des ÖPNV kostenfrei nutzen und erhält zudem 50 Prozent Ermäßigung auf Museen.
Basel hat mehrere Spielzeugmuseen: Das Spielzeug Welten Museum Basel am Barfüsserplatz beherbergt die nach eigenen Angaben größte Sammlung alter Teddybären der Welt, außerdem historische Puppen, Kaufmannsläden, Puppenhäuser, Karussels und zeitgenössische Miniaturen. Das Ganze auf vier Stockwerken. Es gibt viel zu sehen, aber es ist sehr gedrängt, ich hätte gern ein paar mehr Freiraum und Erklärungen gehabt. Dazu gibt es Sonderausstellungen, eine über Hüte, mit atemberaubenden Exemplaren, oder - aktuell - Korsetts, wahrscheinlich auch Atem raubend. Im Spielzeugmuseum Riehen habe ich eine wunderschöne und wohl geordnete Sammlung mit Spielzeug aus den vergangenen 200 Jahren betrachtet. Man findet mechanisches Spielzeug, frühe Spielzeug-Eisenbahnen, handbemalte Zinnfiguren, Blechautos und Holzfuhrwerke, Bau- und Konstruktionskästen, feinste Porzellanpuppen, reich ausgestattete – teilweise mehrstöckige – Puppenstuben, Kaufmannsläden sowie wertvolle alte Plüschtiere. Viele Exponate stammen von wohlhabenden Familien. Andere sind aus der Natur oder selbst gefertigt - die Anfänge des Spielzeugs. Die Museumsleitung denkt schon an die nächsten 200 Jahre und bittet auf ihrer Website: "Verwenden Sie keine Klebestreifen zum Befestigen loser Teile Ihrer Spielsachen! Der Klebstoff schadet den Materialien, mit denen er in Kontakt kommt." Eine aktuelle Ausstellung hat Pippi Langstrumpf zum Thema, die ich liebe, auch wenn man seit der Lektüre der neuesten FAS Bedenken tragen muss, ob sie nicht an Trump und überhaupt allem schuld ist, au weia...
Eine Tram-Station entfernt vom Spielzeugmuseum Riehen findet man die Fondation Beyeler. Ein wunderbares Museum, nicht zu groß, nicht zu klein, luftig, mit schönem Ausblick auf einen Teich mit, tatsächlich, Sumpfdotterblumen am Ufer, der Gärtner hats bestätigt, und vor allem großartiger Kunst. Noch bis zum 26. Mai läuft die Ausstellung "Der junge Picasso" mit Werken aus der sogenannten Blauen und Rosa Periode von 1901 bis 1906. Zum ersten Mal in Europa werden diese großartigen Bilder gemeinsam präsentiert. Sie sind besonders schön und emotional, sie zeigen Lebende, Leidende - das Mahl des Blinden, - und Tote - seinen Freund Casagemas im Sarg. Picasso war schon bekannt, aber noch nicht berühmt, die Bilder sind gegenständlich und berühren das Herz.
Nebenan der Kunst Raum Riehen, in dem noch bis Ende Juni "If I was a rich girl" läuft. Die Künstlerin Clare Kenny, die in Basel wohnt, zeigt ihre Kollektion von Werken anderer Künstler, die sie sich ausgeliehen hat. Was macht Kunst zu Kunst? Was bedeutet es, reich zu sein und Kunst zu besitzen? Die Ausstellung zeigt Kunst und sie führt den Besucher gelegentlich an der Nase herum, mit Vorhängen, die Nasen zeigen oder ähnlichen Skurrilitäten.
Im Kunstmuseum Basel läuft noch bis Anfang August "Kosmus Kubismus. Von Picasso bis Léger". Sie schließt sich kunstgeschichtlich an die Ausstellung in der Fondation Beyeler an und zeigt Kunst aus den Jahren 1907 bis 1917, als junge Künstler in Paris sich von einer Welt im Umbruch inspirieren ließen. Die Ausstellung macht Spaß, weil sie gut geordnet ist und einzele Phänomene wie Primitivismus, den Durchbruch der geschlossenen Form oder zu Collagen und Assemblagen gut erklärt und gezeigt werden.
Zum Historischen Museum Basel gehören die Barfüsserkirche, das Musikmuseum und das Haus zum Kirschgarten. In der Barfüsserkirche sollte man unbedingt den Basler Totentanz besichtigen, genauer die Reste - das Kunstwerk wurde zum großen Teil zerstört. Auch lohnenswert die alten Wandteppiche, die skurrile und spannende Geschichten erzählen, von Waldweiblein, Jagden, Werben von Mann und Frau...
Hotel Strindberg von Simon Stone mit Caroline Peters und Martin Wuttke, eine Koproduktion des Wiener Burgtheaters mit dem Theater Basel, es wurde auch zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen - unbedingt hingehen!!!
Wer Kinder hat (und auch, wer nicht), sollte unbedingt der Basler Papiermühle einen Besuch abstatten, es knattert und kracht und zischt, es riecht und glitscht, man kann Papier schöpfen und malen, ganz wunderbar und vergnüglich. Und man lernt auch Einiges über Papier, Schrift und Druck.
Ebenfalls laut und vergnüglich ist es im Museum Tinguely. Aber nicht nur - manches ist auch bedrückend, erschreckend und traurig. Lustig sind seine bunten Maschinen. Viele kann man zum Laufen bringen, man braucht nur etwas Glück, denn nach jedem Lauf benötign sie eine Ruhepause, damit sie nicht oder nicht so sehr verschließen. Auf einigen kann man herumklettern, was auch Kinder begeistert. Aber im Keller findet sich eine unheimliche Installation, die dem Basler Totentanz nachempfunden ist, dessen Reste man vorher im Historischen Museum betrachtet haben sollte. Der "Mengele-Totentanz", eine Figurengruppe aus 18 Teilen, baute Tinguely im Jahr 1986 aus den Überresten eines abgebrannten Bauernhofes. Daruner war auch eine Mais-Pressmaschine der Firma Mengele, die der Familie des KZ-Arztes Mengele gehörte - daher der Name, der so unheimlich gut passt.
Kopenhagen lohnt auf jeden Fall einen Besuch. Das Essen ist zwar nicht so toll, außer man hat viel Geld zur Verfügung, aber alle Dänen, denen ich begegnet bin, waren sehr freundlich. Eine saubere Stadt, in der ich mich sehr ausgesprochen gefühlt habe. Und man kann viel unternehmen. Die Bedingungen für Radfahrer sind ideal, jeder fährt hier auch Rad, und die Dänen sind rank und schlank. Mir fiel auch auf, wie sozial es hier zugeht: In vielen Museen sinkt der Eintritt, wenn man ein Kind mitbringt, man zahlt für beide zusammen weniger als für eine Einzelperson.
Toll war erst mal die Kunsthal Charlottenborg mit der Charlottenborg Spring Exhibition: die zeigt seit 1857 jedes Jahr neue Arbeiten vor allem dänischer Künstler, in diesem Jahr 78 Stücke von 45 Künstlern. Ich stolperte über das Video von Madeleine Andersson (SE), I need to find myself before the icecaps have melted, 2018. 8:25 min. HD video. Installationsview, Charlottenborg Forårsudstilling 2019. Photo by Søren Rønholt. Ironie oder nicht? Kann man was mögen, von dem man nicht sicher ist, ob es ironisch gemeint ist? Egal, ich hielt es für Ironie, jemand anderes nicht, und uns beiden gefiel es.
Im Statens Museum for Kunst, Dänemarks Nationalgalerie, kann man Europäische Kunst von 1300 bis 1800, Französische Kunst von 1900 bis 1930, Dänische und Nordische Kunst 1750 bis 1900 und Dänische und Internationale Kunst nach 1900 betrachten und bewundern. Im Faltblatt sind die zehn "Highlights" vorgestellt, und die sind auch toll, von "Melanchole" von Lukas Cranach d.Ä. bis zum Kronleuchter von Danh Vo.
Das Krigsmuseet, das Dänische Kriegsmuseum, zeigt eine unglaubliche Sammlung von Kanonen, viel interessanter aber ist die Aufbereitung des Ganzen. So informieren die Dänen über ihre Kriege, die meisten verloren, mit einem spöttischen Humor; aber empathisch über Verletzte und Tote.
Absoluter Höhepunkt der Reise ist das Louisiana. Es ist ein Stück außerhalb der Stadt, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Dort läuft noch bis zum 23. Juni Open My Glade, die erste große Ausstellung mit Werken von Pipilotti Rist in einem skandinavischen Land. Im Video "Color is dangerous" läuft sie fröhlich eine Straße entlang und zerschlägt lauter Autoscheiben (einen besonders schönen Oldtimer verschont sie dankenswerterweise). In einem anderen Video hält sie einen langen, traurig-lustigen Monolog über Liebe und Verlassen-Werden. In wieder einem anderen zeigt sie eine Geburt, mit allen Einzelheiten samt Dammschnitt, nun ja, dies Video ist ein Verhütungsmittel, irgendwie, aber warum eigentlich kann man sich über alles informieren und wundert sich über nichts, und das, was jeden passiv und jeden zweiten aktiv unmittelbar angeht, haut einen um? Großartige Überraschung auch Focus: Feldmann - Hans-Peter Feldman ist ein deutscher Künstler, von dem ich schon Arbeite gesehen habe, den ich aber bloß im Hinterkopf hatte und den ich sicher nicht mehr vergessen werde. Ein langes Interview zeigt einen ganz durchschnittlich aussehenden Mann, der mit viel Humor den Betrachter seiner Werke durcheinanderbringt, etwa indem er ein Paar im Stil Holländischer Meister malt, aber mit roter Clownsnase.
Glück gehabt: Während des Besuches lief Pulsar, ein Festival für Neue Musik. Dabei sollen vor allem junge Komponisten aus Skandinavien untereinander vernetzt werden. Die Komponisten sind großenteils in ihren Zwanzigern, wirklich beindruckend. Nicht nur für Fans des Stils.
Tut mir leid, dass man mich grad nicht in voller Schönheit bewundern kann: Das Foto auf dem Header ist nach oben gerutscht. Die Technik-Kollegen von Strato sagen, es sei ein Bug im Design und versprechen schnellstmögliche Besserung.
Aktualisierung März: Die Technik-Kollegen von Strato haben es gerichtet: Vielen Dank!
Peter Swanson hat mit "Die Gerechte" (2017; 2015: The Kind Worth Killing) einen wahnsinnig spannenden Krimi voller überraschender Wendungen geschrieben. "Alles was Du fürchtest" (2019; 2017: Her Every Fear) ist ein bisschen langatmig, man weiß zwar auch nicht, wie es ausgeht, aber es ist nicht wirklich überraschend. "Die Lebenden und die Toten" (2014) von Nele Neuhaus soll ein Spiegel-Bestseller sein, ich fand ihn aber langweilig. Das Thema ist sehr gut, auch dass es sich erst langsam herausschält, aber ein Drittel weniger hätte dem Buch gut getan. Margaret Millar, "Die Süßholzraspler" (1972; 1957: The Soft Talkers) ist uralt und brillant.
Das Museum Frieder Burda zeigt eine tolle Brücke-Ausstellung. Immer wieder gut. Exponate aus Berlin, von Burda und anderswo her. Auch wer das Berliner Brücke-Museum schon kennt, kann in Baden-Baden Bilder sehen, die er vielleicht noch nicht kannte, denn hier sind auch solche, die in Berlin nicht hängen.
Außerdem kann man das Banksy-Schredder-Bild "Love is in the Bin", naja eigentlich "Girl and Balloon" betrachten. Dafür kann man sogar umsonst rein, es gibt allerdings eine lange Schlange. Die vermeidet man, wenn man die Karte für Brücke kauft, aber wer das nicht will, kann am Kunstbetrieb vorbeigehen. Das Museum bittet stattdessen um eine Spende für ein Hilfsprojekt für junge Flüchtlinge, auf einen ideelen Impuls von Banksy hin, der sich für Flüchtlinge engagiere.
Die art KARLSRUHE hat sich wieder gelohnt. Toll: Dimitriy Zhdankin, "Überraschung II", ein Frauenkopf von halb hinten von Siri Gindesgaard, seltsame Risenvögel von Matthias Garff, von Simon Czapla ein riesiges Krokodilbild, das Viech mit rosa Cowboyhut, -stiefeln und Colt. Nachdenklich machend von Stefan Bircheneder Spinde, deren Inhalte gemalt sind, Arbeitsklamotten, ein pin up-Girl, Kleider... und jeder Spind erzählt eine andere Geschichte. Verrückt von Peter Anton vier große bunte Fische zum An-die-Wand-hängen aus butem Plastik, sie sehen aus wie aus Gummibärchen-Material. "Dran am Fenster" von Raimund Göbner ist eine Holzfigur, die im Fenster lehnt, man weiß gar nicht, von welcher Seite man gucken soll. Zum Lachen von Georg Schulz der Xte Senat, alle in roten Gewändern, aber beim BVerfG gibts doch gar keinen Zehnten Senat??? Die Figuren von Markus Brenner, ein Mann und eine Frau, die hüpfen, lassen sogar Kinder ganz fasziniert gucken. Ich mochte die skurrilen Typen von Hannes Helmke. So viel tolle Kunst!
Sokolov liebt keine Studio-Aufnahmen, darum hat naive schon im Jahr 2011 Mitschnitte von Life-Konzerten zusammengestellt und in einem Schuber herausgebracht. Es sind zehn CDs, je zwei mit Bach, Beethoven, Schubert und Chopin, eine mit Brahms und eine mit Prokofiev, Skriabine und Rachmaninov. Geordnet sind sie nach Aufführungsorten: Bach in St. Petersburg, eine von Beethoven in St. Petersburg und eine in Verona, Schubert in Helsinki, Chopin in Paris und St. Petersburg, Brahms in Paris, und Scriabin, Prokofiev und Rachmaninov auch in St. Petersburg. Das Pariser Publikum hustet ein bisschen, beim Booklet zu Schubert sieht man die Tesafilmstreifen auf den Kopien, die Klangqualität ist nicht so toll. Lohnt sich aber, wenn man darüber hinweghört, zum Beispiel wenn man die Musik nicht nur passiv genießen, sondern kennenlernen oder mit Einspielungen anderer Pianisten vergleichen will. Vor allem die Brahms-Balladen sind toll.
Der heilige Eddy von Jakob Arjouni und Der König von Berlin von Horst Evers sind ulkige Krimis, die in Berlin spielen. Liest man in zwei, drei Stunden. Eddy ist eigentlich ein nicht ganz aber doch einigermaßen Lieber und gerät in einen fürchterlichen Schlamassel. An dem er aber auch selber Schuld ist, ein bisschen jedenfalls. Der kleine Bruder von Sven Regener spielt auch in Berlin und ist die Vorgeschichte vom berühmten Herrn Lehmann. Der kleine Bruder sucht in Berlin seinen großen Bruder. Später arbeitet er in einer Kneipe. Darüber, dass auch ein sozial nicht sehr hoch angesiedelter Job das Richtige sein kann, darüber hat Sven Regener einiges Intelligentes gesagt, ich glaube, es war in der FAZ.
Mitte Oktober 2018 bis Anfang Januar 2019 lief eine Sonderausstellung zu Gustav Klimt im Kunstmuseum Moritzburg. Hat sich gelohnt, der Besuch, mehr als 60 Zeichnungen und zehn Gemälde des Künstlers. Die meisten Werke befinden sich heute in Wien und New York, sie sind fragil. Dass man es geschafft hat, sie zusammenzutragen, ist eine Sensation, darauf ist man im Museum zurecht stolz. Den Audioguide und die Ausstellung hätte man noch etwas besser aufeinander abstimmen können, ein paar kleine Ungenauigkeiten haben sich eingeschlichen, die "Irrlichter" entstanden laut Text am Bild im Jahr 1903, laut Audioguide "um 1902". Die Kompositionsentwürfe dazu haben die Nummer 11, das Bild die Nummer 9 - andersherum wäre die Nummerierung logischer gewesen. Einige Zeichnungen, etwa die "Stehende Schwangere", kann man nur ahnen, es ist einfach zu dunkel im Raum. Schade, dass es zum Fakultätsbild Philosophie keine Zeichnung gibt, wenigstens ein Foto von Bild oder einem Entwurf wäre schön gewesen. Ich hatte von Klimt nur die prachtvollen Bilder im Kopf, seine Zeichnungen waren mir neu. Einige Aktzeichnungen erinnern an die Egon Schieles. Wunderbare Ausstellung, die Fahrt hat sich wirklich gelohnt!
Übrigens, wenn man im Museum oben aus dem Fenster guckt, sieht man Brandmauern, einen Weg, eine Brache, eine Reihe Autos - und wenn man genau hinguckt, entdeckt man an der Fensterscheibe den Abdruck eines Vogels. Eine Taube ist gegen die Scheibe geflogen und hat ihren Staub auf der Scheibe hinterlassen, man kann genau Körper, Flügel, sogar Schnabel und Auge erkennen. Hoffentlich hat sie es überlebt, die Arme!
Eigentlich weiß ich es schon seit Jahrzehnten. Aber gelegentlich wird es mir besonders bewusst: Ich bin erwachsen. Ich merke es daran, dass ich mich nicht über Weiße Weihnachten freue, sondern über Weihnachten ohne Einkaufs- oder Verkehrschaos. Oder daran, wie ich Äpfel esse: Ich beiße nicht mehr rein, sondern viertele und entkerne sie, und dann verzehre ich die Viertel nacheinander. Sehr manierlich.
Florenz und seine Maler in der Alten Pinakothek, man kann ungefähr 120 wahre Meisterwerke sehen. Am Anfang der Ausstellung erläutern große Bild- und Texttafeln die bahnbrechenden künstlerischen Erfindungen und die Wechselwirkungen zwischen den Neuerungen der Techniken und denen der Stile. Die Kunstwerke - keinesfalls nur Gemälde, sondern auch Zeichnungen und Skulpturen - zeigen immer wieder religiöse Themen, aber auch profane Portraits. Was hatten die Künstler für Ideen, wie arbeiteten sie? Die Ausstellung läuft noch bis zum 27. Januar. Auch die Dauerausstellung ist toll, viel Dürer, den ich sehr mag. Sonntagseintritt in den Pinakotheken ein Euro, das ist sozial, ich liebe die Bayern!
Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt noch bis zum 13. Januar Inky Bytes, Tuschespuren im Digitalzeitalter, und bis zum 17. März 68. Pop und Protest.
In den Inky Bytes arbeiten Künstler und Künstlergruppen aus Hamburg und China analog und digital und postitionieren sich, so der Text zur Ausstellung, gegenüber chinesischen Tuschetraditionen wie Tuschemalerei, Buchdruck und Steinabrieb. In einem Raum kann man eine VR-Brille aufsetzen und 360 Grad herumschauen und dabei zusehen, wie die Künstler in Hamburg in der Nähe der Uni im Freien arbeiten.
68. Pop und Protest erinnert an die Erschütterungen und Dramen, die nationalen Proteste und revolutionären Ideen, die dadurch entstanden, ermöglicht und unterstützt wurden. Eine weltweite kulturelle Revolution sei in Gang gesetzt worden. - Wirklich weltweit? Aber wir profitieren heutzutage von den Kämpfen von damals, über die Fortschritte in Fragen der Menschenrechte etwa bin ich glücklich, auch wenn, man braucht es nicht zu betontn, viel zu tun bleibt.
In der Kunsthalle habe ich die "Ruine Oybin" von Caspar David Friedrich betrachtet, Vorgänger seines politischsten Bildes, "Huttens Grab". Hatte die FAZ so toll beschrieben (15.08.2018, S. 11).
Und ich habe Bilder Hamburger Künstler angeguckt, die Kunsthalle hat einen Saal eingerichtet, in der Kunst in Hamburg aus den verschiedenen Sammlungsbereichen versammelt wird. Ungefähr einmal im Jahr werden neue Bilder reingehängt, aktuell "Klassische Moderne" mit einer Präsentation zum Hamburgischen Künstlerclub von 1897, mit Julius von Ehren, Ernst Eitner, Arthur Illies und Anderen. Klasse!
Und, auch ganz überraschend, damit hätte ich nicht gerechnet: Die Kunsthalle zeigt Lieblingsbilder der Hinz&Kunzt-Verkäufer_innen. (Hier schreibe ich "_innen", denn die Ausstellung heißt so. Ansonsten verwende ich das Generische Maskulinum: Damit sind Männer UND Frauen gemeint.) Die Kunsthalle gratuliert, vor 25 Jahren erschien nämlich die erste Hinz&Kunzt in Hamburg. Zum Jubiläum lud Kunsthallen-Direktor Christoph Martin Vogtherr sechs Hinz&Kunzt-Verkäufer zu einem Rundgang in die Kunsthalle ein, sie erwählten ihre Lieblingsbilder, und man kann in der Ausstellung lesen, was sie dazu zu sagen haben. Super Idee.
George Grosz in Berlin und, Kontrastprogramm, Simply Danish im Bröhan-Museum. Simply Danish zeigt noch bis zum 3. März Silberschmuck des 20. Jahrhunderts von dänischen Künstlern. Für meinen Geschmack zu glänzend, aber zum Angucken im Museum interessant. Man sieht die Sammlung des Berliner Ehepaares Marion und Jörg Schwandt mit ungefähr 170 Schmuckstücken von 48 Künstlern, seit dem Jugendstil. George Grosz sehe ich seit der Ausstellung mit anderen Augen, unter den mehr als 200 versammelten Werken sind viele, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind, und die Texte zu den Bildern sind wirklich gut. Er hat in der Weimarer Republik provoziert, wurde dreimal angeklagt, und provoziert noch heute. Schnell hin, läuft nur noch bis zum 6. Januar!
Die Schönheit der grossen Stadt im Museum Ephraim-Palais (gehört zur Stiftung Stadtmuseum), zeigte, wie Künstler vom 19. Jahrhundert bis (fast) heute die städtischen und gesellschaftlichen Strukturen Berlins sahen. Die Bilder hingen von Februar bis Ende Oktober, und ich habe es an einem der letzten Tagen noch hingeschafft, zum Glück, es war ein Erlebnis! Lyonel Feiniger malte 1912 einen Gasometer in Schöneberg, hellgrauen Rauch vor schmutziggoldenem Gebäude, Max Beckmann machte 1911 den Nollendorfplatz fast menschenleer, und Rainer Fetting ließ 1993/94 den Potsdamer Platz mit roten Kränen hinter dem großen dunkelgrünen Tiergarten fast verschwinden. In dieser Ausstellung hätte ich stundenlang herumstromern und gucken können.
Viel auf einmal: In ganz Berlin die Berlin Art Week, und am ehemaligen Flughafen Tempelhof in den Hangars 5 und 6 die art berlin, und im Hangar 4 die positions. Art berlin und positions dauerten nur das letzte Septemberwochenende. Ausstellungen der Berlin Art Week dagegen laufen weiter, etwa im Gropiusbau, und da bin ich erst in Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland gestolpert und dann in Bestandsaufnahme Gurlitt.
In den Bewegten Zeiten werden verschiedene Exponate aus allen Bundesländern unter den vier Themen Mobilität, Konflikt, Austausch und Innovation ausgestellt und sollen auf persönlicher, wirtschaftlicher und religiöser Ebene die Folgen überregionaler Interaktion erzählen. Das klappt mehr oder weniger gut, ein bisschen erratisch vielleicht, aber im letzten Raum haben die Ausstellungsmacher es geschafft, einige der bedeutsamsten Funde überhaupt zusammenzuführen: drei der vier Goldhüte, die Venus von Hohle Fels und die Himmelsscheibe von Nebra. Da stockte mir der Atem, so grandios war es. [Nachtrag, Dezember 2018: Die Himmelsscheibe wurde inzwischen durch ein Duplikat ersetzt.]
In der Bestandsaufnahme Gurlitt werden tolle Exponate gezeigt, aber ich hätte mir gelegentlich eine genauere Erläuterung gewünscht: Warum wurden von über 1500 Exponaten bisher nur 4 an die Nachfahren der rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben? Und wenn Nazis Kunst als entartet bezeichneten und aus Museen raubten, pardon, beschlagnahmten, sollen diese Werke dann diesen Museen zurückgegeben werden? Oder sind auch sie in Bern? Warum? Ich wüsste gern Näheres. [Nachtrag, Dezember 2018: Eine entsprechende Presseanfrage an die Bundeskunsthalle wurde nicht beantwortet. Schade.]
Die positions sind schön übersichtlich, man kriegt keine Plattfüße, und am besten gefiel mir eine ganz skurrile Figur: ein Fisch auf zwei Beinen von Albrecht Genin.
Ach, auch toll... Liest man weg wie nix.
Wer liest freiwillig 1200 oder 1300 Seiten? Man sollte sich aber wirklich dranwagen, ich kann die georgische Familiensaga nur empfehlen, das Buch hat mich gefangen genommen. Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, um reizukommen, hilfreich ist der Stammbaum der Familie in der hinteren Umschlagseite. Nino Haratischwili kommt aus Georgien, nebenher habe ich bei der Lektüre einiges über dieses besondere Land gelernt, aber eher aus Versehen, zum Glück, denn ich mag Romane, die Unterricht in Geschichte oder Geographie geben, ebensowenig wie lehrreiche Spiele. Dies Buch aber hat mich begeistert und immer wieder überrascht, ich mochte jede Person auf eine andere Art und Weise, und ich würde ehrlich gesagt gern wissen, was mal aus dem Mädchen Brilka wird - ein neuer Roman, hoffe ich. Erst mal habe ich mir von derselben Autorin Die Katze und der General gekauft, gebunden leider 30 Euro, aber was soll man machen.
Noch bis zum 16. September läuft in der Kunsthalle Emden die Ausstellung mit Werken von Stephan Balkenhol. Am besten gefiel mir die Giraffe auf dem Schnittmusterbogen. Als ich gehen wollte, regnete es, und ich habe auch noch den Film über den Künstler angeschaut: Unprätentiös und gut! Lustig, dass die documenta eine Skulptur nicht mochte, die der Künstler in einem Kirchturm ausgestellt und dann der Kirche geschenkt hat. Das Café lohnt auch einen Besuch.
Parallel läuft die diesjährige Sommerausstellungen mit Meisterwerken aus der Sammlung, diesmal zum Thema "Auferstehungen". Im November diesen Jahres ist das Ende des Ersten Weltkriegs 100 Jahre her. Was machte der Krieg mit Künstlern wie Dix, Grosz, Heckel, Pechstein? Einige hatten den Krieg herbei gesehnt, erwarteten eine Reinigung, dass eine Verweichlichung aufhörte. Wieso kann ich so absurde Vorstellungen verstehen? Zum Glück lebe ich in einer Demokratie, die Schwache schützt. Und die Künstler? - Sie bekamen Traumata, Krankheiten, Verletzungen, neue Utopien, den Tod...
Kunsthalle Bremen: Bis zum 26. August lief die Ausstellung "Tulpen, Tabak, Heringsfang" mit Niederländischer Malerei des Goldenen Zeitalters. Der Bremer Kaufmann Carl Schünemann hatte seine Sammlung niederländischer Gemälde der Kunsthalle Bremen geschenkt, jetzt wurden die 32 Ölgemälde zum ersten Mal ausgestellt. Endlich, und man kann hoffen, dass sie einen Stammplatz bekommen! Eine Frau in einem weißen Seidenkleid, man sieht förmlich, wie es knistert. Ein Blumenkorb, darin auch gestreifte Tulpen, Spekulationsobjekt für Verrückte.
Kaum hat man sich gesetzt, kommen sie angeschwirrt, die Wespen. Echt nervig. Neulich habe ich eine dabei beobachtet, wie sie sich ein Riesenstück Schinken vom Schinkenbrot absäbelte. Ich wollte das natürlich nicht beobachten, aber ich musste, denn jedesmal, wenn ich die Wespe wegwedelte, kam sie bald darauf zurück und suchte die angesäbelte Stelle am Schinken, und während sie suchte, summte sie an meinem Ohr herum und flitzte vor meinen Augen hin und her. Irgendwann wedelte ich nicht mehr und guckte nur noch. Wenn sie irgendwo sitzt und arbeitet, dann weiß ich wenigstens, worauf ich aufpassen muss. Das ist doch zwei Quadratmillimeter Schinken wert, oder? Ist ja auch interessant. Oder? Ob die Wespe wohl wusste, dass sie beobachtet wird? War es ihr egal? Hat sie eigentlich auch mich beobachtet?
Dämmer und Aufruhr nennt Kirchhoff seinen Roman der frühen Jahre, eine dichterische Autobiographie sozusagen. Bewunderswert, wie er darüber schreibt, wie ein Lehrer im Internat ihn, ja, verführt. Kirchhoff fängt die sinnliche Spannung ein: Es ist klar, dass der Junge missbraucht wird, aber das Buch versenkt ihn nicht in einer Opferhaltung: Der Lehrer sah aus wie Winnetou. Gehört zum Besten, was ich zu solchen Themen gelesen habe.
Eigentlich aber handelt das Buch von seiner Mutter. Kirchhoff schreibt, inzwischen etwa 70 Jahre alt, über Besuche bei seiner alten Mutter, er beschreibt seine Recherche für das Buch - Urlaub in einem Hotel, in dem auch seine Eltern Urlaub gemacht hatten - und er beschreibt, dies einigermaßen chronologisch, seine eigene Kindheit und Jugend bis zum Buchvertrag - wie auch andere, die im Schreiben groß wurden, etwa Deborah Feldman in Unorthodox.
Hello World ist ein ulkiger Titel für eine Ausstellung, es ist wohl eine politische Botschaft: Die Sammlung des Museums Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart in Berlin, der Nationalgalerie, ist vorwiegend westlich orientiert, und wie sähe sie aus, wenn ein weltoffeneres Verständnis ihren Kunstbegriff und ihre Entstehung geprägt hätte?, diese Frage versuchen 13 interne und externe Kuratoren zu beantworten. Das Ganze ist etwas erratisch, aber voll interessanter Einzelheiten. Schräge die alte Band Laibach, die im Jahr 1984 Gründungsmitglied des interdisziplinären Kunstkollektivs Neue Slowenische Kunst wurde, und bei der ich nie so richtig weiß, wie ernst sie das faschistoide Auftreten eigentlich meint. Die Ausstellung läuft von Ende April bis Ende August 2018.
Kubus, Kunstmuseum Stuttgart, tolle Ausstellung noch bis zum 26. August 2018. Augmented und virtual reality in der Kunst, gleich beim Reinkommen ein ulkiger Reiter, eine Skulptur auf einem Sockel, aber sein Schatten sieht anders aus als er selbst, in einigen verwirrenden Details: Hat er Sporen oder nicht? Zügel oder nicht? Und was für eine Waffe ist das denn nun? An den Wänden große rot-grüne Bilder, die dreidimensional werden, wenn man eine der ausliegenden Brillen aufsetzt. Aber am Tollsten sind die Räume, in denen man eine VR-Brille aufsetzt und einen Controller in die Hand nimmt: Plötzlich meint man in einer ganz anderen Umgebung zu stehen, und man kann sein eigenes virtuelles Ich hierhin und dahin beamen. Man steht in einem unwirtlichen Gebäude voll Wasserlachen und Becken und Stufen, oder in einer Wüste, aus der wie Kakteen Arme wachsen, bei einem Klick wächst ein neuer Arm, drückt man länger, wächst er schier ins Unermessliche. Gerade richtig für einen unerträglichen heißen Nachmittag.
Das medizinhistorische Museum der Charité in Berlin zeigt von Ende April bis Mitte November 2018 die Sonderausstellung "Scheintot – Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden". Um 1800 herum begannen manche Ärzte und Naturwissenschaftler, an der Sicherheit und Feststellbarkeit des Todes zu zweifeln. Sie schlugen allerhand Methoden vor, um Sicherheit zu gewinnen: Ein Glöckchen im Sarg installieren. Oder mit der Beerdigung warten, bis der Tote fault. Diese Ausstellung ist genau richtig, wenn man an einem unerträglichen heißen Nachmittag Schwindel fühlen will...
Johannistag, Sommersonnenwende, Sommeranfang: Alles jetzt im Juni. Und pünktlich schwärmen Glühwürmchen aus, Kleine Leuchtkäfer, verwirren den Geist und entzücken die Seele, hoppla, bin ich Trichtomist, das wäre ja peinlich, nein, lieber nicht... Also, Glühwürmchen, wer jetzt ein bisschen Glück hat, kann sie in warmen Nächten entdecken und verzückt die kleinen weißlich leuchtenden Punkte betrachten, die durch das Dunkel schweben. Wer dagegen Pech hat, denkt nur, der Punkt sei ein Glühwürmchen, aber in Wahrheit sieht er die glimmenden Zigarette eines Mörders, der im Schutze der Dunkelheit aufs nächste Opfer lauert... Dieser Gedanke wäre womöglich der letzte Gedanke des Irrlicht-Suchers. Ach nein, das wird mir alles mir zu unheimlich. Ich breche lieber ab.
Tolles Buch: Altes Land von Dörte Hansen, ich habe es begeistert gelesen und schon zweimal weiterverschenkt.
Juhu, Kunst für umsonst: Die Staatsgalerie Stuttgart wird 175 Jahre alt. Ein stolzes Alter: Die kleine Hexe kommt auf grad mal 127 Jahre. Die kleine Hexe hext. Die Staatsgalerie feiert und lädt uns ein: Eintritt frei für die Ausstellung "#meinMuseum - 175 Jahre Staatsgalerie", also für fast alles. Das Angebot gilt vom 1. Mai bis zum 28. August 2018. Nix wie hin!
Orangen sind nicht die einzige Frucht erschien im Jahr 1985, und Warum glücklich, statt einfach nur normal? im Jahr 2011. Beide Bücher haben einen autobiografischen Anteil, das ältere weniger, das neuere mehr. Die Autorin erzählt, wie sie als adoptiertes Mädchen in einer christlichen, man könnte auch sagen fundamentalistischen Familie mit einer aggressiven Mutter aufwuchs. Beim ersten Buch war die Autorin 25, beim zweiten 52 Jahre alt. Die erste Fassung der Geschichte ihres Lebens, so möchte ich es nennen, war die Geschichte, die sie ertragen konnte, die zweite Fassung die Geschichte, die sie mit ihrer Lebenserfahrung reflektiert. Ich glaube, jeder Mensch, der in so einer Familie aufwuchs, erkennt nur zu viel wieder: Warnungen vor dem männlichen Geschlecht, aber ohne Erklärungen; die allzeit dräuende Apokalypse, die Angst vor dem Glück. Und ich wünsche jedem den Mut zum Wunsch, einfach nur weg zu gehen. Und dann, wenn es nötig ist, die Kraft und das Durchhaltevermögen. Winterson ging. Nach Jahren kehrte sie einmal zurück und fand sich in einer Art Club wieder: Geschminkt, beachtet. Und ihr wurde klar: Selbst wenn sie in der Gemeinde geblieben wäre: Auch dann hätte sie eines Tages geschminkt und beachtet in dieser Bar gestanden. Sie war nicht der Mensch für ein verhuschtes Leben.
Zu Weihnachten nistete sich eine Mäusefamilie ein und baute sich ein Nest unter dem Dach. Sie nagte das Marzipan an und wurde vertrieben. Zu Ostern kam ein Eichhörnchen. Es war allein und tanzte auf dem Fernseher.
Warum das alles?
Staatsgalerie Stuttgart: Am letzten Tag noch den Meister von Messkirch bewundert, fast angebetet. Ein wunderschöner Tag - wer ist so verrückt und geht bei strahlendem Sonnenschein ins Museum; außerdem war Ostermontag, die Staatsgalerie ist montags eigentlich geschlossen, und die Feiertagsöffnungszeiten muss man sich umständlich herunterladen. – Und so war es nicht zu voll. Die Ausstellung war großartig. Wer dieser Meister von Messkirch eigentlich war, weiß man gar nicht. Aber er hat die katholische Kirche gegen die Reformation unterstützt, darum begann die Ausstellung auch im Reformationsjahr 2017. Der Meister hinterließ viele Tafelbilder und Zeichnungen, die inzwischen in Museen und Privatsammlungen Europas und der USA zerstreut sind. Die Ausstellung zeigte Bilder des Meisters neben solchen protestantischer Zeitgenossen: Wer durfte malen, wer nicht? Was wurde im Katholizismus gestattet, was im Protestantismus? Und kann man überhaupt nach katholischer und protestantischer Lehre unterscheiden?
Der Besuch hat sich gelohnt. Nachmittags wird es sehr voll, man sollte möglichst früh hin. Ich mochte die begehbare Teekanne von Joana Vasconcelos - die hat auch einen Preis bekommen, den Loth Skulpturenpreis der diesjährigen art KARLSRUHE - das Bild von den zwei Jungen, einer mit Wolfskopf, der andere mit Krokodilkopf, von Sarah Mcrae Morton, die zarten und hintergründigen Wachsbilder der Frauen, die Raketen, die Autos zerschmettern (oder die Autos, die von Raketen zerschmettert werden?), ach, so viel Tolles, Interessantes, Nachdenklichmachendes!
Der zweite Teil der Trilogie um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron. (Für den ersten Teil "Endgültig" siehe unten.) Ach, so eine tolle Heldin, die einfach alles kann! Außer sehen. Und die sich dabei auch noch seelisch weiterentwickelt. Ich schmelze dahin. Was für ein Vorbild…
Pflüger las bei den Stuttgarter Kriminächten, und dort bekam er auch den Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman des Jahres, dotiert mit 3.000 € (gestiftet von der HypoVereinsbank), Glückwunsch! Die Kriminächte waren auch dies Jahr wieder richtig toll. Alle Besucher haben überlebt, zumindest wüsste ich nichts Gegenteiliges zu berichten. Das Futter für die Leseratten reicht hoffentlich eine Weile. Und wir freuen uns auf nächste Jahr!
Noch bis zum 8. April läuft im Kunstmuseum Stuttgart, dem Kubus, diese spannende Ausstellung. Angus war ein schwuler Künstler, einer der ersten, die schwules Leben, die New Yorker Szene der 1980er Jahre darstellten. Viele Bilder sind melancholisch, einige intim, manche wie ein Schlag ins Gesicht. Ein schwuler Pfarrer im Arbeitszimmer, er ist Vater eines Sohnes - hatte er sein Coming-Out erst später? Junge Männer entblößen sich auf einer Bühne, ältere Männer schauen zu, einige aus dem Halbschatten. Verwirrend: Warum tragen so viele Männer weiße Socken???
Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim; nichts ist spannender als Technik, schreiben die Macher auf dem Faltblatt, und wirklich, es ist oberspannend. Und macht Spaß. In diesem Museum kann man gucken, lesen, machen und tun. Zum Beispiel Reaktionen probieren. Sich vor eine Scheibe mit Lampen stellen, die nach einem Zufallsprinzip aufleuchten. Man muss so schnell wie möglich draufhauen - wer schafft am meisten in der Zeit? Phänomene aus der Tier- und Pflanzenwelt werden erklärt und man sieht, wie Techniker und Ingenieure davon lernen, von der Beschaffenheit der Haut eines Haifisches etwa. Ideal für Kinder, die werden ihren Spaß haben.
Ein paar Bücher über Journalismus und Schreiben, vor Jahren gekauft, jetzt sind sie mir wieder in die Hände gefallen. Sie begeistern mich nach wie vor: The New New Journalism: Conversations with America's Best Nonfiction Writers von Their Craft von Robert S. Boynton. Literary Journalism: A New Collection of the Best American Nonfiction von Norman Sims und Mark Kramer. Telling True Stories: A Nonfiction Writers' Guide from the Nieman Foundation at Harvard University von Mark Kramer und Wendy Call. The Art of the Personal Essay: An Anthology from the Classical Era to the Present von Phillip Lopate.
Noch bis zum 4. Februar 2018 zeigt die Kunsthalle eine Retrospektive von Anita Rée. Viele unbekannte Werke sind dabei: Ich kannte ihre etwas schwermütigen Frauenbildnisse, aber bestimmt nicht die Fabelwesen - schräge Tiere! Eine Mischung aus Pferden und Windhunden, und mit Tupfen. Und dass diese Frau, die sich mit nicht einmal 50 Jahren das Leben genommen hat, einen Schrank mit umherturnenden Affen bemalt hat, überrascht mich auch. Rée war eine der ersten erfolgreichen Künstlerinnen, zwischen 1904 und 1910 nahm sie Malunterricht bei dem Hamburger Impressionisten Arthur Siebelist, und zwar in Hittfeld - dieser Ort verfolgt mich - danach arbeitete sie in Paris, Süditalien und dann wieder in Hamburg. Die Kunsthalle zeigt ungefähr 200 Werke in thematisch gegliederten Räumen: Die Fabelwesen findet man in "Ferne Paradiese"; im Raum "Herrenporträts und Frauenbilder" (ist dieser Titel etwa unfeministisch?) weisen die Bildnisse in die Neue Sachlichkeit; "Letzte Werke" sind auf Sylt entstanden, wo Rée Aquarelle der kargen Küstenlandschaft mit ein paar einsamen Schafen gemalt hat, aber auch Portraits ihrer guten Freundin, die vor Lachen geradezu zu explodieren scheint. Tolle Ausstellung, unbedingt sehen!
Wer keine Kunst mag und sich trotzdem (warum nur?) in der Kunsthalle wiederfindet, dem sei ein Besuch bei der Tropfsteinmaschine empfohlen. Allen anderen auch.
... oder zumindest Revolutionäres: Das Mädchen Wadjda will den Koran Rezitations-Wettbewerb ihrer Schule gewinnen und mit dem Preisgeld ein grünes Fahrrad kaufen. Dumm nur, dass dies für eine Zehnjährige in Saudi-Arbien nicht so einfach ist. Außerdem lebt sie in einem bigotten Umfeld: Ihr Vater verlässt ihre Mutter, ihre Lehrerin lebt auch nicht gerade fromm, tut aber so, als ob. Wadjda gewinnt den Wettbewerb - weil sie von ihrer Mutter lernt, dass die Rezitation des Korans von Herzen kommen muss. Mustang erzählt die Geschichte von fünf Waisenmädchen, die bei ihrer Großmutter und einem bösen Onkel in einem einsamen türkischen Dorf aufwachsen. Eine verbitterte Nachbarin verbreitet Gerüchte über sie, die Großmutter gerät in Panik und will sie zwangsverheiraten. Es gelingt ihr nicht bei allen - und die einzige Ehe, die glücklich zu werden verspricht, ist die der ältesten Schwester: Sie setzt durch, dass sie den Mann heiraten darf, den sie liebt, mit dem sie schon schläft - und nur im Zusammenhang mit dieser Ehe wird der Name Allahs ausgesprochen, als nämlich die Eltern des geliebten Mannes bei der Großmutter um des Mädchens Hand für ihren Sohn anhalten. Kinshasa Symphony dokumentiert ein klassisches Orchester im Kongo, es gehört zur Kimbanguistenkirche oder steht ihr zunmindest nahe. Der Chef baut mit schier unendlichem Engagement ein Orchester im Kongo auf, zersägt etwa sein eigenes Cello, um nach diesem Muster neue Celli zu bauen. Es gelingt ein wunderbares Konzert. Immer wieder Filme, in denen Religion den Gläubigen Kraft gibt. Und manchmal ganz besonders denen, die ausgetretene Wege verlassen.
Dies Buch hatte ich mit Spannung erwartet, vielleicht zu viel. Ein gutes Buch, ich habe es recht gern gelesen, aber im Vergleich zu den beiden ersten finde ich es doch etwas langweilig: Nino farblos, Elena und Lila oberflächlich. Was in der Politik passiert, hätte mich mehr interessiert als die Fülle von Elenas Gedanken; ihre Selbstzweifel haben mich nicht mehr überzeugt. Aber ihr Durchhaltevermögen, immer wieder mit dem Schreiben neu anzufangen, das hat mir imponiert.
Spannende Sonderausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer: Richard Löwenherz: König - Ritter - Gefangener. Handschriften, Waffen, Kunst, Reliquiare - eigentlich eher wenig Exponate, wenn man es genau betrachtet. Aber viel Multimedia und sehr informativ. Das Museum ist voll, viele Besucher sind da, auch viele Kinder.
Immer so ein unfertiges Gefühl, wenn ich ein Buch liegen lasse. Aber manchmal mag ich einfach nicht weiter lesen. Die letzten Bücher, die dieses Schicksal ereilt hat, waren Opfer von Cathi Unsworth, Eine Hochzeit im Dezember von Anita Shreve und Schattenboxer von Horst Eckert. Toll war dagegen Tender Bar von J. R. Moehringer. Ein Junge, dessen Vater fast nie auftaucht - "vaterlos" gibt es, warum nicht "vaterarm"? - geht schon als Kind regelmäßig in eine Bar, dort hat er Männer als Gegenüber. Er wächst. Als Erwachsener wird er Journalist und Schriftsteller. Und obwohl er in Yale studierte und mit einer extrem klugen und attraktiven Frau zusammen war - wirklich erwachsen ist er erst dann, als er ein Buch über die Bar schreiben kann. Das Buch ist so liebevoll wie die Männer in der Bar, und das ist nicht ironisch gemeint. Auch toll war Envoyée Spéciale von Jean Echenoz. Ein subtil durchgeknallter Agentenroman über eine Frau, die ständig neben sich zu stehen scheint, und die völlig überraschend von einem abgehalfterten Geheimdienstmann gleichsam eingefangen wird, um, tja, um einen Spezialauftrag zu erfüllen. Zum Schreien komisch!
Das Paracelsusbad in Reinickendorf ist klein, nett, altmodisch. Was macht da eine Fledermaus? Keine Ahnung. Sie krabbelt in der Damendusche über die Fliesen, stracks auf mich zu. Hält sie mich für einen Baum? Zwei Bademeister kommen mit Handtüchern herbei, ganz vorsichtig retten sie das Tier. Besser nicht anfasssen, Fledermäuse können Tollwut übertragen. Bei Füchsen und so ist sie ausgerottet, aber die Flattertiere kann man nicht kontrollieren. War trotzdem ein netter Besuch.
Sommer. Vogelküken werden flügge. Theater bei den Hausrotschwänzen, Spatzen, Turmfalken, Drosseln. Alle sind aufgeregt, denn Fliegen lernen ist nicht einfach. Neulich fliegt eine kleine Amsel auf mein Fensterbrett, sie hat noch ein paar helle Flaumfedern am Kopf und ihr Schwanz ist auch noch nicht so lang wie bei einer erwachsenen Amsel. Nun sitzt sie da draußen und guckt und tschilpt. Ich sitze drinnen und gucke und tschilpe zurück. Plötzlich wendet sie ihren Blick ab, was ist da? Die Mama! Mit einem Käfer im Schnabel. Misstrauisch äugt die Alte durchs Fenster hinein. Die Kleine sperrt ihren Schnabel auf, die Große stopft den Käfer rein. Lecker! Aber nicht genug. Die Mama fliegt wieder weg, die Kleine tschilpt weiter. So eine Nervensäge. Aber was soll man machen. Wieder und wieder kommt die Mama herbeigeflogen und stopft dem verflogenen Nachwuchs den Schnabel. Und der breitet, ohne Vorwarnung, plötzlich die Flügel aus und flattert auf den nächsten Baum.
Jessica ist Schmuckdesignerin, glücklich verheiratet. Plötzlich begegnet ihr die aufregende Libby. Jessica wirft sich in diese Freundschaft, und plötzlich passt in ihrem Leben nichts mehr richtig. Dann entdeckt sie auch noch eine alte Postkarte und wird in ihre Vergangenheit zurück gerissen: Was wurde aus ihrer ersten Liebe? Und was stimmt mit Libby nicht? Ich habe den Roman von Lezanne Clannachan verschlungen. Man merkt zwar manchmal, finde ich, dass es ein Erstling ist, gelegentlich sind die Figuren mit ihren Handlungen nicht ganz überzeugend. Trotzdem bleibt es immer spannend. Ich las die 422 Seiten auf Englisch in Nullkommanichts! Ich bin gespannt auf Clannachans nächstes Buch. Nur: War wirklich der Geständige der Mörder? Ich hatte, vor allem am Schluss, jemand anderen in Verdacht. Hm.
Zwei Freundinnen. Erst Kinder, dann Jugendliche, schließlich Erwachsene. Eine Beziehung voll Verständnis und Unterstützung einerseits, Rivalität andererseits. Freundschaft ist ein Thema, das mich in vielen Büchern interessiert. Wenn ich ein Buch lese, kommt es vor, dass ich es unter diesem Aspekt lese, auch wenn es gar nicht das eigentliche Thema ist, wie zum Beispiel bei Harry Potter. Aber, man sollte es nicht glauben, aber ganz offensichtlich ist diese von Ferrantes erdichtete Freundschaft zwischen zwei Mädchen ein Thema, welches die ganze lesende Welt fesselt. Zwei Themen, für die man doch keine weltweite Begeisterung erwarten würde! Freundschaft! Mädchen! Und das geschieht nicht zum ersten Mal: Hatte nicht Stephen King über Carrie gesagt, ach, wen interessierten schon die Menstruationsprobleme eines jungen Mädchens?, und dann wurde es doch ein Bestseller. Vive la femme!
April bis Juli 2017, die Cranach-Ausstellung in Düsseldorf "Meister - Marke - Moderne" war toll. Super. Aber wie war das mit dem Lapuslazuli? Laut dem Dokumentarfilm hat der Künstler in Antwerpen einige Gramm gekauft, laut Texttafel hat er nach einer Reise dahin damit gemalt, was nahelege, dass er dort gekauft hat. Jau, wie sicher isses denn nun? Aber egal, das ist eine Nebensächlichkeit. Und die Texte lohnen sich auch, wer weiß schon, dass Luther und Cranach einander gegenseitig zu Taufpaten ihrer Kinder eingesetzt hatten?! Und wie wichtig Cranach als Maler der Reformation gewesen war?! Und, ganz wichtig: Der Spanische Mandelkuchen im Museumscafé ist göttlich... (Nachtrag)
Juni bis August 2017, man muss schlucken bei der Foto-Ausstellung Arwed Messmer. RAF - No Evicence / Kein Beweis mit über 150 Fotos. Jeder kennt die Fotos von Schleyer mit dem Plakat, vom sterbenden Benno Ohnesorg, die Fahndungsplakate. In dieser Ausstellung werden mehr Fotos gezeigt und mit anderen Bildausschnitten. Danach fragte ich mich: Was sehe ich, was weiß ich eigentlich? - Bemerkenswerte Folge einer Ausstellung! (Nachtrag)
Großartig! Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek hat eine lange Tradition, es wurde schon in den 1930er Jahren gegründet. Es hat aber auch eine lange Tradition in der Benachteiligung von Frauen! In den 1960ern bekamen Bewerberinnen zu hören: Wenn Sie schreiben wollen, dann gehen Sie woanders hin. Bei der Wochenzeitschrift durften sie "nur" recherchieren, und, natürlich, den Männern zuarbeiten. Lynn Povich beschreibt, wie sie mit einer Gruppe Mitarbeiterinnen Klage erhoben - und gewonnen hat. Bemerkenswert auch, wie unterschiedlich die Folgen für die einzelnen Frauen waren. Nicht alle wurden damit glücklich, und sie haben auch nicht alle profitiert. Wer in der ersten Reihe steht, kann oft die Früchte seines Tuns nicht ernten. Bei Newsweek hat sich viel geändert, und zwar zum Guten - aber, so erzählt der Prolog: Noch heute werden Frauen bei Newsweek benachteiligt. Es bleibt viel zu tun. Äußerst spannend!
Hören
Sonntag abend, Concertgebouw, von kurzen Hosen bis zum schickem Kleid ist alles da. Ronald Brautigam am Klavier und die Kölner Akademie unter der Leitung von Michael Alexander Willens spielen Mozart und Beethoven. Brautigam spielt perlend, aber er könnte manchmal eine Fermate setzen. Oder der Dirigent. Außerdem haben die Hörner manchmal das Klavier übertönt. Aber das lag vielleicht daran, dass historische Instrumente eine andere Akustik haben. Und vielleicht auch am Sitzplatz HINTER dem Orchester. Egal, wann kann man schon dem Pianisten auf die Finger und dem Dirigenten ins Gesicht gucken? Und Mozart und, noch seltener, Beethoven auf historischen Instrumenten genießen? Hat sich in jedem Fall gelohnt!
Sehen
Das Reichsmuseum zeigt niederländische (Kunst-)Geschichte vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Zu einigen Bildern (ungefähr eines pro Raum) gibt es DinA4-Zettel mit Erklärungen auf Niederländisch und Englisch, "see more" steht auf der einen Seite, dort ist das Bild noch einmal abgebildet, einige Details sind hervorgehoben und werden erklärt. Auf der Rückseite, "learn more", werden historische und politische Hintergründe erläutert. Toll und spannend, und man guckt viel genauer hin.
Das Van Gogh Museum hat die größte Sammlung von Werken Vincent van Goghs, darunter "Meisterwerke wie 'Die Kartoffelesser', die 'Sonnenblumen', die 'Mandelblüten' und 'Der Sämann'", heißt es auf der Website des Museums. Die Kartoffelesser haben mir nicht gefallen, zu düster, außerdem mag ich Kartoffeln nicht so gern, und warum wollte van Gogh eigentlich aufs Land? Ich verstehe nicht, was ihn am Landleben faszinierte. Ich bin da groß geworden und muss es wissen: stinklangweilig! Die Landschaft in der Sonne, ok, aber mir ist jedes bisschen Gartenarbeit zu viel. Vielleicht mag ich deswegen van Gogh und seine Sonnenblumen so gern? Sonnenblumen machen keine Arbeit, und billig sind sie auch. Als mein Eltern (Jahrgang 1922 bzw. 1923) nach dem Krieg die erste gemeinsame Wohnung hatten, säte meine Mutter Sonnenblumenkerne in die Blumentöpfe auf dem Balkon, weil sie für anderes kein Geld hatte.
Im Rembrandthaus hat Rembrandt Jahrzehnte lang gelebt. Es wurde zum Teil originalgetreu rekonstruiert, soweit man das wissen kann, und wenn man die Betten anguckt, fragt man sich, ob die Menschen damals winzig waren oder ob sie zusammengefaltet wurden, bevor sie sich schlafen legten. Rembrandt hatte viele Schüler, einige konnten bei ihm arbeiten, ganz oben im Haus wurden Kabinen mit einer Art Spanischen Wand abgeteilt, so hatten sie ein bisschen Ruhe. Ausgestellt werden Radierungen und Stiche, wunderbar.
Lesen
American Book Center, ein Riesengeschäft mit amerikanischen Büchern: Gut sortiert und tolle Auswahl! Massenweise Krimis, Bücher über Musiker, schräge Outdoorbücher, Bücher über das Bücherschreiben, Autobiografien und Biografien, Wissenschaft... kurz: alles, was das Herz begehrt. Man kann hier Stunden verbringen! Familienbetrieb. Freundliche Leute. Irgendjemand packt im 2. OG einen Haufen Bücher in seinen Rucksack. Ich sehe es nicht, es wird mir nur erzählt. Bescheid sagen? Dabei bekommen Menschen 55+ Montags 50 Prozent Rabatt!!! Ich muss noch etwas warten, hab trotzdem eingekauft, wenn auch nicht so reichlich, wie ich es gewünscht hätte - wer hat schon ein Portemonnaie, dick genug für alle Bücher, die er will? Autoren ohne Verlag können hier übrigens ihre eigenen Bücher machen, dank Betty!
Bewegen
Fahrrad leihen (5 bis 10 Euro pro Tag) und glücklich sein! Die Holländer sind alle schlank, was Wunder, Autos sieht man selten, jeder radelt auf seinem Omafiets.
Wie Blinde sich mit ihrem Gehör, per Klicksonar, zurecht finden, wollte ich wissen, seit ich vor ein paar Jahren eine Reportage im Stern (oder so) las. Andreas Pflüger hat mit "Endgültig" einen Krimi über eine erblindete Ermittlerin geschrieben, die das und noch viel mehr in Perfektion beherrscht. Eine Art Lara Croft: Jenny Aaron war bei einer Sondereinheit der Polizei gewesen. Ein Einsatz endete in einer Katastrophe, sie verlor ihr Augenlicht. Sie lernte alles neu und noch mehr dazu und wurde Vernehmungsspezialistin beim BKA. Nun geht sie einem scheinbar neuen Fall nach und es stellt sich heraus, dass er mit der Katastrophe von damals verwoben ist. Sie muss erspüren, wer Freund ist, wer Feind und braucht all ihre Fähigkeiten. Wurde bei den Stuttgarter Kriminächten 2017 vorgestellt und ist sehr, sehr spannend!
Brodeck ist nichts, oder wie nichts, "je n´y suis pour rien", so stellt er sich vor im Roman von Philippe Claudel. Er lebt in einem abgelegenen Dorf, wohl im Elsass, vielleicht auch Osteuropa, er kam als Kind mit seiner Amme dorthin. Er war klug, die Dörfler ermöglichten ihm ein Studium in der Stadt, jede Woche sammelten sie für ihn, aber denn kommt der Krieg und verjagt Brodeck. In der Stadt hatte er die Liebe seines Lebens gefunden, sie gehen zusammen ins Dorf. Aber der Krieg lässt ihn auch dort nicht in Ruhe, Soldaten kommen, fragen nach Fremden, er wird denunziert und ins KZ verschleppt. Während er fort ist, vergewaltigen und schwängern Soldaten und Dörfler seine Frau, als die drei junge Frauen vor ihnen retten will. Als Brodeck zurückkehrt, liebt er das dadurch entstandene kleine Mädchen dennoch. Aber seine Frau ist nie mehr dieselbe. Ein geheimnisvoller Fremder lässte sich im Dorf nieder. Er ist wohl genährt und trägt wertvolle Kleidung, hat wertvolle Pfanzenbestimmungsbücher und redet nur mit seinem Pferd und seinem Esel. Eines Tages veranstaltet er ein Fest und lädt die Dörfler ein. Da schenkt er ihnen Zeichnungen, er hatte sie heimlich portraitiert. Dabei hat er ihr Innerstes so genau getroffen, dass sie ihn von nun an hassen und fürchten. Erst ersäufen sie seine Tiere. Von da an klagt der Fremde jede Nacht "assassins ... assassins!", "Mörder ... Mörder!" Schließlich erstechen sie auch ihn, die Männer des Dorfes, alle gemeinsam. Außer Brodeck. Dieser gerät zufällig an den Schauplatz des Verbrechens. Und die Dörfler beauftragen ihn, einen Bericht darüber zu schreiben: Er könne mit Worten umgehen, er habe eine Schreibmaschine. Er schreibt. Er schreibt die Geschichte des Fremden. Aber er schreibt auch seine eigene Geschichte. Die Dörfler nerven ihn. Er, ab und zu, wehrt sich. Schließlich ist er fertig.Der Bürgermeister liest den Bericht - und vernichtet ihn. Brodeck ist anders und wird dafür immer wieder ausgestoßen und verraten. Aber dabei bleibt es nicht: Er flieht. Brodek, der oft so schwach schien, nimmt im Schutz der Dunkelheit seine Frau, das kleine Mädchen und die alte Amme und trägt sie davon. Nur ein Hund läuft ihnen eine Zeitlang voraus. Am Schluss schreibt er noch einmal: Er sei ein Nichts. "Bitte, erinnert Euch."
Er ist kein Nichts geblieben.
Herrlich. Großartige Museen, freundliche Menschen, eine schöne Stadt, ein bisschen wie Paris, aber auch härter und klarer. Prado, herrlich. Museum Königin Sofia, großartig. Museum Thyssen-Bornemisza, wunderbar.
Volksbühne, Molière, bei der Gelegenheit Glückwunsch an den König für den Silbernen Bären. Warum eigentlich sind die Sitzflächen der Stühle in der Volksbühne so hart? Und warum biegen sich die Lehnen so unheimlich weit nach hinten? Hat schon mal jemand beim Zurücklehnen seine Stuhllehne abgebrochen? 5 1/4 Stunden Casdorf sind echt anstrengend, wenn man sich nicht getraut, sich zurückzulehnen. War aber trotzdem toll.
Alle Krimis ausgelesen. Was nun? Noch mal Mankell. Und wieder grübeln: Mag ich den nun oder mag ich den nicht? Eigentlich ist ja grad Le Rapport de M. Brodeck von Philippe Claudel dran. Vor ein paar Monaten vom selben Autor Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, übersetzt von Christiane Seiler. Das war rührend und traurig und schön. Brodeck ist mir noch ein Rätsel.
Noch bis zum 17. Mai 2017 läuft im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Die Ausstellung will "die koloniale Ideologie offen [legen], die von einem europäischen Überlegenheitsdenken geprägt war." Texte gibt es in deutscher und englischer Sprache, und "die Hauptinformationen" auch in Braille, in Leichter Sprache sowie als Gebärdenvideo.
Aber: Die koloniale Ideologie nicht nur offengelegt, sondern ihre Abscheulichkeit wird dem Besucher mit dem Holzhammer eingetrichtert. Das gilt vor allem für viele Informationen in Leichter Sprache: Forscher haben in den Kolonion Tiere und Pflanzen benannt, heißt es in der Ausstellung. Und weil in Europa alle Pflanzen und Tiere lateinische Namen haben, bekamen auch jene, die sie in den Kolonien fanden, lateinische Namen. "Die Forscher fragten die Menschen in den Kolonien nicht, wie die Tiere oder Pflanzen dort hießen."
- Ach nee, echt nicht? Woher wollt Ihr das wissen? "Die neuen Namen kamen auch von deutschen Männern." Was heißt das: Dass deutsche Männer lateinische Namen verteilt haben? Oder dass es sich bei den lateinischen Namen um latinisierte Namen deutscher Männer handelte? - Beide Male frage ich: Na und? Auch in Deutschland lebende Tiere und Pflanzen haben lateinische Namen, die erstens jünger als viele volkstümliche Bezeichnungen sind und zweitens oft den Namen des Wissenschaftlers beinhalten, der sie klassifiziert und sein Forschungsergebnis öffentlich gemacht hat. Beim Thema "Rassismus" heißt es "Noch immer denken einige Deutsche: Weiße Menschen sind besser als Schwarze Menschen." - Denken schwarze Deutsche das auch? Und denken nicht-deutsche Weiße das nicht? Schreibt doch: "Noch immer denken einige Weiße ..." Der Ethnologe Otto Finsch wird zitiert, der Einheimischen Gesichtsmasken abnahm und sich wunderte, dass diese, "sogenannte Wilde, von deren Sprache ich auch nicht ein Wort verstand", sich dieses hätten gefallen lassen. Die Ausstellungsmacher bezeichnen Finschs Sicht als abschätzig, aber warum denn bloß? Das Nicht-Verstehen setzt er auf seine Seite; er nennt sie "sogenannte" Wilde.
Also: nervig. Aber trotzdem interessant.
Ich? Bin noch nie gepilgert, was Wunder, aber andere Leute pilgern. Und zwar ganz schön viele: Millionen Menschen jedes Jahr. Kostet sie Zeit, Geld Nerven. Aber sie suchen - und viele finden - einen Sinn, wofür auch immer, Erlösung von Sünde und Schuld, Heilung von Krankheit und Gebrechen. Eine Ausstellung in Köln lässt Pilgerer zu Wort kommen und stellt 14 Pilgerorte vor, aus den großen Weltreligionen und unterschiedlichen Erdteilen. Pilgern, nicht nur zur Transzendenz, sondern in Wechselwirkung mit Politik und Wirtschaft, Ökologie und Tourismus. Anstrengende Ausstellung, interessant, gibt viel zu lesen: Man kann locker drei Stunden einplanen. Zum Glück hat das Museum ein Café. Darin kann man nach dem Gucken herumsitzen und nachdenken. Rautenstrauch-Joest-Museum - Kulturen der Welt.
Jeder guckt aufs Handy. Keiner flirtet, kifft, schlägt, tritt oder so. Nein, nur Handy gucken. Sehr beruhigend. Wie ein Schlafmittel für die Öffentlichkeit.
Radfahren geht nicht, wenn man so ein Schisser ist. Bestimmt wirds gleich glatt, gleich, sofort, jetzt, sobald ich auf dem Rad sitze und los radele. Dann fällt Schnee, rinnt Regen, gefriert Nässe. Der Radweg ein Spiegel, auf dem ich liege, mit blutigem Ellenbogen und blauen Hüften. Aua.
Morgens früh raus. Vor den Haustüren stehen die Tagelöhner und frieren. Sie warten auf die Lieferwagen, die sie abholen. Zur Arbeit. Was zahlen sie wohl für ihre Wohnungen? Wie viele Männer teilen sich ein Zimmer? Mit Kohleofen? Nicht schön.
Ein Kaufmann erzählt einem anderen Kaufmann von einem polnischen Unternehmer. In dessen Unternehmen ist jeder mit jedem verwandt. Ist wohl so bei den Polen. Glaubt der Kaufmann. Er sagt: Der Onkel sitzt so da und ... macht so. Aha.
Am 12. Januar habe ich im Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen in Lüdenscheid einen Vortrag gehalten: "Mein Großvater, der Antisemit – die Geschichte des Predigers und Kirchenfunktionärs Friedrich Heitmüller (1888-1965)".
Die Familie Neven-DuMont hat im Jahr 2010 manch eine Schlagzeile gemacht. Ist Konstantin eigentlich mit Dietlind verwandt? Also Neven-DuMont mit Neven du-Mont? Dietlind hat nämlich "Das Getüm" und "Ein Getüm kommt selten allein" geschrieben. Und dieses Getüm zerpflückt immer Zeitungen. Außerdem ist die mit Abstand unsympatischste Figur ein aufdringlicher Paparazzo namens Enrico Buzzi. Aber der wird am Schluss nett und schreibt dann nur noch Bücher über Katzen. So eine gewisse Distanz gegenüber Zeitungen... Lässt doch eine Verwandtschaft vermuten, oder? Aber nur vermuten, denn im Redaktionsarchiv MDS findet sich leider nichts dazu.
Jugendliche haben Ende Dezember einen Briefkasten in die Luft gesprengt. In Neukölln. Dies fand sogar in Flensburger Medien Erwähnung. In niedersächsischen Dörfern kam dies jedes Silvester vor, ohne dass sich jemand dafür interessiert hätte. Abgesehen natürlich von den Leidtragenden wie etwa dieser Autorin, deren Briefe auch mal explodiert sind.
Guck in die Statistik meiner Homepage. Jeden Monat kommen mich ein paar Hundert Russen besuchen. Warum nur? Egal: Straswutje! Ach, falls jemand dabei ist, der ein Rezept für Blini oder Borschtsch oder beides weiß: info (at) ulrike-heitmueller.de nimmt sachdienliche Hinweise begeistert entgegen!
"Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe beide Äuglein zu.
Vater, lass die Augen dein
über meinem Bette sein."
Steht in der Zeit.
Kenn ich, hat meine Mutter früher immer mit mir gebetet, als ich noch klein war. Ich hab mir dann vorgestellt, Gott legt sein Auge auf das Bücherregal über dem Bett. Schließlich hatte der Nachbar mir erzählt: Als er selber klein war, hat sein Vater ein Glasauge auf den Tisch gelegt, wenn er weg musste. Mein Nachbar sollte dann brav sein, denn das Auge würde alles sehen. Das Auge sah aber nix, denn der Junge legte ein Tuch drüber.
Bald ist Weihnachten. Beim Schlecker in der Hermannstraße sucht eine Frau nach Kaffee aus dem Angebot. "Alles weg", sagt die Verkäuferin, "die Leute ham keen Geld für teure Geschenke. Dann kaufen sie zwei Kaffee, schön einwickeln, nen billichen Weihnachtsmann drauf, sieht immer nobel aus."
Ramadan hat angefangen. Nun kann ich nicht mehr arbeiten. Sind denn alle Leute um mich herum Moslems? - Am späten Nachmittag gehts los: Da wird gekocht, auf dass man nach dem Fastenbrechen gut essen kann. Die Männer rauchen, die Frauen lachen, das Fleisch brutzelt. Die Düfte und Geräusche ziehen durchs Haus und durch den Garten, sie werden hierhin und dahin geweht. Schweben in mein Arbeitszimmer, alle her zu mir, in meine Nase, in mein Hirn, benebeln meine Sinne. Ich sehe nur noch Köfte und Börek, und alle klugen Gedanken, die ich jemals zu Freikirchen, Governance-Analysen oder Hells Angels gehabt hatte: Sie sind weg.
Kann man im Moor versinken? - Wollt ich schon immer mal wissen, sicher bin ich mir bloß, dass es im Moor Irrlicher und Geister und Leichen gibt. Aber versinken? Am 21. Juni 1999 frage ich die ZEIT, wissendes Wochenmagzin aus der Freien und Hansestadt Hamburg. Da bin ich übrigens geboren. Der Redakteur überlegt zehn Jahre. Als er fertig ist, schreibt er: Nein, man kann nicht im Moor versinken! - Da bin ich doch froh. Nur ein ZEIT-Leser nicht. Er ruft mich an und ist empört: Kann man doch, versinken im Moor! Wäre ihm fast mal passiert! - Ist ihm aber nicht passiert, oder? Hat der Redakteur wohl doch Recht. Hat ja auch lang genug nachgedacht.
Joggen im Park. Eine Frau schreit. Spaß? Ernst? Vor mir ein Mann und eine Frau vom Ordnungsamt, mit Hund. Ich spreche sie an: Sie haben nichts gehört. Tja, fliegt auch grad ein Hubschrauber über uns weg. Ich bestehe darauf, dass sie nach dem Rechten schauen. Sie trotten davon. Bei der nächsten Runde treffe ich sie wieder. Wars ernst? Nein - sie hätten nichts gefunden - und ich möge doch bitte beim nächsten Mal selber schauen! Zoff.
Am Freitag, 12. Dezember, erzähle ich zwischen 17 und 18 Uhr auf MotorFM (100,6) irgendwas aus meinem interessanten Leben, und um 21 Uhr lese ich im Froschkönig (Weisestraße 17) eine Geschichte vor.
Neulich bring ich den Jungs, den palästinensischen Drogenhändlern, ihren Artikel. Gehört sich so: Sie müssen ja schließlich wissen, was ich über sie in Spiegel Online geschrieben hab. Sie werfen einen skeptischen Blick auf die Überschriften: Warum lassen sich arabische Dealer leichter erwischen? Kurzes Palaver. Schließlich reißen sie sich ein paar Schnipsel ab: Blättchen, und drehen sich daraus einen Joint. So was - ich hab gedacht, die rahmen sich das ein!
Vor meinem Fenster wird ein großer Baum beschnitten. Dicht unterm Himmel sitzen fest gebunden zwei Männer, so hoch, dass ich nur noch ihre Seile sehe. Ab und zu segelt ein Zweig, fällt ein Ast an mir vorbei, den ich dann auf den Boden krachen höre. Nun gleitet an einer Schnur ruckelnd ein langer Stab empor. Vorn dran ist eine säbelförmige Säge befestigt. Sie macht auch den entferntesten Trieben den Garaus.
Neukölln ist Rocker-Treffpunkt. An jeder Ecke sitzen sie und trinken Kaffee, im gesamten Kiez stolpert man über Harleys. - Am Wochenende renoviert meine Freundin ihre Wohnung. Dritter Stock, Fußboden schleifen. Es klingelt. Vor der Tür hat sich ein Rocker aufgebaut. Er wohnt im vierten Stock: Heute ist Sonntag! Da ist Fußbodenschleifen verboten! Schluss jetzt, oder ich hol die Polizei! - Auch Rocker brauchen ihre Sonntagsruhe.
Deutsche Meisterschaften der Amateurboxerinnen. Tribüne, erste Reihe: eine Türkin mit Kopftuch. Im Ring: eine Türkin ohne Kopftuch. Sie kämpft und gewinnt: Deutsche Meisterin. Da flitzt ein Schnauzbartträger über die Tribüne, zwängt sich durch die Brüstung und hüpft von der Tribüne, die Frau mit Kopftuch hinterher. Beide rennen zur Boxerin, umarmen und küssen sie: stolze Eltern.
Brauch ne Bürste. Mit Wildschweinborsten. Macht schönes Haar. Wo kaufen? In Wilmersdorf in jedem Laden, in Neukölln ... nirgendwo. Mal in der Apotheke gucken. Der Apotheker, klein, schnauzbärtig, türkisch: "Ham wa nich. Hab aber Wildschweine im Garten. Soll ich ihnen eins schießen?"
Im Sommer, eines nachts, es ist lau. Ich wache auf. Irgendwas ist im Hof. Es macht "klickerickerickerick, klackeklackeklack ... plopp". Dann leises Palaver in fremder Sprache. Und wieder: "klickelickelick ... plopp", wieder leise arabische Männerstimmen. Was ist da los??? - Tags ist es zu heiß, darum treffen sich die Neuköllner Araber nachts. Zum Schischa-Rauchen und reden. Und würfeln. Alle in meinem Hinterhof.